Elena Ferrante, La frantumaglia. Roma: edizioni e/o, 2003, nuova edizione ampliata 2016
ISBN 978-88-6632-792-9, pp. 375, Euro 19,00

· Ursula Reuter-Mayring ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-C2DC-6

«Un libro che accompagna altri libri», so heißt es auf der Rückseite des Buchumschla­ges: Es ist ein Kompendium, das der Verlag und seine Autorin Elena Ferrante1 dem Lesepublikum der in viele Sprachen übersetzten Bestseller von L’amica geniale als Be­gleitung anbieten. Ferrantes Romanepos L’amica geniale, entstanden und erschienen in vier Teilen zwischen 2011 und 20142, hat bemerkenswerte Auflagen erreicht und ist international erfolgreich. Ihre Werke erscheinen seit 2006 im ‹kleinen› und ambi­tio­nierten Verlag edizioni e/o in Rom. Vor der Arbeit an L’amica geniale veröffentlichte Elena Ferrante weitere Erzählwerke, darunter L’amore molesto, I giorni dell’abban­dono, beide verfilmt von Mario Martone bzw. von Roberto Faenza, La figlia oscura und das Kinderbuch La spiaggia di notte. Im Herbst 2016 wurde von einem Journalisten die vermeintlich hinter dem gewählten Pseudonym stehende Person identifiziert.3 Das Ansinnen und Vorgehen des Journalisten ebenso wie die grundsätzliche Geste der Au­torin wurden aus diesem Anlass in den italienischen und internationalen Feuilletons breit und kontrovers diskutiert. Jenseits des Sensationsjournalismus, der auch in man­chem Feuilleton-Beitrag – mehr oder weniger verbrämt – mitschwang, liegt mit La frantumaglia nun eine Textsammlung vor, die dem kritischen, literarisch und literatur­wissenschaftlich interessierten Publikum unmittelbare Gelegenheit gibt, sich anhand von Äußerungen der Autorin selbst mit eben dieser Geste auseinanderzusetzen, näm­lich tatsächlich nur als Autorin und in keiner Weise als reale Person in Erscheinung zu treten.

Was wir in diesem Band aber darüber hinaus finden, sind nicht nur ‹gesammelte› sondern nun sich, aus der Situation des enormen Erfolges und der Reflexion aller Um­stände entstanden, quasi zu einer Poetik formende Texte. La frantumaglia erschien zunächst 2003 und besteht in der neuen erweiterten Fassung von 2016 inzwischen aus drei Teilen: Carte 1991–2003; Tessere 2003–2007; Lettere 2011–2016. Unter diesen Titeln sind Texte versammelt, die sich allesamt durch ihren kommunikativen Charakter auszeichnen: Da sind die Briefwechsel mit den beiden Verlegern von edizioni e/o, Sandra Ozzola und Sandro Ferri, mit jenen Regisseuren, die zwei der Romane von Elena Ferrante verfilmten, schriftlich geführte Interviews von italienischen und inter­nationalen Journalisten mit der Autorin ebenso wie die Niederschrift eines langen Gesprächs zwischen der Autorin und der mit ihr befreundeten Verlegerfamilie. Jeder Text ist mit einer sorgfältig zusammengestellten «Nota» versehen, die uns über Anlass, Umstände und den Ort der Veröffentlichung informiert – Informationen, die einer­seits die Ausführungen der Autorin selbst erweitern, andererseits oft ihre inhaltliche Plausibilität nochmals belegen. Wie die drei Teile des Buches sind auch die einzelnen Texte selbst jeweils mit eigens gestalteten Titeln versehen; erst deren Untertitel enthalten – wie in einem Feuilleton-Artikel – die informativen facts, z. B. «La vita sulla pagina. Risposte alle domande di Francesco Erbani» (S. 169) oder «La temperatura capace di accendere il lettore. Dialogo con gli ascoltatori di Fahrenheit»4 (S. 198). In ihrer chronologischen Anordnung ermöglichen sie es uns darüber hinaus, eine Entwicklung zu verfolgen. Die so gestaltete Gesamtheit aus Texten repräsentiert also die anhaltende Reflexion einer zeitgenössischen Autorin, die ihr eigenes, bei einem sehr breiten Lesepublikum nach und nach immer erfolgreicheres literarisches Schaffen und dessen Rahmenbedingungen aktuell und im Gespräch mit anderen begleitet. Diese beiden Aspekte unterscheiden das Buch von allerlei anderen literaturkritischen Texten zeitgenössischer SchriftstellerInnen, die sich, sei es allgemein oder zur eigenen Arbeit, fast immer jedoch in monologisch-essayistischer Form äußern. La frantu­maglia in der erweiterten Fassung kann und sollte als eine literarisch gestaltete Litera­turkritik gelesen werden und sie ist als solche tatsächlich nicht nur eine Begleiterin der Bestsellerbücher, sondern auch die der Arbeit an ihnen und schließlich des Lebens mit ihnen. Die Autorin gibt sich uns als leidenschaftliche Erzählerin zu erkennen, gleichzeitig als ebensolche und kenntnisreiche Kritikerin, die mit Aufmerksamkeit alle Facetten des eigenen literarischen Prozessierens verfolgt und erwägt. In La fran­tumaglia begegnen wir darüber hinaus einer Schriftstellerin, die sich tatsächlich aus­schließ­lich in der geschriebenen Sprache, also literarisch, äußert, d. h. Elena Ferrante steht uns also als Autorin von Texten – und eben einzig und allein als solche – gegen­über und zur Verfügung. Dennoch ist dieser Band keine solipsistische Betrachtung, sondern vielmehr eine Auto-Poetik, die mitverfolgen lässt, wie sie im intellektuellen Austausch und – überwiegend – «serenamente»5 entsteht. Im Text «Sì, no, non so. Ipotesi di intervista laconica», einem Brief an ihre Verlegerin Sandra Ozzola, schreibt sie:

Fatto sta che ogni domanda mi fa venire voglia di raccogliere le idee, frugare in libri che amo, utiliz­zare i vecchi appunti, chiosare, divagare, raccontare, confessare, argomentare. Tutte cose che mi piace fare e in realtà faccio, sono la parte migliore delle mie giornate. Ma alla fine mi accorgo che ho messo insieme i materiali non per un intervista, non per un articolo […] ma per un racconto-saggio, e naturalmente mi perdo d’animo. (S. 44)

Anhaltend, vor allem immer wieder mit entsprechenden Fragen von Literaturkritikern konfrontiert, setzt sich die Autorin mit der Wirkung ihrer Entscheidung auseinander, der Öffentlichkeit keine personale Präsenz zu bieten, und macht ihrem Lesepublikum die bewusst gewählte mediale und damit marktpolitische Bedeutung der Geste ihres konsequenten Verschwindens deutlich. Schon 1995 in einer nicht abgeschickten Antwort an Franco Erbani, der später u. a. für La Repubblica schrieb, formuliert sie fast trotzig die alten, uns allen bekannten Fragen in ihrer gänzlich radikalen und banalen Einfachheit:

Lei scrive, ma meno brutalmente come io riassumo: il suo libro mi dice qualcosa, ma il suo nome non mi dice niente. Domanda: se il mio libro non le avesse detto niente e il mio nome le avesse detto qualcosa, avrebbe impiegato meno tempo a chiedermi un intervista? Non la prenda per una battuta acre, non lo è, approfitto solo della sua scrittura senza dissimulazione per sollevare senza dissimu­lazione un problema che mi sta molto al cuore. Voglio chiederle questo: un libro è, dal punto di vista mediatico, innanzitutto il nome di chi lo scrive? La risonanza dell’autore, o per dire meglio del personaggio d’autore che va in scena grazie ai media, è un supporto fondamentale per il libro? Non fa notizia, per le pagine culturali, che sia uscito un buon libro? Fa notizia piuttosto che un nome in grado di dire qualcosa alle redazioni abbia firmato un qualsiasi libro? (S. 41)

Um diese Zeit scheint die Geste der als Nicht-Person definierten Autorin aber noch nicht ganz vollzogen sondern der Rückzug mehr dem technisch-praktischen Vollzug des Schreibens geschuldet zu sein. Skrupulöse Erwägungen möglicher Einflüsse auf die der Autorin kostbare Arbeit des eigenen Schreibens zeugen davon:

[…] in questa fase ogni giorno per me é una scommessa. Sto lavorando moltissimo a un nuovo testo – mi è difficile chiamarlo romanzo: non so bene che cosa sia – e ogni mattina mi metto a scrivere con l’ansia di non riuscire più ad andare avanti. So per esperienza (una pessima esperienza) che un accidente qualsiasi può indebolire l’impressione di necessità delle pagine che sto scrivendo; e quando quell’impressione sbiadisce, c’è il lavoro di mesi che se ne va, non mi resta che aspettare un’altra occasione. (S. 38)

Wie die Weigerung, mit ihrer Person die Usancen des Literaturmarktes zu bedienen, ist aber auch das ganze Schreiben der Autorin Elena Ferrante in einem weiten Sinne politisch fundiert. Im Austausch mit Nicola Lagioia formuliert sie 2015:

Non amo la nostalgia, porta a non vedere le insofferenze individuali, le ampie sacche di miseria, la povertà culturale e civile, la corruzione capillare, il regresso dopo progressi minimi e illusori. Prefe­risco l’acquisizione agli atti. Il quarantennio che lei cita [1950–1990, Anm. d. Rez.] è stato in realtà faticosissimo e dolorosissimo per chiunque muovesse da una condizione di svantaggio. E intendo di svantaggio anche e sopratutto essere donna. Non solo. (S. 366)

Bitter konstatiert sie weiterhin im 21. Jahrhundert jegliches Fehlen zukunftsträchtiger Horizonte jenseits der überkommenen von kapitalistischem Wirtschaftssystem und Religion samt deren Vermittlung durch Theologie(-n). Sie fährt fort:

Non amo i tecnici della previsione. Lavorano sul passato e nel passato vedono solo il passato che fa comodo vedere. È meno progressiva e impetuosa, ma più sensata, la navigazione a vista, special­mente quando i gorghi abbondano. A me sembra inevitabile vivere sul bordo del caos, è ciò che tocca a chi sente – e chi scrive non può non sentirlo – l’equilibrio precario di tutte le esistenze e di tutto l’esistente. È giusto e stimolante avere sempre bene a mente che se lì, in quel determinato luogo, le cose un po’ funzionano, altrove non funziona niente e lo squilibrio distante è il segno di un cedimento che presto ci investirà. […] Non vedo il capolinea di alcunché, e non mi piacciono né i pessimisti né gli ottimisti. Cerco solo di guardarmi intorno. Se la meta deve essere una vita non dico felice ma agevole per tutti, non c’è capolinea ma un continuo ripensare il percorso, che non riguar­da solo le singole vite, ma – come le dicevo – le generazioni. Io e lei – chiunque – non siamo solo questo «tempo-adesso» e nemmeno «gli ultimi decenni». (S. 366f.)

Der Titel des Buches birgt schließlich die Überzeugung von Elena Ferrante darüber, aus welcher Substanz sowohl das ‹Ich› ebenso wie das ‹Erzählen› erwachsen: es sind die «frantumi» des Lebens, eben eine frantumaglia6:

Io non riesco a pensarmi senza gli altri, men che meno a scrivere. […] Parlo delle altre, degli altri che oggi, adesso, figurano soltanto nelle immagini: nelle immagini televisive o dei rotocalchi, a volte strazianti, a volte offensive per opulenza. E parlo di passato, di ciò che in senso lato chiamiamo tra­dizione, parlo di tutti gli altri che sono stati al mondo prima e hanno agito e agiscono oggi attraverso noi. […] siamo […] interconnessi. E dovremo educarci a guardare a fondo in questa interconnes­sio­ne – io la chiamo il garbuglio o meglio la frantumaglia – per darci strumenti adeguati a raccontarla. Nella più assoluta tranquillità o coinvolti in eventi tumultuosi, al sicuro o in pericolo, innocenti o corrotti, noi siamo la ressa degli altri. E questa ressa per la letteratura è sicuramente una bene­di­zio­ne. (S. 356).

Immer wieder definiert und expliziert Elena Ferrante im Austausch mit allen Frage­rIn­nen die großen Themen, die sie in ihren Erzählungen bearbeiten möchte und gibt kundig und präzise Auskunft über ihr Interesse und Handwerk, darüber wie sie ihre Themen literarisch formt und ausarbeitet. Es geht in vielfältiger Weise um jenes ‹Ich›, das sich aus vielen, stets in Bewegung und Gegenbewegung befindlichen Begegnungen mit den anderen, mit Vergangenem und Gegenwärtigem bildet und sich gleichzeitig auch daran verletzt. Ein eigenes Interesse der Autorin finden dabei jene Begegnungs­dimensionen, die sich im Besonderen zwischen Müttern und Töchtern bilden, die aber auch im Allgemeinen die weibliche Existenz umschreiben. Literarisches Können und Sensibilität werden z. B. in den Beschreibungen der Arbeit an vielfältigen Motiv-Strän­gen um den Komplex von «An-, Aus-, Ver-Kleidung(-en)» herum ebenso deutlich wie am metaphorischen Aufladen des gesamten Spektrums des «Schneiderns», des Verhältnisses von «Schneiderin – Frau», des «An- und Abmessens», des «Zu- und Beschneidens» der «Anproben und Änderungen». Hier und dort gesteht diese Autorin der minuziösen Beobachtungen und Deutungen sowie der Bemühungen um deren ebenso genauen sprachlichen Ausdruck ihre einfache Lust am Schreiben, «per chi ama scrivere, il tempo dello scrivere non sia mai sprecato» (S.69), und die ‹profanen› Aus­gangspunkte ihrer Erzählfreude:

Ci sono, invece, certi fondali bassi del raccontare che mi attraggono. Con gli anni, per esempio, mi vergogno sempre meno di come mi appassionavo alle storie di giornaletti femminili che circolavano per casa; robaccia di amori e tradimenti, che però mi ha causato emozioni indelebili, un desiderio di trame non necessariamente sensate, il godimento di passioni forti e un po’ volgari. […] anche lì è cresciuta la smania di racconto, e allora ha senso gettare via la chiave? (S. 59)

Auch wenn die Rezensentin vermeinte, in den Texten von La frantumaglia hier und dort ein fast sentimentales ‹Erzählen vom Erzählen›, eine leicht romantisierende, verklärende Beschreibung des kreativen Schreibprozesses zu erkennen, bietet dieser ‹Buchbegleiter› doch eine wichtige, weil erhellende und ermahnende Standorter­klärung innerhalb des zeitgenössischen Literaturbetriebes; gleichzeitig zeigen uns die autopoetischen Reflexionen der Autorin quasi Machart, Verarbeitung und literarisch-handwerkliches Unterfutter des aktuell im bewunderten Gewand des Bestsellers auftretenden erzählerischen Werkes von Elena Ferrante – wen würde das nicht viel mehr interessieren als die Frage, welche reale Person diesen Autoren-Namen gewählt haben mag?

  1. Pseudonym; in dieser Rezension wird dieser Autorinnenname kursiv geschrieben, ist er doch ver­gleichbar den von AutorInnen für ihre Werke ge-/erfundenen Titeln.
  2. L’amica geniale (I) 2011, Storia del nuovo cognome (II) 2012, Storia di chi fugge e di chi resta (III) 2013, Storia della bambina perduta (IV) 2014.
  3. Claudio Gatti schließlich legte in Artikeln, die von Il Sole 24 ore, der New York Review of Books und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht wurden, seine mit Mitteln des investiga­tiven Journalismus erlangten Erkenntnisse vor, die belegen sollen, dass es sich um die Übersetzerin Anna Raja handelt. Anna Raja, die aus einer deutsch-italienischen, jüdischen Familie stammt, ist be­kannt für ihre literarischen Übersetzungen von Ch. Wolf, M. Enzensberger, H. Hesse, I. Aichinger u. v. m. Sie erhielt 2008 den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis.
  4. Bei Fahrenheit handelt es sich um ein Programm des Radiosenders Radio3. Anlässlich der Buch­messe «Più libri, più liberi», Forum für kleine und mittlere Verlage, in Rom 2006, beantwortete E. F. schriftlich HörerInnenfragen, ihre Antworten wurden dann in der Sendung verlesen.
  5. Brief an Nicola Lagoia vom 27.02.2015, in: Elena Ferrante: La frantumaglia. Roma: edizioni e/o, 2003. Nuova edizione ampliata 2016, S. 371 n. Im Weiteren wird nach dieser Ausgabe unter Angabe der Seitenzahl in Klammern zitiert.
  6. «Mia madre mi ha lasciato un vocabolo del suo dialetto che usava per dire come si sentiva quando era tirata di qua e di là da impressioni contraddittorie che la laceravano. Diceva che aveva dentro una frantumaglia.» (S. 93)