Brücken schlagen: Im Dialog der Kulturen. Dantes ‹disio› als Paradigma des poetischen Verstehens

· Franca Janowski ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-CA8B-9

Die Kunst des Übersetzens

Dem Zusammenhang zwischen Kultur und Psyche wird in unserer multikulturellen Ge­sellschaft große Aufmerksamkeit geschenkt. Kann eine kleine begriffsgeschichtliche Untersuchung über die Bedeutung eines Ausdrucks in einem klassischen mittelalterli­chen Werk und in seinen Übersetzungen einen Beitrag zum Dialog der Kulturen leisten? Dafür spricht: Kontrastive Untersuchungen tragen zur Vertiefung und Klärung von Begriffen und ihrer Geschichte bei, und dies sowohl in der Ausgangs- als auch in der Zielsprache. In Kunst verwandelte Lebensformen und Sprachbilder, die seelische Phänomene kommunizieren, können im kulturellen Wandel bedeutsame Signale sen­den.

Zunächst aber die Frage: Eignet sich die Übersetzung überhaupt dazu, mit der Meta­pher der Brücke verbunden zu werden? Sollte sie also, wie es dem ersten Eindruck nach selbstverständlich erscheint, auf dem Feld der Kommunikation zwischen Fremdem und Bekanntem anzusiedeln sein? Oder ist die Übersetzung vielmehr als poetischer Aus­druck zu betrachten, als eine kreative Schöpfung, die nicht primär der Vermittlung dient? Man denke an die paradoxe Aussage Walter Benjamins: «Kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft.»1 In seinem be­kannten Aufsatz über die literarische Übersetzung sieht der Autor die wahre Bedeutung der Übertragung in der Kunst darin, die Bedeutsamkeit und Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache zu erweitern: «Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der ei­genen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Auf­gabe des Übersetzers.»2

Soll man sich also vom Sinnbild der Brücke verabschieden? Keineswegs. Mit den Worten Nietzsches im Zarathustra:

Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist. […] Ich liebe die großen Ver­achtenden, weil sie die großen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer.3

In seinem Aufsatz: «Wer ist Nietzsches Zarathustra?» verdeutlicht Heidegger den Sinn dieser Aussage:

Der Übermensch geht über die Art des bisherigen und heutigen Menschen hinaus und ist so ein Übergang, eine Brücke. [...] Für Zarathustra selbst, bleibt das Wohin stets in einer Ferne. Das Ferne bleibt. Insofern es bleibt, bleibt es in einer Nähe, in jener nämlich, die das Ferne als das Ferne be­wahrt, indem es an das Ferne und zu ihm hin denkt. Die andenkende Nähe zum Fernen ist das, was unsere Sprache die Sehnsucht nennt. […] Die Sehnsucht ist der Schmerz der Nähe des Fernen.4

In diesem Sinn kann man die Übersetzung als eine Art Sehnsucht definieren, wobei nicht mehr das Fremde und Ferne zum Eigenen geführt wird, sondern das Eigene zum Fernen strebt: Übersetzen als kreatives Überschreiten.

Kaum ein anderer Dichter eignet sich mehr als Dante, um diese Problematik zu reflektieren. Denn in seinem Fresko der conditio humana zeigt er den Weg des Men­schen, zerrissen zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Kontingenz und Ewigkeit, zwischen Eigenem und Fremdem.

In einem ersten Schritt soll das metaphorische Feld des ‹Begehrens› in Dantes Com­media durch eine semantische Analyse des philosophisch relevanten Begriffs ‹disio› untersucht werden.

Eine Reflexion über das Lexem ‹disio›, das als Verbalform, Substantiv und Adjektiv 68-mal in der Commedia vorkommt (14-mal im Inferno, 18-mal im Purgatorio, 36-mal im Paradiso) zeigt, dass eine Übersetzung ins Deutsche viele Hürden überwinden muss. Die deutsche Sprache verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, um das emotionale Feld des Begehrens zu konturieren: ‹sehnen›, ‹ersehnen›, ‹verlangen› usw. Trotz manch notwendiger Differenzierungen erscheint der Versuch sinnvoll, ‹disio› im Er­fahrungsbereich der Sehnsucht zu verorten, deren Dynamik dem semantischen Reich­tum von ‹disio› am meistens zu entsprechen scheint. Man muss dennoch feststellen, dass nicht wenige Übertragungen in die Richtung einer forcierten Romantisierung des Wortes weisen. Im viel zitierten Artikel von Corbineau-Hoffmann im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird beiläufig gesagt, dass dieser Begriff sich eigentlich nicht in andere Sprachen übersetzen lässt: «Analoge Begriffe in anderen Sprachen lassen sich wegen der grundsätzlichen Unbestimmtheit der Sehnsucht in Bezug auf den Gegenstand des Verlangens nur bedingt anführen – etwa lat. desiderium, frz. désir, engl. longing, it. Languimento5 Eine Erwähnung von ‹disio› fehlt hier; für das Italie­nische wird nur das seltene Wort languimento angeführt. Vielleicht verfüge lediglich das Portugiesische über ein Wort, das der ‹Sehnsucht› entspricht: saudade.

Die Analyse einer Reihe von Übersetzungen der Commedia aus verschiedenen Epo­chen zeigt, wie komplex das Verständnis und die Verdeutschung des Wortes ‹disio› sind. Bei der Suche nach den Gründen, warum oft der Sinn des Lexems nicht genau er­fasst wurde, lässt sich begriffsgeschichtlich auch einiges über die Bedeutung von ‹Sehnsucht› klären. Eine Untersuchung der verschiedenen und oft kontrastierenden Bedeutungen von ‹disio› bei Dante legt den Schluss nahe, dass die Geschichte der ‹Sehnsucht› innerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums neu betrachtet werden sollte.6

Die Romantik ist zweifellos die Zeit, in der das Gefühl der Sehnsucht aufgewertet wurde und prägend war. Diese Epoche hat Dante für die deutsche Kultur wieder­entdeckt und sein Werk in ihr heimisch gemacht, wie die zahllosen Übersetzungen be­legen. Als Brücke zwischen den Kulturen kann das utopische Potenzial, das sowohl in ‹disio› als auch in Nietzsches Formulierung vom «Pfeil der Sehnsucht» steckt, viel­leicht einen verschütteten Horizont markieren.

In der Wiedergabe von ‹disio› im deutschen Raum hat sich diese romantische Grundstimmung lange ausgewirkt. Spuren sind lange nach der Goethezeit noch festzu­stellen. «Die verzögerte Ankunft der romantischen Sehnsucht in der modernen Psychologie»7 macht meines Erachtens darüber hinaus diesen Diskurs auch für Aspekte späterer Übersetzungen interessant.

In den folgenden Analysen geht es nicht um eine ästhetische Beurteilung von Dante- Übersetzungen. Auch wird auf Vollständigkeit verzichtet.8

Mein Versuch, die Begriffsgeschichte der Sehnsucht um einige Aspekte zu ergänzen, folgt Heideggers Reflexion, die die hermeneutische Potenzialität der Übersetzung würdigt: «Die Übersetzung kann sogar Zusammenhänge ans Licht bringen, die in der übersetzten Sprache zwar liegen, aber nicht herausgelegt sind. Hieraus erkennen wir, dass jedes Übersetzen ein Auslegen sein muss.»9

Dennoch kann die Beschäftigung mit literarischen Übersetzungen einen Gesichts­punkt nicht ausblenden, den Goethe mit großer Klarheit artikuliert, nämlich das Bedürfnis, dem Originaltext so nah wie möglich zu sein:

Eine Übersetzung, die sich mit dem Original zu identifizieren strebt, nähert sich zuletzt der Inter­linearversion und erleichtert höchlich das Verständnis des Originals; hierdurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben, und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annährung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt.10

Für das Heranziehen des Begriffs ‹disio› im Kontext einer produktiven Übersetzungs­idee sprechen folgende Argumente:

1. die Zentralität dieses Lexems in Dantes Commedia und seine Vielschichtigkeit;

2. die zu beweisende Korrespondenz mit dem semantischen Feld der ‹Sehnsucht›, vor allem in der deutschen Romantik;

3. sein metaphorischer Charakter.

‹Disio› oder desiderio

Im Unterschied zu desiderio gilt ‹disio› (desio) im allgemeinen nicht mehr als Bestand­teil des Wortschatzes der Gegenwartssprache.

In seinem Werk De vulgari eloquentia bezeichnet Dante ‹disio› als ein Wort, das zum volgare illustre gehört, und zwar zu jenen edlen Vokabeln, welche «paiono quasi levigati e lasciano a chi li pronuncia una certa dolcezza: come amore, donna, disio, virtute, donare, letitia, salute, securtate, defesa»11. ‹Disio› stammt aus der sizilianischen und der toskanischen Tradition und wird vor allem in der Dichtung verwendet, wäh­rend desiderio meistens in Prosatexten vorkommt.12

Liegt also der Unterschied zwischen ‹disio› und desiderio lediglich in deren zweck­mäßigem Usus, oder existiert vielmehr eine Differenz der Intensität zwischen beiden Gefühlen – wie Fernando Salsano andeutet?13

In der Commedia verwendet Dante desiderio ein einziges Mal in einer bedeutungs­trächtigen terzina im letzten Gesang des Paradiso, in der auch ‹disio› vorkommt.14 Der Form ‹disio› wird gegenüber der Variante desio der Vorzug gegeben.

E io ch’al fine di tutt’ i disii
appropinquava, sì com’io dovea,
l’ardor del desiderio in me finii. (Par. XXXIII, 46–48)15

Diese Terzine wirft ein Licht auf die semantische Beziehung zwischen ‹disio› und desi­derio. Insbesondere das Syntagma «ardore del desiderio» («des Sehnens Glut» – so A. W. Schlegel16) macht auf die Differenz zwischen dem Gefühl des desiderare als Lei­denschaft der Seele und ‹disio› als theologischem Begriff aufmerksam; Gott wird als das letzte Ziel aller Wünsche bezeichnet, das poetische Wort ‹disio› ist ihm vorbe­halten.

Im Dizionario von Salvatore Battaglia17 findet sich eine ausführliche Sammlung von Beispielen der Verwendung von desiderio und desio in der italienischen Literatur seit den Anfängen. Ein klarer kontinuierlicher Bedeutungsunterschied lässt sich schwer feststellen, da viele Autoren die Begriffe als Synonyme verwenden. Battaglia widmet den beiden Begriffen je 9 Abschnitte. Ein wichtiger Hinweis auf eine Differenz ist in den jeweils ersten zu lesen. Desiderio wird charakterisiert als «moto intenso dell’anima che fa avvertire una mancanza». Desio als «impulso vivo dell’anima che tende al pos­sesso dell’oggetto, al conseguimento del fine che l’ha suscitato». Zweifellos überlagern sich in der Commedia die beiden Bedeutungen. Dennoch ist meines Erachtens in Dantes Weltbild gerade dieser finalistische Aspekt entscheidend für seine Bevorzugung von ‹disio› gegenüber desiderio. Die Überzeugung, dass alles nach Gottes Plan ge­schieht, wird in den rätselhaften Versen von Inferno III, 124–126 klar ausgedrückt. Die verdammten Seelen begehren geradezu, den Acheron zu passieren, obwohl sie sich be­wusst sind, dass schreckliche Strafen auf sie warten.

E pronti sono a trapassar lo rio,
ché la divina giustizia li sprona,
sì che la tema si volve in disio.

Die Stelle wird verständlich, wenn man in ‹disio› nicht eine mancanza oder privazione wie in desiderio vermutet, sondern den unbedingten Willen, das Telos, den göttlichen Plan zu erfüllen.

Wenn man außerdem die Etymologie der beiden Lemmata desiderio und ‹disio› untersucht, zeigt sich, dass in beiden Ausdrücken eine charakteristische Bedeutungs­verlagerung zu verzeichnen ist.

desiderio: Das Wort stammt aus dem Lateinischen de-siderare und bedeutet ursprünglich: den Blick von den Sternen (sidus) abwenden, dann: nicht sehen und endlich: zu sehen wünschen.18 Die heutige Bedeutung ist: etwas glühend wollen (volere ardentemente).

disio: Das Wort leitet sich von der lateinischen Form desedium her und meinte ur­sprünglich: Begierde (desiderio erotico) oder entsprechend der weiblichen Form desidia eher: Trägheit.

Dante vermeidet also in der Commedia den Gebrauch von desiderio und bevorzugt ‹di­sio› als Begriff, der das ganze Feld des Begehrens umfasst. Man kann Lino Pertile zustimmen, wenn er behauptet:

Tuttavia la sostituzione di disio a desiderio non implica che Dante abbia perso coscienza del valore originario di desiderare, anzi sembra che spesso il poeta trasferisca su disio l’ufficio di esprimere quel senso di mancanza che etimologicamente connota il solo desiderio.19

Vermutlich markiert ‹disio› die Erfahrung der Dialektik von Verlust und Erfüllung. Die doppelte Zeitvalenz, die man im heutigen Verständnis vielleicht durch den Zwie­spalt zwischen Nostalgie und utopischem Verlangen umreißen könnte, ist für beide Ausdrücke prägend.

Die Semantik von ‹disio›

Beim Versuch, das semantische Feld von ‹disio› in der Commedia genauer zu verorten, kann man drei Hauptbedeutungen unterscheiden, die sich in das folgende Schema fügen:

disio desiderium Dei (desiderio)
disio Drang nach Liebe oder Wissen (brama)
disio Fernweh (nostalgia)

Ein Rückgriff auf Platos Seelenlehre kann die Fragen verdeutlichen, die eine Überset­zung ins Deutsche aufwirft. Um den Bereich der Emotionen zu veranschaulichen, führt Plato im Dialog Kratylos das metaphorische Bild des Stromes ein. Dabei rekurriert er auf die mythologischen Gestalten von Himeros, Pothos und Eros. Sie sollen drei For­men der Begierde darstellen. Während Himeros (das Verlangen) eine Kraft antreibt, welche die Seele zu etwas Gegenwärtigem hinreißt, führt sie Pothos gewaltsam zu etwas hin, das noch abwesend ist. Eros endlich wird mit einer Strömung verglichen, die nicht im Blickfeld der Seele zu verorten ist und von außen durch die Augen eindringt.

Während Himeros mit der italienischen Form brama wiedergegeben werden kann, ist die Übertragung von Pothos schwierig, will man den Neologismus nostalgia ver­meiden. Schleiermacher hat in seiner klassischen Übersetzung Platos das Wort ‹Sehn­sucht› verwendet. In ‹Sehnsucht› ist die Richtung klar auf die Zukunft ausgerichtet. Die mythologische Figur des Pothos hat sich in der Tradition als Personifikation der Sehnsucht etabliert. Die Nähe der Sehnsucht zum Göttlichen, die Spuren in der neutestamentlichen Tradition aufweist, wird bei Jakob Böhme, aber vor allem bei Schelling thematisiert. Sie wird als Macht verstanden, die das Göttliche dazu drängt, sich über die Leere zu erheben, um transzendent zu werden.20

Ladislao Mittner, der Altmeister der italienischen Germanistik, verwendet in seiner Geschichte der deutschen Literatur vom Pietismus zur Romantik21, wenn er das Wort ‹Sehnsucht› ins Italienische übersetzt, konsequent und ausnahmslos struggimento. Diese Übersetzung ist insoweit interessant, als sie sich klar auf die Wurzel ‹Sucht› be­zieht. Das Substantiv struggimento, das von struggere (Aphäresis von distruggere) abgeleitet ist, hat die Bedeutung: consumamento, distruzione – also ‹verzehren›, ‹aus­zehren›22.

Struggimento oder struggere hat Dante in der Commedia nicht angewendet, den­noch tritt im semantischen Feld des ‹disio› diese Bedeutung besonders hervor. Als mystisch-religiöse Erfahrung des desiderio di Dio bietet sie die Folie, durch welche die Metapher der conditio humana im Sinnbild des Exils durchscheint.

Dante ersetzt die platonische Metapher des Stromes durch diejenige des Fluges. Die symbolische Kraft erhält ihren Entfaltungsspielraum durch die Konfigurationen, die das Medium des desiderio in den verschiedenen Kontexten erschafft. Die mächtigste dieser Figuren ist ‹disio› als metaphysisches Streben, als Kraft, die zu Gott führt.

Sehnsucht Gottes und nach Gott

Die Commedia ist erzählte Transzendenz.23 In Dantes Vorstellung ist Gott Leben und Wille. Auf Gott bezogen ist der Begriff ‹disio› vieldeutig: Darunter kann sowohl das menschliche Verlangen nach Gott als auch Gottes Liebe und Hinneigung zur Schöpfung verstanden werden. Der Übersetzer muss den Sinn deuten. Eine Stelle ist diesbezüg­lich emblematisch; es geht um das Glaubensbekenntnis Dantes vor Petrus. An diesem prägnanten Ort reimt sich ‹disio› mit Dio. Dante sagt:

E io rispondo: Io credo in uno Dio
solo ed eterno, che tutto ’l ciel move
non moto, con amore e con disio (Par. XXIV, 130–132)

Im Rückgriff auf die Lehre des Aristoteles, nach der der unbewegte Beweger den Him­mel bewegt, bekennt der Pilger, in welcher Weise dies dem christlichen Glauben zufolge geschieht: «con amore e con disio». Verspürt etwa Gott Sehnsucht nach seiner Schöp­fung? Welche Richtung hat ‹disio› als Motor der Sehnsucht? Wie soll man also ‹disio› übersetzen?

Das desiderium Dei ist ein zentrales Thema in den Schriften christlicher Autoren von Augustinus bis Bernhard von Clairvaux. Für Gregor den Großen, der «dottore del desiderio»24 genannt wurde, ist die menschliche Seele sowohl im jetzigen als auch im ewigen Leben vollkommen vom desiderium Dei durchdrungen. Es sei wunderbar, schreibt Bernard von Clairvaux, dass niemand Gott suchen kann, ohne ihn vorher gefunden zu haben. In der Sprache des Heiligen ist die Ferne Gottes eine Gabe für die Seele, die ihn sucht:

Und auch wenn er gefunden sein wird, wird man nicht aufhören, ihn zu suchen. Nicht mit den Fü­ßen geht man auf die Suche nach Gott, sondern mit dem Verlangen. Und gewiss vertreibt das glückliche Finden das heilige Verlangen nicht, sondern steigert es noch. Bedeutet nun also das Aus­leben der Freude ein Erlöschen des Verlangens? Sie ist vielmehr Öl, denn das Verlangen selbst ist die Flamme. So ist es: die Freude erfüllt sich, aber sie setzt dem Verlangen kein Ende. Und daher wird man nicht aufhören zu suchen.25

Die Liebe Gottes ist so stark und unerfüllbar, dass sie einer Qual gleicht; selbst im Himmel wird das Begehren ewig gestillt sein, nur um ewig wieder geboren zu werden. Die Schöpfung ist als eine Frucht des Sehnens Gottes zu verstehen. Diese mystische Tradition ist der Boden, auf dem die ‹Sehnsucht› der Romantik erblüht und eine Re-Semantisierung des Begriffs erfolgt.

Fast alle Übersetzer rekurrieren bei der Übertragung von Dantes terzina auf das Wort ‹Sehnsucht›; die bipolare Bedeutung des Ausdrucks «con amore e con disio» wird nicht entschlüsselt, die Aussage bleibt vage. So Philalethes:

Und ich antwort’: «ich glaub’ an einen ein’gen
Und ew’gen Gott, der da den ganzen Himmel
Bewegt, selbst unbewegt, durch Lieb’ und durch Sehnsucht.26

Lediglich Hartmut Köhler unterscheidet interpretierend die beiden möglichen theolo­gischen Bedeutungen voneinander und meidet das Wort ‹Sehnsucht›: «Und ich ant­worte: ich glaube an den einen, ewigen Gott, den unbewegten Beweger, der den ganzen Himmel durch seine Liebe bewegt und durch das Streben von allen zu ihm hin.»27

‹Disio› als Lebenskraft

Das zweite Beispiel stammt aus Paradiso XX, 73–78:

Quale allodetta che ’n aere si spazia
prima cantando, e poi tace contenta
de l’ultima dolcezza che la sazia,
tal mi sembiò l’imago de la ’mprenta
dell’etterno piacere, al cui disio
ciascuna cosa qual’ ell’è diventa.

Die Situation, die hier suggeriert wird, lässt in der Phantasie des deutschen Lesers ro­mantische Bilder aufsteigen. Die junge Lerche singt in der freien Luft, um dann, überwältigt von der Süße des eigenen Gesanges, zu schweigen.

Durchdrungen von mystischem Geist, in dem die platonische, franziskanische Seele des Dichters erkennbar wird, sind die Verse der zweiten Terzine. ‹Disio› steht hier für Wirkkraft, also für die Liebe, die jedes Ding zur Entfaltung bringt. Ist die Sehnsucht nach Gott die Kraft, die alles Geschaffene zu dem werden lässt, was seinem eigentli­chen Wesen entspricht – oder ist die Liebe Gottes eher die schöpferische Gewalt, die das Leben schenkt, in dem sie sich selbst liebt? Nach meinem Empfinden benutzt Gme­lin eine Formulierung, die Raum für beide Interpretationen lässt, indem sie wie ‹disio› im Original die Richtung des Prozesses in der Schwebe lässt: «anverwandeln».

So wie die Lerche aufsteigt in die Lüfte,
Erst singend und dann schweigend und zufrieden
Mit jener letzten Süße, die sie sättigt,
Erschien mir auch das Bildnis jener Prägung
Des ewig Wohlgefallens, das mit Sehnsucht
Sich selber alle Dinge anverwandelt.28

Der Pfeil der Sehnsucht29

Die Textstellen in der Commedia, die das Lemma ‹disio› verwenden, um das Streben des Pilgers zu seiner letzten Bestimmung in Worte zu fassen, sind zahlreich. Hier wirkt eine besonders suggestiv:

Dico con l’ale snelle e con le piume
del gran disio, di retro a quel condotto
che speranza mi dava e facea lume (Purg. IV, 27–30)

Auf eignen Füßen; doch hier gilt’s zu fliegen
Mit heißer Sehnsucht kräftigem Gefieder.
Dem sicheren Geleit des Führers folgend30.

Die Szene im Purgatorio: Ein Weg in den Bergen ist so extrem schwierig, dass er eigent­lich nur durch Fliegen zu bewältigen wäre, getragen durch schnelle Flügel. Volo: keine andere Metapher entzündet Dantes Phantasie stärker als der Flug, von keiner anderen macht er häufiger Gebrauch.31 Auch für die Welt der Liebestriebe verwendet er eine Flugmetapher und nicht etwa das platonische Bild des Stromes. Die Bildsprache ist äu­ßerst konkret und speist sich aus der Vogelwelt: Flügel, Fittiche, Schwinge, Feder: sie bilden den Pfeil der Sehnsucht, bieten das Material für die grandiose Figur der Steige­rung zu Gott, die den Urstoff des Werkes darstellt. Fast alle Übersetzer verstehen in der Terzine ‹disio› als sehnsuchtvolles Verlangen nach Gott und verwenden den Aus­druck ‹Sehnsucht›, wenn auch mit unterschiedlichen Beiwörtern: groß, gewaltig, heiß.

Der schmerzliche ‹disio›

In der Commedia rücken insbesondere drei Situationen in den Vordergrund, die sym­bolisch die Erfahrung des schmerzlichen ‹disio› aufzeigen: ‹disio› als trügerisch er­füllte Hoffung (Francesca, Ulisse); ‹disio› als desiderio ohne Hoffnung (Vergil); ‹disio› als Heimweh (Pilger).

‹Disio› als trügerische Hoffnung

In der Romantik wird diese Problematik intensiv vorgelebt. Man kann Wolfgang Früh­wald beipflichten, wenn er von den Romantikern sagt:

Sie haben die Ausdrucks- und die Empfindungsfähigkeit der Literatursprache so gesteigert, dass notwendig ein Umschlag erfolgen musste, und die Zeit der Romantik zugleich eine Zeit der ersten großen Welle von Sprachthematik, Sprachskepsis und Sprachverzweiflung geworden ist.32

Unter dem Einfluss der romantischen Weltanschauung bemerkt man in den Texten der Dante-Übersetzer bis in die Moderne den Kampf mit der Sprache der Emotionen. In diesem Kontext bildet die nostalgische Gestalt der Mignon aus Goethes Wilhelm Meis­ter mit ihrem Seufzer «Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide» wohl die Folie, auf der sich die Sensibilität vieler Interpreten niederschlägt. Lange übten die Re­flexionen von August Wilhelm Schlegel über Klassik und Romantik großen Einfluss aus:

Und wenn die Seele gleichsam unter den Trauerweiden der Verbannung ruhend, ihr Verlangen nach der fremd gewordenen Heimath ausathmet, was anders kann der Grundton ihrer Lieder seyn als Schwermuth?

So ist es denn auch: die Poesie der Alten war die des Besitzes, die unsrige ist die der Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegenwart, diese wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahndung.33

Ich vermute, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Dantes ‹disio› und roman­tischer ‹Sehnsucht› darin besteht, dass, während der christliche Dichter die ganze Kraft des Nicht-erfüllbar-sein-Dürfens in seinen Versen als unstillbares Verlangen nach Gott poetisch auskostet, das unendliche Gefühl der Romantiker die Seele gerade dadurch glückselig macht, dass es unauslöschlich ist.

Ein Beispiel aus der Lucinde von Friedrich Schlegel vermag dies zu belegen.34

Julius: Es ist nicht eitle Fantasie. Unendlich ist nach Dir und ewig unerreicht mein Sehen.
Lucinde: Sei’s was es sei. Du bist der Punkt, in dem mein Wesen Ruhe findet.
Julius: Die heilige Ruhe fand ich nur in jenem Sehnen, Freundin.
Lucinde: Und ich in dieser schönen Ruhe jene heil’ge Sehnsucht.

Wirkte die Gestalt der Francesca da Rimini, die, mit Paolo durch den höllischen Sturm getrieben, das selige Glück des Begehrens in der Ewigkeit als Strafe büßt, als Prätext für diese Szene? Die Absolutheit ihrer Gefühle fordert die Hölle heraus, Ruhe und Erfül­lung sind den Liebenden ewig versagt. Sie werden vom Dichter mit Tauben verglichen, die in ihr Liebesnest zurückkehren: auch hier ist die Metapher des Fluges bestimmend.

Quali colombe dal disio chiamate
con l’ali alzate e ferme al dolce nido
vegnon per l’aere dal voler portate;
cotali uscir de la schiera ov’è Dido,
a noi venendo per l’aere maligno
sì forte fu l’affettüoso grido (Inf. V, 82–87).

Diese Terzinen sind für die Übersetzer eine wahre Herausforderung. Ihre Deutung des tragischen Liebesgeschehens wird im Verständnis des Gleichnisses, das die Liebenden mit verliebten Tauben gleichsetzt, erkennbar. Es geht dabei um die Wiedergabe der Metapher «ali del disio».

Der krude, beinah komische, naturalistische Stil Bachenschwanz’ verrät seine mo­ralische Verurteilung des Ehebruchs: «Wie Tauben, gereizt von Lust, und von der Begierde hingerissen, in vollem Fluge durch die Luft fort, und zum Nest ihrer Wollust eilen […]»35 Zart und mitfühlend wiederum übersetzt A. W. Schlegel. Die Frage stellt sich aber, warum er von einer Übersetzung des Lemma volere absieht:

Wie Turteltauben mit gelindem Schweben
der offenen Flügel, wann zum süßen Nest
sie Sehnen hinruft, in die Luft sich heben.36

An der Übersetzung dieser Stelle zeigt sich von der Zeit der Romantik über die positi­vistisch-philologischen Zeit bis hin zur Moderne eine deutliche Bedeutungsverlagerung bei der Übertragung von ‹disio›. So eilen die Tauben von Streckfuß (1876, Leipzig) «voll Sehnsucht» zum süßen Nest; Kannegießer (1826, Wien) nennt die Vögel «von Be­gier befangen» und lässt sie ziehen mit «Verlangen». Philalethes, der in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts übersetzt, wählt die Formel: «wenn Sehnsucht sie zum sü­ßen Neste hinlockt».

Liest man die Übersetzung von Karl Witte, so glaubt man zuerst, dass er den Sinn von Dantes Terzine perfekt erfasst hat:

Wie Tauben, die, gerufen vom Verlangen
zum süßen Nest, mit ausgespannten Schwingen
die Luft durchschneiden, so sah ich die beiden,
kraft ihres Willens, durch die schlimme Luft,
sich aus der Schar, wo Dido weilt, uns nahen.

In Wirklichkeit hat meines Erachtens Witte die symbolische Ebene des Bildes gänzlich verfehlt und korrigiert Dante mit seiner Übertragung des Willens auf die Liebenden.

Unter den Modernen ist die Übertragung von Kurt Flasch interessant, der die Sehn­sucht den colombe zueignet: «wie Tauben, von Sehnsucht gerufen, mit erhobenen Flügeln sanft zum süßen Nest gleiten, getragen vom eigenen Trieb.»37

Echte Probleme scheint den Übersetzern vor allem das gleichzeitige Vorkommen von ‹disio› und volere zu bereiten. Es ist ein entscheidender Punkt, weil die Hervorhebung von Emotion (‹disio›) und ratio (volere) die anthropomorphe Charakterisierung der Vögel aufzeigt. Diese beiden wesentlichen Komponenten der menschlichen Seele wer­den nicht zufällig in den letzten Versen des Paradiso zum Ausdruck kommen, wo die perfekte Übereinstimmung mit der Bewegung des Universums besungen wird: Dann bedeutet:

‹disio› desiderio o impulso naturale
volere volere deliberato38

Diese Überlegung verstärkt den Eindruck, dass dem Gleichnis eine starke symbolische Komponente eigen ist. Zu Recht bemerkt Giuseppe Ledda:

In esse (similitudini animali) agiscono sempre complesse strategie di costruzione del significato, at­traverso l’attivazione dei valori simbolici che agli animali erano attribuiti nell’esegesi biblica, nei bestiari e nelle enciclopedie, ma anche tramite allusioni intertestuali alla presenza di animali in altri testi antichi e moderni.39

Bekanntlich ist das Bild der Taube von einer deutlichen Ambivalenz geprägt. In der klassischen Antike als Vogel der Venus aber auch in den Bestiarien wird die Taube oft als laszives Tier gedeutet. Nicht weniger verbreitet ist zugleich ihre christliche Kon­notation als Symbol des Friedens und des Heiligen Geistes. Besonders nah an Dantes Text scheint die Klage zu sein, die in Davids Psalm zur Sprache kommt: «Et dixi: quis dabit mihi pinnas sicut columbae et volabo et requiescam (O, dass ich Flügel hätte wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände).»40 Das Bild des süßen Nestes ist ein Versprechen von Glück in der Unschuld der Natur, die Liebe als Ruhe und Erlösung verspricht und den Sündern wehrt.

Eine Stelle der Commedia, die auf die Figur des Pfeils der Sehnsucht aufmerksam macht und gleichsam deren Chiffre darstellt, ist die Begegnung zwischen Dante und Casella im zweiten Gesang des Purgatorio. Dante bittet den Freund, ihn mit dem Ge­sang zu trösten, der in früheren Zeiten sein Gemüt zu beruhigen pflegte: «che mi solea quetar tutte mie voglie» (Purg. II, 108). An dieser Stelle begegnen wir einem Sy­nonym von ‹disio›: voglie. Kann die Musik die «quiete del desiderio» erwirken?

Die Bitte Dantes mit Musik und Gesang die Sehnsucht seiner Seele zu stillen, er­füllt Casella gerne. Die harsche Zurechtweisung von Cato, der die Büßenden verjagt, kann man erst begreifen, wenn man die wehmütige Wonne, die jene schenken, als Gefährdung für den ‹alto disio› versteht, der nach oben treibt.

Ludwig Tieck hat in seinem Roman Franz Sternbalds Wanderungen Worte gefun­den, die wie ein Echo dieser berühmten Episode anmuten: «Wenn man ein Fegefeuer glauben will, wo die Seele durch Schmerzen geläutert und gereinigt wird, so ist im Gegenteil die Musik ein Vorhimmel, wo diese Läuterung durch wehmütige Wonne ge­schieht.»41 Wenige Zeilen weiter sagt Tieck außerdem von Instrumenten, dass sie «eine schmachtende Sehnsucht, eine unbekannte Wehmut in das Gemüt»42 gießen würden. Interessanterweise geben die ersten Übersetzer – auch Streckfuß und Kanne­gießer – voglie nicht mit ‹Sehnsucht› oder ‹sehnen›, sondern mit ‹Wunsch› oder ‹Begierde› wieder. So Bachenschwanz: «O! wie pflegten dieselben [Lieder] meine Be­gierde mit der reinsten Zufriedenheit zu sättigen»43. Erst nach Philalethes setzt sich ‹Sehnsucht› oder ‹Sehnen› als Übertragung von voglie durch.

‹Disio› ohne Hoffnung

Eine vollendete Figur des ‹disio› ohne Hoffnung stellt in der Commedia Vergil dar. Verbannt in den Limbus, bewegt sich der antike Dichter in der tragischen Spannung zwischen der Vortrefflichkeit seines Intellekts sowie seiner moralischen Vorbildlich­keit und der unerreichbaren Glückseligkeit. Er verkörpert die Schwermut, jenes Gefühl, von dem Schlegel sagte, dass es zwischen Erinnerung und Ahndung liege. In diesen melancholischen Helden hat Dante viel von seinem eigenen seelischen Befinden hinein projiziert. Der Dichter lässt Vergil so sprechen:

Per tai difetti e non per altro rio
semo perduti, e sol di tanto offesi
che sanza speme vivemo in disio. (Inf. IV, 40–42)

Fast alle Übersetzer entscheiden sich an dieser Stelle für eine Wiedergabe von ‹disio› als ‹Sehnen› oder ‹Sehnsucht›:

Dass wir in Sehnsucht ohne Hoffnung leben (Streckfuß)

Dass ohne Hoffnung wir in Sehnen leben (Philalethes)

Von besonderem Interesse scheint mir die älteste Übersetzung von Bachenschwanz zu sein: «Und nichts kränket uns mehr, als daß wir ohne alle Hoffnung im seufzenden Verlangen leben sollen.»44 Man kann hier auf die beinah klassisch gewordene Defini­tion im Historischen Wörterbuch der Philosophie verweisen: «Sehnsucht, von sprach­geschichtlich unklarer Herkunft, ist zuerst mhd belegt als ‹Krankheit des schmerz­lichen Verlangens›.»45

Noch deutlicher hervorgehoben wird diese schmerzliche Konnotation von ‹disio› an einer Stelle des Purgatorio, übrigens in einem Kontext, der wiederum Bezug auf Vergil nimmt. Es geht um die Seelen der großen Gestalten der Antike, die keine Hoffnung auf Erlösung haben. Ihr Erkenntnisdrang muss ewig ungestillt bleiben.

E disïar vedeste sanza frutto
tai che sarebbe lor disio quetato
ch’etternalmente è dato lor per lutto (Purg. III, 40–42)

Einige – auch moderne – Übersetzer rekurrieren, um das Bild des «disiare sanza frut­to» im Deutschen zu gestalten, auf die Metapher des Durstes, der nicht zu stillen ist. Andere bevorzugen den Ausdruck ‹Wunsch› und ‹wünschen›. Bemerkenswert ist die Übersetzung von Philaletes:

Und fruchtlos saht ihr manchen Sehnsucht fühlen,
des Sehnen, das ihm ewiglich zum Leiden
gegeben ist, sonst wär’ befriedigt worden.

Diese Übersetzung bezeugt die romantische Aufwertung der Sehnsucht, ja sie ent­spricht jener Definition des «desiderio del desiderio», die für die Romantik charakte­ristisch ist. So sagt Ladislao Mittner: «La ‹Sehnsucht› è veramente una ricerca del desiderio, un desiderare il desiderare, un desiderio che è sentito come inestinguibile e che proprio per ciò trova in sé il proprio pieno appagamento.»46

‹Disio› als Heimweh ( la puntura della rimembranza )

Analysieren wir zum Schluss die Lieblingsstelle vieler Romantiker in der Commedia. Darin sahen sie ihre Sehnsucht nach dem Unendlichen mit dem Gefühl des Heimwehs nach den verlorenen Paradiesen der Liebe oder der Heimat vereinigt, ja ihre Stim­mung zelebriert, die in der Schwebe zwischen Schmerz und Hoffnung verbleibt. Es han­delt sich um die ersten Terzinen des VIII. Gesangs des Purgatorio:

Era già l’ora che volge il disio
ai navicanti e intenerisce il core
lo dì c’han detto ai dolci amici addio;

e che lo novo peregrin d’amore
punge, se ode squilla di lontano
che paia il giorno pianger che si more;

quand’io incominciai a render vano
l’udire e a mirare una de l’alme
surta, che l’ascoltar chiedea con mano (Purg. VIII, 1–9).

In diesen Versen werden prägnante Motive des Dolce Stil Novo und von Dantes Vita nova lebendig. Um die affektive und literarische Bedeutung der Abendstimmung zu gestalten, schöpft der Dichter aus der Tradition der provenzalischen Lyrik und der christlichen Seelengeschichte.

Man rufe sich die Schlüsselbegriffe des Textes in Erinnerung, die Adjektive novo, lontano, die Substantive pellegrino, amore, dolcezza sowie die Verben udire, pungere, piangere, morire, bilden das reiche semantische Feld des disio amoroso, der Sehn­sucht, die den navigante zieht «ver’ lo dolce paese ch’ho lasciato».47

Sehnsucht als amor de lohn, die Liebe zu einer fernen Herrin, die als poetische Chiffre der Canzoni von Jaufré Rudel gilt, markiert auch die ästhetische Signatur der Verse Dantes.

Der Schiffer und der Pilger sind Figuren des Abschieds, denn beide streben in die Ferne. Das Wort novo umfasst einen mehrfachen Sinn, ebenso das Wort dolce; ‹neu› und ‹süß› charakterisieren den süßen neuen Stil. Novo ist ein Grundwort der Lyrik im Sinn der Erneuerung der Natur, aber auch der christlichen Botschaft: la buona novella.

Ein Echo der Jugendlyrik umweht auch die Figuren der «dolci amici» und des «novo pellegrino». In einem der letzten Sonette des Prosimetro wendet sich das lyrische Ich an die Pilger, die nachdenklich durch Florenz laufen, aber den Tod von Beatrice zu ignorieren scheinen. Wie der Tod, der in der wunderbaren Metapher des sterbenden Tages evoziert wird, ist die Liebe ein Gefühl, das Schmerz verursacht: «punge». So wird im Purgatorio die Präsenz Beatrices durch das trafiggere (das Durchbohren)48, die quälende Folge der Liebe, wahrgenommen.49

Hier die Übersetzung von Schlegel50:

Schon kam die Stunde, die in weichem Gram
des Schiffers Wunsch zur Heimat lenkt am Tage,
da er von seinen Lieben Abschied nahm;
und die des Wallers Brust mit regem Sehnen
verwundet, wann er ferne Glocken hört,
die sanft des Tages Sterbeklage tönen.

«Disio» gibt Schlegel mit «Wunsch» wieder. Der Begriff wird konkret als Fernweh nach der verlassenen Heimat gedeutet; das Syntagma «dolci amici» klingt lediglich in der «Weichheit» des Grams an. «Sehnen» wird in Verbindung mit «Waller» als «reges Sehnen» bezeichnet. Der Ausdruck ‹Sehnsucht› kommt übrigens in der ganzen Dante-Übersetzung Schlegels nicht vor. Sehr schön übertragen ist der Schlussvers mit der Klage der Glocken.

Niemand hat sich nach meinem Empfinden intensiver und origineller als Clemens Brentano, diesem unruhigen romantischen Geist mit italienischer Seele, mit Dantes Terzinen auseinandergesetzt. Er hat Dante nicht nur zitiert, übertragen und sich in ihm gespiegelt, sondern er hat in seinem Text gelebt, die Gebrochenheit des eigenen Ge­schicks mit Dantes Sprache konjugiert, ja mit der Signatur der Zeit versehen. So lässt sich Übersetzen als kreatives Überschreiten verstehen. Brentano hat Dantes Werk nie systematisch übersetzt, aber die Präsenz des Florentiner Dichters in seinem Werk ist intensiv und anhaltend. Auch vor seiner Wendung zum Katholizismus ist neben der Anziehungskraft der christlichen Spiritualität Dantes vor allem die Symbolik des Exils ein Thema, das alle Sinnschichten seines Werkes durchdringt.

Die beiden in der Folge zitierten Terzinen Dantes bilden den Anfang des Gedichtes vom Schiffer und der Sirene von 1815.51

Zur Stunde, die in Sehnsucht zagt,
dem Schiffer tief das Herz beweget,
der Freunden heut’ Lebwohl gesagt,
und Liebe in dem Pilger reget,
hört er, wie ferne Abendglockenklänge scheinen
den Tag, den sterbenden, wehklagend zu beweinen.

Sie sind nicht unmittelbar als Zitat erkenntlich. Es handelt sich um die Bearbeitung ei­ner literarischen Vorlage, wie dies in Brentanos Schaffen nicht unüblich ist,52 aber doch einzigartig als Vorwegnahme einer Montage-Technik, wie sie später in Gedichten der Moderne üblich werden sollte. «Nähe und Entfremdung, diese doppelte Beziehung zur Überlieferung begegnet auch im poetischen Werk an vielen Stellen», bemerkt En­zensberger.53 Bekanntlich hat Brentano, der Schöpfer der Lore Lay, häufig das Bild der Schiffe und der Sirenen in seiner Lyrik verwendet.

Im Gedicht, [Zur Stunde, die in Sehnsucht zagt], einem Wechselgespräch zwischen Schiffer und Sirene, beklagt diese, das «unerkannte, tiefverwandte» Wesen, die Uner­füllbarkeit ihrer Liebe, denn für den Schiffer, der sie liebt, fühlt sie nur Erbarmen: «Die Sehnsucht hat mir’s hergeschickt / mein Sehnen hat mir’s zugetrieben.»54 Dantes Verse bilden den Rahmen, sie erzeugen die Stimmungskulisse, vor der das leidende lyrische Ich seiner Schwermut gewahr wird und dem Ruf seines schweren Herzens folgen kann.

Der epische Beginn des danteschen Canto kontrastiert mit der subjektiven lyrischen Wendung von Brentanos Gedicht, das im Geist der Romantik die schmerzliche, ver­hängnisvolle Leere des Suchenden suggeriert. Sein seelischer Zustand wird vorwegge­nommen: Es ist die Stunde des Zagens, die die Sehnsucht melancholisch färbt, die Zeit des Abschieds von den Freunden, eine Zeit der negativen Emotionen. Eine leise Verwunderung erzeugt beim Leser die Stimmung des Pilgers, den beim abendlichen Läuten der Glocken eine Liebe ergreift, welche der Todessehnsucht verwandt scheint.

Noch ein anderes Mal ruft Brentano Dantes Terzinen in Erinnerung, und zwar in den Italienischen Märchen. Im in der Spätfassung (1838) von Gockel, Hinkel und Ga­ckeleia enthaltenen Tagebuch der Ahnfrau, finden wir zwei gleich lautende Belege des Textes. Die mystisch-religiöse Schrift, die eine Art Vorgeschichte des Märchens in einer paradiesischen Zeit darstellen soll, wird auf Karfreitag bis Sonnenwende des Jahres 1317 datiert, sie kommuniziert aber mit allen anderen Zeiträumen. Die Protago­nistin Amey will ihre Wäsche im Johannistau bleichen:

Als es nun Abend geworden, war all meine Wäsche ausgebreitet. Der Engel des Herrn läutete, wir standen betend um die Hütte, und als wir uns gegrüßt, sangen die drei Schwestern dreistimmig einen süßen Reim vom Abend, von welchem sie aus früherer Zeit wussten, dass er mir ungemein lieb war:

O Stunde, da der Schiffende bang lauert
und sich zur Heimath sehnet an dem Tage,
da er von süßen Freunden ist geschieden,
da in des Pilgers Herz die Liebe trauert
auf erster Fahrt, wenn ferner Glocken Klage
den Tag beweinet, der da stirbt in Frieden.

[…] Mein Herz aber war schwer und sehnte sich.55

Der zweite Kontext lautet:

Schon wollte ich hinab durch den Garten hinauseilen, als mich die Abendglocke unterbrach, man läutete den Engel des Herren, ich stand still und betete den englischen Gruß, und indem ich immer hinaus nach dem roten Fleck sah, wurde mein Herz gar tief bewegt, und ich gedachte des Abends auf der Bleiche mit Klareta und sang unter Tränen: O Stunde […]56

Die Relevanz des Kontextes für die Verseinlage wird deutlich. Vergleicht man nun die zwei Dante-Übersetzungen, so spürt man, dass sich die Bedeutung vom Mythischen ins Symbolische verlagert hat. Jetzt erscheinen die Verse als Traum eines versunkenen Zeitalters, das schmerzlich vermisst wird. Die Abendstunde ist eine ‹Chiffre des Her­zens› für Vergänglichkeit und Todesangst geworden.

Hat die Romantik mit ihrer beispiellosen Begeisterung für das Übersetzen, die in Brentanos Überzeugung gipfelte: «das Romantische selbst ist eine Übersetzung»57, die Ausdrucksfähigkeit der deutschen Sprache bereichert? Auf die Frage sollen besser Germanisten antworten. Die kleine Vergleichsgeschichte von ‹disio› und ‹Sehnsucht› sollte lediglich auf einen dichtungsgeschichtlichen Wendepunkt hinweisen.

Setzen die zeitgenössischen Übersetzer, etwa Flasch oder Köhler, auf Kommunika­tion oder Ausdruck? Sie verstehen sich mit ihrer Prosa-Übertragung nicht mehr als Nachdichter, sondern ‹nur› als Deuter und Interpreten. Sie verzichten auf einen ästhe­tischen Anspruch und überlassen Dante die Poesie.

Wir haben beobachtet, dass der Brückenschlag des Übersetzens im Stil und Dekor des jeweiligen Zeitgeistes und Zeitgeschmacks vorgenommen wird: entweder hat der Vorgang des existentiell interessierten Anverwandelns den Vorrang oder eher die Vor­liebe für die historische Rekonstruktion. In beiden Fällen bleibt aber der Sinn der Übersetzer für und ihr Staunen über die vielen Dimensionen des Wortfeldes (in unse­rem Fall von ‹disio›–desiderio) wach und setzt nur andere Akzente und Prioritäten.

Freilich lässt sich auch eine Säkularisierung der Ferne, auch der Nähe der Ferne, nachverfolgen: vom Schmerz der Sehnsucht Gottes nach der Schöpfung sowie der seuf­zenden Kreatur nach Gott hin zum Heimweh, zur Erfüllung der trügerischen Hoff­nung und dem Abschied vom Abschied. Für das «desiderio del desiderio» scheint auch bei den Übersetzern mit der Zeit das Gespür zu schwinden. Die semantische Dichte von Dantes ‹disio› bleibt unerreichbar: darin ist die Begriffsgeschichte der Sehnsucht vorweggenommen und kondensiert.

Kommen wir abschließend auf das anfangs zitierte Wort Heideggers zurück: «Die Sehnsucht ist der Schmerz der Nähe des Fernen.»58 Kann die Übersetzung das Verspre­chen einlösen, eine ideale Brücke zu sein, die sich zwischen zeitlicher Ferne und ver­trauter Nähe spannt? Kann sie durch das Wort das Fremde heimisch machen, ohne es in seiner Identität zu zerstören?

Die Nähe zum Fernen verbirgt sich, wie wir gesehen haben, in der Etymologie des ‹disio› als desiderio. Für Dante befindet sich die ‹alta fantasia› als Synthese von Liebe und Erkenntnis unter dem Einfluss der Sterne. Die stelle, die gleichsam ein Siegel ans Ende jeder Cantica setzen, suggerieren diese Ferne, die zugleich eine andenkende Nähe ist, ja, sie vermögen den Schmerz, den die Nähe des Fernen herbeiführt, poetisch an­zurufen.

Die romantischen Übersetzer markieren eine Grenze von epochalem Charakter. Dantes ‹disio› zieht auf eine Erfüllung in Gott, dem Brennpunkt, in dem ‹disio› zum Licht wird. Dem gegenüber vollzieht die romantische Sehnsucht eine Entgrenzung, in der sie sich nicht zu erfüllen, sondern zu verlieren droht.

  1. Walter Benjamin, «Die Aufgabe des Übersetzers». In: Ders., Gesammelte Werke, Frankfurt a. M., 1972, Bd. IV/1, 9–21, hier S. 9.
  2. Ebd., S. 19.
  3. Friedrich Nietzsche, «Also sprach Zarathustra». In: Ders., Werke, II, hrsg. von K. Schlechta, Berlin, 1984, S. 282f.
  4. Martin Heidegger, «Wer ist Nietzsches Zarathustra?» In: Ders., Gesamtausgabe, Vorträge und Auf­sätze, Bd. 7, Frankfurt a. M., 2000, S. 107.
  5. «Sehnsucht». In: Ritter, Gründer, Karlfried (Hrsgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel, 1971–2007, Sp. 165–168.
  6. Die Tendenz, in der ‹Sehnsucht› «eine ziemlich deutsche Angelegenheit» zu sehen, wird von M. Th. Bossard und J.-D. Döhling kritisch beurteilt. Das Interesse der Autoren gilt vor allem der portu­giesischen und südamerikanischen Tradition. Vgl.: «Von der Civitas Dei zur Cidade de Deus oder zum urbanen Himmel auf Erden. Einführende Bemerkungen zur medialen Modellierung von (Sehn­suchts-) Städten». In: Marco Th. Bosshard u. a., Sehnsuchtsstädte. Auf der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen, Bielefeld, 2013, 43–60, S. 43.
  7. «Es hat zwar lange gedauert, dass die moderne Motivationspsychologie nicht nur vom Wunsch und Begehren, sondern speziell auch von der Sehnsucht spricht und darin einen wichtigen Beweggrund unseres Handelns erkennt», so Jürgen Straub in: «Sehnsucht – Begriffsgeschichtliche Annotationen, psychologische Sondierungen». In: Sehnsuchtsstädte, auf der Suche nach lebenswerten urbanen Räumen, a. a. O., 15–27, S. 19.
  8. Die Liste der Deutschen Dante-Gesellschaft verzeichnet 52 vollständige Übersetzungen. Der erste Übersetzer war Lebrecht Bachenschwanz (1767), der letzte Alfred Anderau (2015). Die Analyse der Bedeutung von ‹disio› im Spiegel der Übersetzungen orientiert sich an folgenden Kriterien: Un­bestimmtheit des Objekts; schmerzhaftes Sehnen; Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit; Liebe und Lie­besbegehren; Ratio und Erkenntnis. Die Fokussierung auf diese Aspekte scheint mir die Auswahl bestimmter Autoren zu rechtfertigen. Die Berücksichtigung anderer Übersetzer hätte leider den Rah­men dieser Arbeit gesprengt.
  9. Martin Heidegger, Hölderlins Hymne «Der Ister», Frankfurt a. M., 1984, S. 75.
  10. Johann Wolfgang Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divan, hier zitiert nach Elena Polledri, Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit, Tübingen, 2010, S. 79. Die zeitgenössischen Dante-Übersetzer in Prosa (Flasch, Köhler) verfolgen dieses Ziel. Leider mit Verzicht auf Klang und Rhythmus.
  11. Dante Alighieri, «De vulgari eloquentia», II, 7. Zitiert nach: Ders., Le opere latine, Roma, 2005, S. 199.
  12. Im Convivio ist zu lesen: «[…] lo sommo desiderio di ciascuna cosa, e prima dalla natura dato, è lo ritornare allo suo principio. E peró che Dio è principio delle nostre anime e fattore di quelle simili a sè [...] essa anima massimamente desidera di tornare a quello.» In: Dante Alighieri, Convivio, a cura di Giorgio Inglese, Milano, 1993, IV, 12, 14. S. 266.
  13. Fernando Salsano: «‹Desio› (disio; desiderare; disire; disiro) esprime come ‹desiderio› da cui di soli­to si differenzia per una maggiore intensità affettiva o patetica, il moto appetitivo generato dall’amore e, proviene, come ‹desire› e ‹desianza›, dalla tradizione siciliana e siculo-toscana: ricorre quasi sola­mente in poesia, ed è fra le parole raccomandate nel De Vulgari Eloquentia (II, VII, 5) come proprie del volgare illustre.» Stichwort «Disio» in: Enciclopedia Dantesca, Roma, 1970, Bd. II, S. 389 f.
  14. Die Form ‹disiderio› ist in Inferno II, 136 und Purg. XV, 53 zu finden.
  15. Die Divina Commedia wird zitiert nach der Ausgabe von A. M. Chiavacci Leonardi, 3 voll., Milano, 1991–1997.
  16. August Wilhelm Schlegel, der sicher am meisten zur rinascita Dantes in Deutschland beitrug, ließ seinem Essay über die Göttliche Komödie eine Teilübersetzung der Commedia folgen. Die Terzine übersetzt er so: «Ich aber, der dem Ziel der Wünsche nun / sich endlich nahte, / ließ, wie mir’s geziemte, / des Sehnens Glut in meinem Innern ruhn.» Es wird aus folgender Ausgabe zitiert: A. W. Schlegel, Sämmtliche Werke, hrsg. von E. Böcking, 16 Bde., Leipzig, 1846–1848, III, S. 380.
  17. Grande Dizionario della lingua italiana di Salvatore Battaglia, Torino, 1966, Bd. IV.
  18. Dizionario etimologico, Santarcangelo di Romagna (Rn), 2004. (Übers. F. J.) Andere Lexika erwäh­nen die Verbindung mit den Sternen nicht. Vgl.: Dizionario etimologico italiano von Carlo Battisti und Giovanni Alessio, Bd. 5, II, 1260–61, Firenze, 1975.
  19. Lino Pertile, La punta del disio. Semantica del desiderio nella Commedia, Fiesole (Firenze), 2005, S. 20.
  20. Vgl. Guido Cusinato, «Il desiderio excentrico. Max Scheler e la riabilitazione delle emozioni». In: Me­tafisica del desiderio, a cura di Claudio Ciancio, Milano, 2003, S. 243–259.
  21. Ladislao Mittner, Storia della letteratura tedesca. Dal Pietismo al Romanticismo (1700–1820), Tori­no, 1964.
  22. Struggimento wird auch für ‹desiderio o passione amorosa› verwendet. In diesem Sinn ist es bei mittelalterlichen Autoren belegt so bei Sacchetti, Guido Guinizelli und im Dittamondo von Fazio degli Uberti. Beispiele finden sich auch im Canzoniere von Petrarca. So in der Canzone XXX. Die Eigen­schaft des struggere besitzen hier die Augen Lauras, die «an mir zehren wie die Sonn am Reife». Vgl. Francesco Petrarca, Das lyrische Werk, italienisch/deutsch, aus dem Italienischen von K. Förster und H. Grote, Düsseldorf / Zürich, 2002, S. 57.
  23. Das große thematische Feld der Commedia: Gott und sein Wirken in der Welt. Seit der ersten Erwähnung im Inferno II, 71 als Verbalform («vegno del loco ove tornar disio»), wo der Ausdruck den Ort der Seligkeit bezeichnet, bis zum letzten Vers des Gedichtes («ma già volgea il mio disio e il velle»), hat ‹disio› konsequenterweise mit Gott zu tun. ‹Disio› kann aber auch sein Ziel verfehlen.
  24. Vgl. Lino Pertile, a. a. O., S. 28.
  25. Bernard von Clairvaux, «Sermones super Cantica LXXXIV 1». In: Ders., Opera, II, S. 303. Lino Per­tile übersetzt: «Neanche quando sarà stato trovato si cesserà di cercarlo. Non con passi materiali si cerca Dio ma con il desiderio. E certamente non diminuisce l’acume del santo desiderio, il fatto di averlo felicemente trovato, ma anzi lo dilata. La consumazione della gioia è forse la distruzione del de­siderio? E’ piuttosto un olio per esso; il desiderio è infatti una fiamma. Proprio così. Sarà colmata la letizia, ma non ci sarà fine per il desiderio, e per questo non si cesserà di cercare.» In: Pertile, a. a. O., S. 30.
  26. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, aus dem Italienischen von Philalethes (König Johann von Sachsen), Frankfurt a. M., 2008. Die erste Ausgabe erschien 1849 in Dresden und Leipzig.
  27. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie (I, II, III), in Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler, Stuttgart, 2009–2012.
  28. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übersetzt von Hermann Gmelin, Stuttgart, 2001. Die erste Ausgabe ist 1949 bei der Cotta’schen Buchhandlung Stuttgart in einer zweisprachigen Ausgabe in 3 Bänden erschienen.
  29. Siehe Fußnote 3.
  30. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. La Divina Commedia, übers. von Karl Witte, Berliner Ausga­be, 2016 (nach der Übersetzung von Karl Witte, Berlin, 1916).
  31. «Ali del desiderio»: Obwohl kaum eine andere Metapher sowohl in der klassischen als auch in der christlichen Literatur häufiger verwendet wird, schafft Dante dank dieser Symbolik mächtige Bilder und Situationen.
  32. Wolfgang Frühwald, «Der Zwang zur Verständlichkeit. A. W. Schlegels Begründung romantischer Esoterik aus der Kritik rationalistischer Poetologie». In: S. Vietta, Die literarische Frühromantik, Göttingen, 1983, 129–148, S. 142.
  33. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bonn / Leipzig, 1923, S. 12f.
  34. Friedrich Schlegel, «Lucinde». In: Ders., Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Behlen, Paderborn, 1962, Bd. V, S. 79. Vgl. den Abschnitt «Sehnsucht und Ruhe».
  35. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, aus dem Italienischen übersetzt und mit Anmerkungen be­gleitet von Lebrecht Bachenschwanz (Leipzig 1767–69). In: http://www.dantealighieri.dk/Bachenschwanz/hoelle/dgk-h05.htm.
  36. August Wilhelm Schlegel, Sämmtliche Werke, hrsg. von E. Böcking, Poetische Übersetzungen und Nachbildungen, III, 1, Hildesheim / New York, 1971, S. 248.
  37. Dante Alighieri, Commedia, in deutscher Prosa von Kurt Flasch, Frankfurt a. M., 2011, S. 27.
  38. Paradiso XXXIII, 143-145: «Ma già volgeva il mio disio e il velle / Sì come rota ch’egualmente è mossa / L’Amor che muove il sole e l’altre stelle.»
  39. Giuseppe Ledda, «Animali nel paradiso». In: La poesia della natura nella Divina Commedia (Atti del convegno int. di studi, Ravenna, 10 novembre 2007), a cura di G. Ledda, Ravenna, 2009, 93–135, S. 93.
  40. Psalm 55,7.
  41. Ludwig Tieck, Frühe Erzählungen und Romane, Band I, München, 1963, S. 839.
  42. Ebd.
  43. http://www.dantealighieri.dk/Bachenschwanz/fegfeuer/dgk-f02.htm.
  44. Sorgfältig bedacht ist auch seine Übersetzung von Vers 43: «gran duolo mi prese al cuore», den er so wiedergibt: «die innigste Wehmuth bemächtigte sich meines Herzens, da ich dieses hörete.»
  45. Vgl. »Sehnsucht». in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a. a. O., 1995. Die Erwähnung geht zurück auf das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Vgl. die Artikel: «Sehnen» und «Sehnsucht» in der Ausgabe: Deutsches Wörterbuch, München, 1999, S. 151f. und 157.
  46. Ladislao Mittner, Storia della letteratura tedesca dal pietismo al Romanticismo, a. a. O., S. 700.
  47. Dante Alighieri, «La dispietata mente che pur mira». In: Ders., Rime, a cura di G. Contini, Torino, 1995, S. 27.
  48. «Tosto che ne la vista mi percosse / l’alta virtù che già m’avea trafitto» (Purg. XXX, 40).
  49. Für die Sequenz im Incipit von Purgatorio VIII werde ich lediglich die Übersetzungen von Schlegel und Brentano heranziehen. Beide sehen von der dritten Terzine ab, die – es ist eine Konstruktion des cum inversum – das zweite Glied des Gleichnisses enthält. Sie verabsolutieren also die Stelle.
  50. A. W. Schlegel, Sämmtliche Werke, hrsg. von E. Böcking, III, 1, a. a. O., S. 347. Schlegel bringt die Terzinen in seiner Teilübersetzung der Commedia. Das größere Gewicht kommt im Werk dem Infer­no zu; die Gesänge des Purgatorio werden vornehmlich in Prosa wiedergegeben.
  51. Clemens Brentano, Ausgewählte Gedichte, Paderborn, Nachdruck aus der Originalausgabe aus dem Jahr 1882, S. 200.
  52. Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Brentanos Poetik, München, 1973. Im Blick auf das Verhältnis Brentanos zur Tradition sagt der Autor: «Brentanos Verhältnis zur älteren Dichtung ist ausgezeichnet durch seine einzigartige geschichtliche Situation. Er steht an jenem Punkt, wo die Brechung dieses Verhältnisses beginnt, wo jedoch der unmittelbare, lebendige Zusammenhang noch nicht verloren ge­gangen ist.», S. 95.
  53. Ebd., S. 89.
  54. Brentano, «Der Schiffer und die Sirene» [Zur Stunde, die in Sehnsucht zagt], a. a. O., v. 21–22.
  55. Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, historisch-kritische Ausgabe, veranstaltet vom Frei­en Deutschen Hochstift, Band 18, 3, Italienische Märchen II, Stuttgart, 2014, S. 424.
  56. Ebd., S. 475.
  57. Clemens Brentano, «Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria». In: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, a. a. O., Bd. 16/1, S. 319.
  58. Vgl. Zitat vorne (Anm. 4): «[…] Das Ferne bleibt. Insofern es bleibt, bleibt es in einer Nähe, in jener nämlich, die das Ferne als das Ferne bewahrt, indem es an das Ferne und zu ihm hin denkt. Die andenkende Nähe zum Fernen ist das, was unsere Sprache die Sehnsucht nennt.»