Die Avantgarden auf der Suche nach neuen Identitäten

· Sabrina Maag ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0002-449A-4

Die Avantgarden befinden sich an einer zentralen Stelle innerhalb eines zeitlichen Bogens, der die Entwicklung umfaßt, die bei Italien als unumstrittenen Vorbild für deutsche Künstler ihren Anfang nimmt und ein vorläufiges Ende hat in der Tendenz italienischer Künstler, vor allem im Bereich des Designs und der Musik, sich an den Entwicklungen in Deutschland zu orientieren. Doch nicht nur rein chronologisch sind die Avantgarden ein Angelpunkt, sondern vor allem auch, wenn sich die Frage nach Vorbildern stellt. Die große, das Programm zusammenhaltende These der Tagung, in deren Rahmen der hier vorliegende Aufsatz entstanden ist, ist die von einer Umbildung des Paradigmas ‹Künstleridentität›, eines Paradigmas, das sich spätestens mit den deutschen Ästhetiken des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat und zunächst eine klare Ausrichtung aufweist: die deutschen Künstler gewinnen einen wichtigen Teil ihrer Identität durch den Blick auf italienische Künstler der Renaissance. Dieses Paradigma ändert sich im Laufe des 20. Jahrhunderts so stark, daß man von einer Umkehrung der Vorzeichen sprechen kann. Daß eine solche Umbildung nicht linear, klar oder eindeutig verläuft, muß nicht erst gesagt werden. Daß aber in der Diskussion um die Identität des Künstlers und um seine Selbstwahrnehmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegende Fragen gestellt werden, zeigt das verhältnismäßig kurze, aber dafür umso intensivere Wirken der europäischen Avantgarden.

Absicht des vorliegenden Aufsatzes ist es aus verschiedenen Gründen nicht, einen Beitrag zur umfassenden Avantgarden-Forschung zu leisten. Vielmehr soll in einem ersten Teil ein Überblick gegeben werden über verschiedene Konzepte und Überzeugungen, die die europäischen Avantgarden teilen und auch im Austausch miteinander definieren. Im zweiten Teil soll ein genauerer Blick auf die Konzepte künstlerischer Sprache geworfen werden, um ausgehend hiervon die Frage zu formulieren, wie eine Lossagung von allen Vorbildern, wie die Avantgarden sie versuchen, vonstatten gehen kann, oder genauer: ob die Avantgarden ihre Identität tatsächlich unter Verzicht auf Vorbilder definieren konnten.

Die europäischen Avantgarden rücken bei der Frage nach Vorbildern automatisch in den Blick. Der Bruch mit der Tradition ist freilich eine zyklisch wiederkehrende Erscheinung innerhalb der Literatur- und Kunstgeschichte, die eine Entwicklung derselben überhaupt erst möglich macht. Doch läßt sich innerhalb dieser Zyklen eine zunehmende Rigorosität feststellen. Zu den ersten, heftig geführten Auseinandersetzungen in der europäischen Kunst gehört der Streit um die Umwertung der Künste bezüglich der Aufteilung in artes liberales und artes mechanicae und speziell um das Verhältnis von Bildhauerei und Malerei in der Renaissance, der sogenannte paragone.1 Er wird über Jahrzehnte geführt und es beteiligen sich namhafte Künstler an ihm, wie Michelangelo, Leonardo da Vinci, Benvenuto Cellini und Giorgio Vasari. Damit in Zusammenhang steht eine weitere Auseinandersetzung, die allerdings innerhalb der Disziplin der Malerei geführt wird, der Streit um das Primat von Linie oder Farbe, das zu einer Aufspaltung der Maler in die Gruppe der Rubenisten (Fürsprecher des Primats der Farbe) und Poussinisten (Fürsprecher des Primats der Linie) geführt hat. Auslöser ist hier die Schrift von Federico Zuccaro über das Verhältnis von disegno und concetto.2 Diesen Auseinandersetzungen, die sich hauptsächlich innerhalb der bildenden Künste abspielen, folgt im 17. Jahrhundert die Querelle des anciens et des modernes, die sich mit der Frage der Vorbildfunktion der Antike im allgemeinen auseinandersetzt und damit alle Künste umfaßt. Die Fragen, welche die Querelle diskutiert, werden den künstlerischen Diskurs bis ins 19. Jahrhundert hinein beschäftigen, wo sie im Streit zwischen den Romantikern und den Klassizisten um die Schriften Madame de Staëls einen weiteren Höhepunkt haben. Der Vorbildfunktion der Antike, an der die Klassizisten noch immer festhalten, wird mit besonderer Vehemenz die Bedeutung der eigenen Nationalliteratur und -kunst entgegengehalten und damit die Bedeutung der eigenen Geschichte herausgestellt.3 Historische Zusammenhänge und eine ‹Nationalgeschichte› sind für das im 18. Jahrhundert entstehende Bürgertum nicht in erster Linie in Hinblick auf Kunst und Geistesgeschichte interessant, sondern ein grundlegender Bestandteil der bürgerlichen Identität, die sich nicht nur vom Adel, sondern auch von anderen Nationen absetzt. Vor allem für Länder wie Italien und Deutschland, deren politische Einigung noch eine Utopie zu sein scheint, treten Kunst und Politik, persönliche Identität und künstlerische Ausdrucksformen dieser Identität in komplexe Wechselbeziehungen. Aus diesen Wechselbeziehungen erklärt sich auch ein Phänomen wie das des Sturm und Drang in Deutschland: Diese literarische Strömung wird getragen von jungen, rebellischen Schriftstellern, die gegen den etablierten Literaturbetrieb aufbegehren. Ihre Revolte zeigt sich zunächst durch eine radikal neue Sprache: Die Texte, fast ausschließlich Dramentexte, sind gekennzeichnet von einer Sprache, die sich nicht nur gegen den Vers, und sei es auch in seiner moderneren Form des Blankverses, richtet, sondern die wohlgeordnete Syntax aufbricht, um der aufgewühlten Seelenlage ihrer Protagonisten das passende Ausdrucksmittel zur Verfügung zu stellen.4 Die rebellische Haltung der Sturm-und-Drang-Autoren hat auf der textinternen Ebene ihre Entsprechung in den rebellischen Protagonisten, die als sogenannte «Kraftkerle»5 ein Ideal des Sturm und Drang, nicht bereit sind, die eigenen Ideale und Gefühle der in ihren Augen überkommenen Moral und Ordnung der Gesellschaft zu unterwerfen – ein Konflikt, an dem viele von ihnen zerbrechen. Das Aufbegehren der jungen Generation gegen die Gesellschaft der Väter stellt eine Variation des Motivs des Vatermords dar, das für die in den Dramen des Sturm und Drang ausgetragenen Konflikten zentral ist.6 Der Versuch des Vatermords durch die Autoren des Sturm und Drang stellt auf der textexternen Ebene eine kurze Episode innerhalb der deutschen Literaturgeschichte dar und kann insofern als ‹Durchgangsphase› gesehen werden, als einige der Sturm-und-Drang-Autoren später zu kanonischen Dichtern der Klassik wurden, wie Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe. Was in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Namen des Originalgenies ausgefochten wurde, das führen die Avantgarden ungefähr 150 Jahre später noch radikaler weiter: auch sie verwerfen mit heftigen Worten Tradition und alte Vorbilder. Protagonisten dieser zweiten Welle von Vatermördern sind die Autoren des Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Dada und Surrealismus. Die Zeitspanne jener Bewegungen ist wiederum nicht besonders groß und kann angesetzt werden von frühestens 1900 bis zu ihrem Ende um das Jahr 1929, ein Zeitpunkt, der durch das langsame Erschöpfen der surrealistischen Energien und Aktivitäten auf der einen Seite und der endgültigen Vereinnahmung des Futurismus durch den Faschismus, die letztlich schon mit dem Jahr 1922 anzusetzen ist, gekennzeichnet ist.7

Diesen verschiedenen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der totale Bruch mit literarischen, aber auch gesellschaftlichen Traditionen gemeinsam. Am schärfsten wird dieser Bruch in den futuristischen Manifesten ausgesprochen, er bildet aber letztlich die Grundlage aller avantgardistischen Strömungen. Für den Futurismus ist hierbei die etymologische Herkunft der selbstgewählten Bezeichnung «Avantgarde» aus dem Militärjargon programmatisch8: Mit kriegerischen Parolen werden im ersten futuristischen Manifest von 1909 die Überzeugungen der gerade erschaffenen Gruppierung der Futuristen verkündet, und Kriegs- und Gewaltverherrlichung gehören als zentrales Element dazu.

Manifesto del Futurismo

1. Noi vogliamo cantare l’amor del pericolo, l’abitudine all’energia e alla temerità.
2. Il coraggio, l’audacia, la ribellione, saranno elementi essenziali della nostra poesia.
3. La letteratura esaltò fino ad oggi l’immobilità pensosa, l’estasi e il sonno. Noi vogliamo esaltare il movimento aggressivo, l’insonnia febbrile, il passo di corsa, il salto mortale, lo schiaffo ed il pugno.
4. Noi affermiamo che la magnificenza del mondo si è arricchita di una bellezza nuova: la bellezza della velocità. Un automobile da corsa col suo cofano adorno di grossi tubi simili a serpenti dall’alito esplosivo... un automobile ruggente, che sembra correre sulla mitraglia, è più bello della Vittoria di Samotracia.
5. Noi vogliamo inneggiare all’uomo che tiene il volante, la cui asta ideale attraversa la Terra, lanciata a corsa, essa pure, sul circuito della sua orbita.
6. Bisogna che il poeta si prodighi, con ardore, sfarzo e munificenza, per aumentare l’entusiastico fervore degli elementi primordiali.
7. Non v’è più bellezza, se non nella lotta. Nessuna opera che non abbia un carattere aggressivo può essere un capolavoro. La poesia deve essere concepita come un violento assalto contro le forze ignote, per ridurle a prostrarsi davanti all’uomo.
8. Noi siamo sul promontorio estremo dei secoli!... Perché dovremmo guardarci alle spalle, se vogliamo sfondare le misteriose porte dell’Impossibile? Il Tempo e lo Spazio morirono ieri. Noi viviamo già nell’assoluto, poiché abbiamo già creata l’eterna velocità onnipresente.
9. Noi vogliamo glorificare la guerra – sola igiene del mondo – il militarismo, il patriottismo, il gesto distruttore dei libertarî, le belle idee per cui si muore e il disprezzo della donna.
10. Noi vogliamo distruggere i musei, le biblioteche, le accademie d’ogni specie, e combattere contro il moralismo, il femminismo e contro ogni viltà opportunistica o utilitaria.
11. Noi canteremo le grandi folle agitate dal lavoro, dal piacere o dalla sommossa: canteremo le maree multicolori e polifoniche delle rivoluzioni nelle capitali moderne; canteremo il vibrante fervore notturno degli arsenali e dei cantieri incendiati da violente lune elettriche; le stazioni ingorde, divoratrici di serpi che fumano; le officine appese alle nuvole pei contorti fili dei loro fumi; i ponti simili a ginnasti giganti che scavalcano i fiumi, balenanti al sole con un luccichio di coltelli; i piroscafi avventurosi che fiutano l’orizzonte, le locomotive dall’ampio petto, che scalpitano sulle rotaie, come enormi cavalli d’acciaio imbrigliati di tubi, e il volo scivolante degli aeroplani, la cui elica garrisce al vento come una bandiera e sembra applaudire come una folla entusiasta.9

Passend zu den eher politisch, als poetologisch wirkenden Grundsätzen des Futurismus ist die beliebteste Textform der Futuristen das Manifest. Die ersten futuristischen Manifeste werden verteilt und verkündet, noch bevor es überhaupt eine nennenswerte künstlerische Produktion der Futuristen gibt,10 und auch in den folgenden Jahren, in denen die futuristischen Künstler in verschiedenen Bereichen Kunstwerke hervorgebracht haben, scheint die Produktion von Manifesten die von Kunstwerken weiterhin zu übersteigen.11

Dieses Mißverhältnis ist jedoch nur ein scheinbares. Ein Blick auf die Ziele zunächst des Futurismus, letztlich aber aller Avantgarden, macht dies deutlich: Die Vorreiterrolle, die die Avantgarden einnehmen wollen, bezieht sich nicht nur auf die Kunst, sondern auch auf das Leben. Die zwei Pole, zwischen denen die Bewegung der Avantgarden stattfindet, sind eine neue Kunst auf der einen Seite und ein neuer Mensch auf der anderen Seite. In einer dialektischen Bewegung zwischen den Bereichen der künstlerischen Fiktion und der Alltagswelt, welche schon zu Beginn der künstlerischen Identitätssuche als entgegengesetzte, unvereinbare Bereiche auftauchen, versuchen die Avantgarden zur Synthese im Hegelschen Sinn zu kommen: zu einer Verbindung von der Welt der Kunst und der Alltagswelt, von Künstler und Kunstwerk, in einer Verschmelzung von Kunst und Leben, die nicht nur die alte Trennung der beiden Bereiche aufhebt, sondern in einem Dritten die beiden Antithesen übersteigt. «Die Manifeste sollen nicht mehr vom Kunstwerk geschieden werden, ihre Form verweist vielmehr darauf, daß sie sich an der Grenze zwischen Kunstwerk und außerkünstlerischer Realität ansiedeln, daß man den Status des autonomen Kunstwerks in Frage stellt und das Manifest eine Brücke von der Kunst zum Leben schlagen soll.»12 Die Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts versuchen eine Versöhnung der beiden Bereiche, scheitern aber meist in irgendeiner Form an ihr – die Protagonisten der deutschsprachigen Künstlerromane stellen eine literarische Reflexion jener Unvereinbarkeit von Kunst und Leben dar.13 Die Protagonisten der europäischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchen, einen anderen Weg zu beschreiten. Sie legen weder die Orientierung an der Antike zugrunde, in der die Klassizisten die naive Einheit und Harmonie nicht nur von Mensch und Natur, sondern auch von Kunst und Leben sehen, noch die Rückbesinnung auf eine eigene, nationale Tradition, die der Identitätsstiftung dienen und damit der Entfremdung entgegenwirken soll, wie es die Romantiker tun. Im Zusammenhang mit der Krise des Subjekts und auch der Sprache zu Beginn des 20. Jahrhunderts bilden sich in Europa künstlerische Strömungen, die in der Neubewertung der bis dahin vor allem für die Literatur grundlegenden Größen, Sprache und Subjekt, nicht eine Krise der Kunst, sondern ihre Chance auf einen Neuanfang sehen.

Dieser Neuanfang ist unweigerlich verbunden mit der Frage nach der eigenen Identität als Künstler, die sich nun nicht mehr unter Berufung auf Vorbilder und Abgrenzung von diesen vollziehen kann. Fällt die Vergangenheit als Bezugspunkt weg, verbleibt die Gegenwart als Orientierungsrahmen. Sie stellt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine intellektuelle Landschaft dar, in der die Notwendigkeit neuer künstlerischer Konzepte zeitgleich an verschiedenen Orten Europas wahrgenommen wird. Und so findet ein reger Austausch der verschiedenen ‹Neuerer› statt, der am intensivsten vielleicht zwischen dem deutschen Expressionismus und dem italienischen Futurismus geschieht: Herwarth Walden, einer der bedeutendsten Motoren der expressionistischen Bewegung in Deutschland, ist zugleich auch hauptsächlich verantwortlich für die Bekanntheit der futuristischen Künstler in Deutschland.14 Die Vernetzung der avantgardistischen Akteure untereinander und die Ähnlichkeit ihrer Forderungen hat dazu geführt, daß den Avantgarden mehr als den meisten anderen künstlerischen Strömungen das Prädikat «europäisch» hinzugefügt wird, eine Vereinigung der verschiedenen Bewegungen, die zwar ihre Berechtigung hat, gleichzeitig jedoch deren Konkurrenzkampf um die Führungsrolle innerhalb des avantgardistischen Panoramas verschleiert. Daß die Vereinigung der Avantgarden zu einem europäischen Gesamtbild ein Konstrukt ist, wird schon aus den Grundsätzen ihrer Selbstwahrnehmung klar: denn ihre Suche nach neue Identitäten hat nicht nur das Ablegen aller alten zum Ausgangspunkt, sondern macht in ihrer Radikalität auch den Einfluß durch Zeitgenossen problematisch. Der Gedanke vom Start bei einem als absoluter Ursprung gesehenen Moment ist unweigerlich verbunden mit dem Anspruch auf Originalität und Exklusivität – ein Anspruch, den die öffentlichen Auftritte der avantgardistischen Künstler durch Aggressivität und kämpferisches Gebaren einzulösen versuchen und der auch in der Auseinandersetzung mit anderen Avantgardisten behauptet wird.

Die folgenden Briefausschnitte legen ein deutliches Zeugnis davon ab, daß selbst die symbiotische Zusammenarbeit im Kampf um den Erfolg der avantgardistischen Strömungen, wie sie Walden und Marinetti betrieben haben, nicht ohne Konkurrenz und Reibereien vonstatten gehen konnte:

Brief von F.T. Marinetti an H. Walden, 15.11.1912

Liebster Walden,
Wir sind sehr verärgert über Dich, weil Du uns nicht über die diversen Futuristenausstellungen unterrichtet hast, die Du mit Dr. Borchardt organisiert hast. Es wäre sehr hilfreich gewesen, auch im Interesse dieser Ausstellungen. Wir sind darüber hinaus äußerst ärgerlich, weil Du in Deinem Vortrag die Futuristen mit den Expressionisten und anderen, die mit unserer Bewegung gar nichts zu tun haben, in einen Topf geworfen hast.15

Döblin an Marinetti in Der Sturm, Nr. 150/151 (1913):

Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F.T. Marinetti
[...]
An der Ehrlichkeit Ihrer Bemühungen ist kein Zweifel; aber ich finde es bedauerlich für Sie, daß Sie dauernd Mauern vor sich sehen müssen, daß Sie immer anrennen müssen und Ihnen nicht die Leichtigkeit des reinen untheoretischen Dichters gegeben ist, der die Mauern überfliegt. Sie werden vergeblich Ihre Überredungsgabe an uns verschwenden, die selbst schreiben. Man erzielt Plastik, Konzentration und Intensität auf viele Weisen; Ihre Weise ist sicher nicht die beste, kaum eine gute. Bemühen Sie sich, und lernen sie bei uns!
[…] Aber vergessen Sie nie, daß es keine Kunst, nur Künstler gibt, daß jeder auf seine Weise wächst, daß einer behutsam mit dem andern umspringen muß. Es gibt keine literarischen Massen- und Universalartikel. Was man sich nicht selbst erobert, bleibt verloren. Gehen Sie nicht weiter auf Herdenzüchtung aus; es gibt viel Lärm dabei und wenig Wolle. Bringen Sie Ihr Schaf ins Trockne. Pflegen Sie Ihren Futurismus.
Ich pflege meinen Döblinismus.16

Brief von Arno Holz an Herwarth Walden, 12.03.1912

Sehr geehrter Herr Walden,
Warum «Futuristen»? Ich habe die Entstehung dieser neusten kindlichen Spitzmarke – ihr Urvater, wie sie wissen, war Marinetti aus Mailand – von ihrer ersten Phase ab zufällig verfolgen können und versichere Ihnen wahrheitsgemäß, daß ich noch selten mich so von innen heraus über etwas «gaudiert» habe. Es ist mir unbegreiflich, wie Künstler, die doch wissen sollten, daß alle Kunst schon seit zehntausenden von Jahren, seit allem Anfang und bis in allen Beschluß, sagen wir eine Schießmaschinerie – ich weiß, sie ist für die meisten «mit Verlaub» nur eine Scheißmaschinerie – auf ein und dasselbe Ziel eingestellt ist, sich «Fsten» schimpfen können! Sache der Geschmacklosigkeit. Um Übrigen bleibe ich dabei: Ihr Kokoschka in Ehren, aber Leute wie Velasquez und Dürer scheinen mir durch ihn noch absolut nicht in den Schatten gestellt zu sein!17

Der Kampf um die Vorrangstellung innerhalb der verschiedenen avantgardistischen Strömungen ist eng verknüpft mit einem zentralen Anliegen derselben: der schon genannten Verschmelzung von Kunst und Leben. Diese Verschmelzung von Kunst und Leben ist freilich kein neuer Gedanke, sondern begegnet häufig in den poetologischen Reflexionen um 1800, so z. B. in den Schriften Friedrich Schlegels:

Das gesamte Leben und die gesamte Poesie sollen in Contract gesetzt werden; die ganze Poesie soll popularisirt werden und das ganze Leben poetisirt. (Ideen zu Gedichten, Nr. 1350)
Poesie muß und kann ganz mit dem Leben verschmelzen. (Ideen zu Gedichten, Nr. 1800)18

War die scheinbare Unvereinbarkeit von Kunst und Leben und deren geforderte Vereinigung im 18. und 19. Jahrhundert bezogen auf die Existenz des einzelnen Künstlers, so stellen sich die Avantgarden dieses Problem in einem anderen Bezugsrahmen. Ihnen geht es nicht mehr um das Aussöhnen der beiden Lebensbereiche für den einzelnen Künstler, der nur so zu einer in sich ruhenden Existenz gelangen kann. Es geht vielmehr darum, die Grundüberzeugungen der Avantgarden ausgehend von der Kunst auf alle Bereiche des menschlichen Daseins zu übertragen. Daraus erklären sich auch die futuristischen Manifeste, die sich mit Alltagsbereichen wie Mode und Küche befassen19 – sie entstehen aus dem Wunsch heraus, die zunächst künstlerischen Überzeugungen des Futurismus auf alle Lebensbereiche zu transferieren.

Die Identität der Avantgarden definiert sich folglich nicht zuletzt über deren Popularität und Präsenz in der Öffentlichkeit, die nicht nur durch das effektvolle Verteilen von Manifesten erreicht wird20, sondern auch über Soiréen, Ausstellungen und öffentliche Diskussionen. Filippo Tommaso Marinetti und Herwarth Walden sind für den Futurismus und den Expressionismus die bedeutendsten Protagonisten dieser Öffentlichkeitsarbeit. Walden gründet verschiedene Kunstvereine: zunächst schon 1901 das Cabaret für Höhenkunst Teloplasma, das eine Zusammenführung der verschiedenen Künste fordert sowie den direkten Kontakt zwischen Künstler und Publikum herstellen will; es hat hierin große Ähnlichkeit mit dem Konzept des teatro di varietà der Futuristen. 1904 folgt der Verein für Kunst, der vor allem Autorenabende organisiert, gefolgt von Der Sturm 1909, wobei es sich um eine Galerie und eine Zeitschrift gleichen Namens handelt. Ziel aller von Walden gegründeten Vereine ist die Verbreitung der modernen, zeitgenössischen, neuen Kunst, wobei Walden selbst mehr als Promotor, denn als Autor in Erscheinung tritt, wenngleich auch von ihm wichtige Schriften entstanden sind.21 So hat er wohl auch maßgeblich zur Verbreitung des deutschen Wortes «Expressionismus» beigetragen, das in Frankreich schon 1901 im Zusammenhang mit einer Ausstellung im Salon des Indépendents belegt ist, in Deutschland aber erst 1911 bei einer Ausstellung der Berliner Secession mit Bildern von Picasso, Braque u.a. auftaucht.22 «Expressionismus» ist dabei zunächst eine allgemeine Bezeichnung für all diejenigen neuen Strömungen, die mit dem Alten und den Traditionen brechen wollen. Dieser Bruch wird zunächst darin gesehen, daß als Ziel der Kunst nicht mehr die Abbildung der äußeren Realität gilt, sondern die Wiedergabe einer subjektiven Stimmung. Ab 1917 wird die Bezeichnung «Expressionisten» zur Selbstbezeichnung und zum Gruppenname, wobei die Monographie von Hermann Bahr aus dem Jahr 1916 mit dem Titel «Expressionismus» eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Auch Marinetti ist ab 1903 zunächst Herausgeber der Zeitschrift Poesia, nutzt aber auch die später entstandene Zeitschrift Lacerba zwischen 1913 und 1915 vermehrt zum Zweck der Verbreitung futuristischer Ideen, nachdem eine Annäherung zwischen den Herausgebern von Lacerba, Giovanni Papini, Ardengo Soffici und Aldo Palazzeschi, und Marinetti stattgefunden hatte.23 Die künstlerische Strömung des Futurismus gründet Marinetti schon im Jahr 1908 in Mailand, noch vor der Entstehung des ersten futuristischen Kunstwerks. Schon in der Geburtsstunde des Futurismus zeigt sich, daß die futuristische Bewegung vor allem auf Propaganda angelegt ist. Die provokativen Parolen und Grundlagen des Futurismus und damit seine Theorie sind der künstlerischen Produktion vorgängig und von größerer Wichtigkeit als die Kunst selbst. Der «Futurismus» als Bezeichnung ist im Gegensatz zu den meisten anderen Strömungs- und Epochenbezeichnungen der Literaturgeschichte ein selbst gegebener Name, er ist Programm: Marinetti reklamiert die Bezeichnung «Avantgarde» für sich und seine Bewegung und gibt damit nicht nur den dem Futurismus ähnlichen zeitgenössischen Strömungen einen Namen, der ihnen erhalten bleiben soll, sondern nimmt für sich die Rolle eines Vorreiters und damit einer Führungsfunktion in Anspruch, nicht zuletzt bezüglich der zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu zu definierenden künstlerischen Identität.

Die Öffentlichkeitsarbeit ist in beiden Fällen, dem Expressionismus wie dem Futurismus, auf Provokation angelegt, und auch der kurz später einsetzende Dadaismus (1916–1925) macht die Provokation des vornehmlich bürgerlichen Publikums zu seinem Markenzeichen, wie dies beispielhaft an den ersten dadaistischen Manifesten zu sehen ist:

Richard Huelsenbeck: Dadarede, gehalten in der Galerie Neumann, Berlin, Kurfürstendamm, am 18. Februar 1918:

Meine Damen und Herren,
ich muß Sie heute enttäuschen, ich hoffe, daß Sie es mir nicht allzu übel nehmen. Aber wenn Sie es mir übel nehmen, ist es mir auch egal. Wir sind hier für eine Dichterlesung zusammengekommen. Sie wollen einige Dichter hören, wie sie sich präsentieren und ihre Verse vortragen. Die Dichter sind Träger der Kultur und Sie wollen die Kultur absorbieren. Sie haben viel Geld gezahlt, um die Kultur absorbieren zu können. Aber ich muß Sie, wie gesagt, enttäuschen. Ich habe mich entschlossen, diese Vorlesung dem Dadaismus zu widmen. […]
Bitte bleiben Sie ruhig, man wird Ihnen keine körperlichen Schmerzen bereiten. Das einzige, was Ihnen passieren könnte, ist dies: daß Sie Ihr Geld umsonst ausgegeben haben. In diesem Sinne, meine Damen und Herren. Es lebe die dadaistische Revolution.24

Walter Serner: Letzte Lockerung manifest:

1.
Um einen Feuerball rast eine Kotkugel, auf der Samenseidenstrümpfe verkauft und Gaugins geschätzt werden. Ein fürwahr überaus betrüblicher Aspekt, der aber immerhin ein wenig unterschiedlich ist: Seidenstrümpfe können be-griffen werden. Gaugins nicht. (Bernheim als prestigieuser Biologe zu imaginieren.) Die tausend Kleingehirn-Rastas embêtantester Observanz, welche erigierten Bourgeois-Zeigefingern Feuilletonspalten servieren (o pastoses Gepinkel!), um Geldflüsse zu lockern, haben dieserhalb Verwahrlosungen angerichtet, die noch heute manche Dame zu kurz kommen lassen, (Man reflektiere drei Minuten über die Psychose schlecht behandelter Optik; klinisches Symptom, primär: Unterschätzung der Seidenstrümpfe; sekundär: Verdauungsbeschwerden.)25

Provokation und Dynamik sind sowohl innerhalb der Manifeste als auch bei öffentlichen Auftritten die auffälligste gemeinsame Basis der avantgardistischen Strömungen.

Die Gemeinsamkeiten der Avantgarden reichen jedoch tiefer. Eine grundlegende Überzeugung, die alle Strömungen teilen, ist die Ablehnung der traditionellen Kategorien von Kunstproduktion. Die schon seit mehr als einem Jahrhundert umstrittene imitatio nicht nur von auctores, sondern der Natur und damit die Abbildung der Realität ganz allgemein werden letztgültig abgelehnt, ebenso wie Idee der Organizität des Kunstwerks und der damit verbundenen Unterordnung der Teile unter ein Ganzes.26 Das Aufgeben der Vorstellung vom Kunstwerk als geordnetem Ganzen hängt zusammen mit Veränderungen, die sowohl die Wahrnehmung der Welt, als auch die Wahrnehmung des Subjekts betreffen. Nicht zuletzt durch die Entwicklungen auf dem Gebiet der Psychologie und Psychoanalyse ist die kleinste Einheit, nämlich die des Subjekts, fragwürdig geworden – seine Aufteilung in ein Unterbewußtsein, ein Ich und ein Über-Ich, die sich zum Großteil der Rationalität entziehen, hat weitreichenden Folgen für die Erkenntnistheorie und die Phänomenologie. Hatten sich schon die Romantik und die ihr nachfolgenden Strömungen mit den dunklen Seiten der Seele und der Phantasie beschäftigt, so steigt gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Interesse an parapsychologischen Phänomenen, Wahrheit und Wahrnehmung derselben werden problematisiert und relativiert. Doch nicht nur die Fortschritte auf dem Gebiet der Psychologie, sondern auch der Technik spielen eine große Rolle. Symptomatisch für die Veränderung der (Selbst-)Wahrnehmung durch die Fortschritte moderner Technik ist hier die Bedeutung, die der Überquerung des Ärmelkanals durch Louis Blériot am 25.07.1909 beigemessen wurde, sowie die Begeisterung vieler Künstler anläßlich des ersten internationalen Flugtages im September 1909 in Brescia.27 Das futuristische Gründungsmanifest legt hiervon ein eindrucksvolles Zeugnis ab, wenn im Rausch der Geschwindigkeit die antike Siegesgöttin ersetzt wird durch das Automobil. Die Erotisierung und religiöse Aufladung der Technik führt zum Ideal des mit der Maschine verschmolzenen Übermenschen, zentrale Momente der christlichen Religion wie die Wiederauferstehung werden in Zusammenhang gebracht mit der Geburt eines neuen Menschen aus der Verschmelzung von Mensch und Technik.28 Die neuen Errungenschaften der modernen Technik bilden die Grundlage für ein neues Menschenbild, das die Gottesebenbildlichkeit nicht aufgrund des dem Menschen gegebenen Intellekts für sich reklamiert, sondern mit dem Bild des Menschen als Herr über die Maschinen dessen Aufstieg zum Herr der Welt vollzieht. Der Kampf gegen das Vergangene wird im Futurismus zu einem Kampf gegen das Schwache, das die Vereinigung mit der Technik noch nicht durchgeführt hat.

Doch hat die Ermächtigung des Menschen durch Technik auch noch eine zweite, weitaus wichtigere Seite, nämlich eine Veränderung der Wahrnehmung, die vor allem durch Geschwindigkeit gekennzeichnet ist und ganz neue Anforderungen an die menschlichen Sinne stellt. Sie, die im 18. Jahrhundert als Organe der sinnlichen Wahrnehmung immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, und als Werkzeuge der Phantasie einen mächtigen Gegenspieler zur Vernunft bilden, müssen sich nun mit ganz neuen Möglichkeiten der Wahrnehmung, wie sie beispielsweise der Flug in einem Flugzeug darstellt, und mit einer erhöhten Geschwindigkeit, mit der die Sinneseindrücke auf sie eindringen, auseinandersetzen. Diesem Phänomen versuchen Expressionismus und Futurismus in ähnlicher Weise gerecht zu werden, indem die Simultaneität verschiedener, auf die Sinnesorgane eindringender Reize, künstlerisch dargestellt werden soll.

Die Konsequenz aus dieser Umwertung der bestehenden Sicht auf die Welt durch neue technische Möglichkeiten und auf den Menschen durch die Erkenntnisse der Psychologie, die die Künstler der Avantgarden ziehen, ist eine Abwendung der Kunst von der Realität, die in ihrer Objektivität in Frage gestellt wird, und eine Hinwendung zum Subjektiven. Diese Hinwendung zum Subjektiven vollziehen die Künstler des Dadaismus am radikalsten, wenn sie ein Kunstwerk fordern, das der vollkommene Ausdruck des künstlerischen Ich ohne jegliche Fremdbestimmung sein soll. Die Rede vom «neuen Menschen»,29 von dem alle Avantgarden sprechen, wird begleitet von Ideen der Erneuerung und der Revolution, die vor allem im Expressionismus von innen kommen soll, sowie vom Ideal eines neuen Lebens, das die Bereiche von Architektur, Wohnen, Mode u.a. umfaßt.

Anstelle der Welt, die es in der Kunst abzubilden gilt, ist nun das Subjekt getreten, das allerdings weniger als Subjekt und damit als Erscheinung abgebildet werden soll, sondern dessen Wahrnehmung und Empfindung im Vordergrund steht. Für Walden ist Kunst Religion, innere Vision, Weltanschauung, die nicht im Intellekt, sondern im Gefühl gründet:

Die Kunst und die Tatsache sind zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben. Der Wert der Kunst für die Menschen besteht nicht darin, die Kunst zu werten, er besteht darin, die Kunst zu fühlen. Das Gefühl kann nicht erlernt werden, aber man kann es bilden. […] Der Künstler schafft nicht den Ausdruck von außen, er schafft den Ausdruck von innen. Er kann den Eindruck von außen empfangen. Wie der Liebende, der Hassende, der Freudige, der Traurige. Aber dadurch, daß er diesen Eindruck einfach sagt oder erzählt, ist nie eine Wirkung entstanden. Der Liebende versuche einmal, zu erklären, warum er liebt. Oder warum er haßt. Der andere wird nur hören, daß er liebt oder haßt. Der Künstler, der meine Geliebte oder meinen Freund malt, malt sie nur für mich. Er muß die Liebe und den Haß malen, wenn alle die Wirkung der Triebe empfinden sollen. […]
Das Bild ist die Schönheit der Fläche. Das Bild ist, wie jedes Kunstwerk, ein Ganzes, ein Unteilbares. Es hat keine Vordergrund und meinen Hintergrund. Das Bild ist alos nicht körperlich und nicht perspektivisch. Das sind Vortäuschungen. Weder Vortäuschung noch Nachahmung können aber Sinn der Kunst sein.
Das Bild muß des Bildes wegen gesehen werden.
Wir empfinden die Musik, aber können sie nicht verstehen. Sie bewegt uns, sie zwingt uns, aber sie sagt nichts aus, sie erzählt uns nichts.
Nur so ist auch die Malerei zu «verstehen». […]
Mit anderen Worten: Das Nachgeahmte, also das Gegenständliche in der Malerei, ist nicht Zweck, sondern Mittel.30

Das Kunstwerk wird damit zum Ausdruck eines Ich, das nicht aus seinem Geist eine eigene Welt schafft, sondern aus seinen Empfindungen. Die Natur und damit die Welt in ihrer objektiven Existenz wird in Frage gestellt, indem die Avantgarden nicht jene, sondern das Bewußtsein zum Ausgangspunkt aller Kunst erklären:

VIII
Der Expressionismus stellt wiederum die Apriorität des Bewußtseins her. Der Künstler spricht: Ich bin das Bewußtsein, die Welt ist mein Ausdruck. Die Kunst vermittelt also zwischen Bewußtsein und Welt; oder, wenn man will, sie entsteht im Werden des Bewußtsein. So ist also die große Umkehrung des Expressionismus: das Kunstwerk hat das Bewußtsein zur Voraussetzung und die Welt zur Folge; es ist also schöpferischer, als es das impressionistische Kunstwerk sein konnte. Dort «brachte» das Kunstwerk die Welt «ins Bewußtsein»; – Der Expressionismus macht die Welt bewußt. Er apperzepiert das Weltall und führt es in das Reich des Geistes ein.
IX
Der Expressionismus stellt das Bewußtsein nicht über, aber immer in alles. Das ist seine einzige Forderung und seine einzige Methode.
Das expressionistische Kunstwerk ist nicht nur verbunden, sondern auch identisch mit dem Bewußtsein der Künstler. Der Künstler schafft seine Welt nach seinem Ebenbilde. Das Ich ist auf eine divinatorische Art zur Herrschaft gelangt.
[…]
Bewegung: Darauf kommt es an. Der Expressionismus hat die Bewegung entdeckt und weiß, daß auch die Ruhe und das Gleichgewicht und die ungeheure Trägheit der Welt und des Schicksals nur Bewegungen sind. Und es ist letzten Endes nur die Erkenntnis einer ursprünglichsten Form, wenn er von seiner Welt sagt:
Im Anfang war Bewegung. Denn auch das Wort ist Bewegung, und im Anfang war das Wort!
(Paul Hatvani: «Versuch über den Expressionismus», in: Die Aktion, 1917)31

Der Künstler, der als Schöpfer auftritt, ist nun freilich kein neuer Gedanke, sondern hat seine europäischen Wurzeln in der Antike, wobei der Pygmalion-Mythos eine Kondensation und narrative Ausarbeitung dieses Gedankens darstellt. Die Analogie einer Schöpfung, wie sie das Johannesevangelium erzählt («Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.», Joh.1.1), mit der Schöpfung eines dichterischen Werks, die im Erschaffen durch Worte begründet liegt, erhält bei Hatvani eine neue Wendung: Das Wort wird mit Bewegung gleichgesetzt und damit die Schöpfung nicht zum Auslöser der Bewegung des Universums, dessen «unbewegter Beweger» das in sich ruhende Gegenteil aller bewegten Schöpfung darstellt. Die Bewegung wird vielmehr als sowohl dem Schöpfer, als auch der Schöpfung inhärent verstanden, der Dynamismus der modernen Avantgarden zum Weltprinzip erklärt. Sollen die Avantgarden, wie Hatvani es fordert, die Welt bewußt machen, und ist Bewegung die Grundlage aller Existenz, so wird verständlich, warum die Teilhabe an dieser Bewegung Voraussetzung und Ziel der avantgardistischen Kunst ist. Zur Teilhabe an der Bewegung sollen nun auch die Rezipienten von Kunst gezwungen werden, indem ihnen nicht mehr gestattet wird, als passive Konsumenten von Kunst aufzutreten. Kunstgenuß soll intensives Erleben, Erleben mit allen Sinnen, bedeuten, soll ein Erwachen aus der Erstarrung des Bewußtseins erzwingen. Die öffentlichen Auftritte sowohl der Futuristen bei den serate futuriste oder der Dadaisten bei ihren Abenden erhalten so eine metaphysische Grundlage, die der Überzeugung von der Apriorität des Bewußtseins und der Bewegung als Grundform des Kosmos Rechnung trägt. Die Konzepte des Cabaret und des Varieté, die das Involvieren des Zuschauers vorsehen, erscheinen vor diesem Hintergrund weniger als der Wunsch einiger egozentrischer Avantgardisten nach Beachtung, notfalls mittels Provokation, sondern sind logische Konsequenz einer Grundüberzeugung der neuen Kunstströmungen.

Die Erneuerung von Mensch und Kunst ist somit auch und vor allem eine Erneuerung der Formensprache in den Künsten. Sie zeigt sich in der Malerei durch den Versuch, Dynamik und Bewegung darzustellen sowie Empfindungen abzubilden. Es entstehen Kunstwerke wie Dinamismo di un cane al guinzaglio (1912) von Giacomo Balla, ein Gemälde, das sich inspiriert an den Experimenten mit der neuen technischen Errungenschaft der Photographie, wie sie beispielsweise Muybridge durchführt.32 Diese Experimente erlauben es, Momente eines dynamischen Ablaufs sichtbar zu machen, die zuvor verborgen waren, und vollziehen damit eine Erneuerung der Wahrnehmung: wurden zuvor auch Figuren in Bewegung in einem statischen Moment dieser Bewegung festgehalten, so gelingt es nun, in einer simultanen Darstellung verschiedener zeitlich aufeinanderfolgender Momente, den Ablauf der Bewegung festzuhalten und somit Bewegung selbst sichtbar zu machen. Die Abbildung der Realität wird zur Abbildung von Bewegung. Auch die Abbildung von Empfindungen, wie es Umberto Boccioni in vielen seiner Gemälde, wie z.B. La strada entra nella casa (1911) versucht, ist gekennzeichnet von einer Dynamisierung der Motive, die in plastisch verzerrter Weise dargestellt werden und denen unnatürlich kräftige und damit bewegt-aggressive Farben gegeben werden.

In der Literatur vollzieht sich die von den Avantgarden angestrebte Erneuerung vor allem durch die Befreiung von alten Formen, wie dem Reim und dem Vers und in einem weiteren Schritt sogar der grammatischen Regeln, und durch die Einführung neuer Formen, wie zum Beispiel dem stream of consciousness. Der stream of consciousness gibt der Sprache der Prosa ein Instrument an die Hand, mit dem innere Vorgänge scheinbar ungefiltert, vor allem aber in ihrer Dynamik abgebildet werden können. Die nicht durch einen Erzähler vermittelten, inneren Vorgänge stellen aber nicht nur die Fiktion unzensierter Innerlichkeit dar, sondern verdeutlichen eine Überzeugung, die Anfang des 20. Jahrhunderts von den Linguisten des Formalismus und Strukturalismus geteilt wird: die der Arbitrarität der Bedeutung sprachlicher Zeichen. Indem dem Wort keine ihm untrennbar angehörende Bedeutung mehr zugesprochen wird, sondern die Sprache als ein willkürliches System von Zeichen, als Codesystem, begriffen wird, muß zugleich seine Abbildungsfunktion in Frage gestellt werden. Sprache ist nicht länger ein dem Menschen von höherer Macht gegebenes Instrumentarium, mit dem er sich, Ciceros Überzeugungen folgend, von anderen Lebewesen unterscheidet, sondern ein System, das nur per conventionem Gültigkeit hat. Die Erkenntnis der Welt im Medium der Sprache wird jedoch nicht nur durch die Relativierung der Zusammengehörigkeit von Zeichen und Bezeichnetem problematisch: Durch Einsteins Veröffentlichung zunächst der speziellen Relativitätstheorie im Jahr 1905 sowie der allgemeinen Relativitätstheorie im Jahr 1916 verlieren die Kategorien von Zeit und Raum ihre Funktion als objektiv gültige Ordnungsstrukturen,33 wodurch in der Folge die Möglichkeit sicheren Wissens überhaupt in Frage gestellt wird.34 Die Sprache wird so zu einem Zeichensystem, dem zunehmend die Referenz in der Wirklichkeit abhanden kommt. Diese Erkenntniskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts erscheint beinahe als eine späte Annäherung der Erkenntnistheorie an eine Tendenz, die der europäische Roman schon länger aufweist. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Bedeutung des Erzählers zunehmend reduziert: von einer Instanz, die dem Leser die Welt des Romans deutet und seine Rezeption lenkt, verkümmert der Erzähler zunehmend zu einem neutralen Berichterstatter, bis er in den Texten des Naturalismus und des verismo weitestgehend verschwindet. Der Leser ist also zunehmend mit dem Protagonisten als Subjekt konfrontiert, dessen Weltdeutung die einzige ist, die der Roman anbietet. Tritt der Erzähler auf, dann meist wiederum als ein Subjekt, das seine, vom Protagonisten oftmals ironisch distanzierte Weltanschauung als Alternative anbietet, ihre Subjektivität aber durch eine stark auktoriale Prägung verdeutlicht. Doch auch die Darstellung eines Subjekts, die das zentrale Anliegen des Romans ist, erweist sich als problematisch in dem Moment, in dem durch die neueren Erkenntnisse der Psychologie und die Entstehung der Psychoanalyse sowohl die Einheit der Person, als auch die Herrschaft des Bewußtseins und des Intellekts in Zweifel gezogen werden, indem das Subjekt als ein Zusammengesetztes erscheint. Der Zersplitterung der Welt wird eine Zersplitterung des Subjekts an die Seite gestellt, so daß Wirklichkeit und Charakter, die bislang die Grundlagen der abendländischen Literatur waren, zu einem derart vielschichtigen Gebilde werden, daß eine Abbildung unmöglich erscheint. Die Wahrheit wird von einer objektiven Größe zur subjektiven Wahrnehmung reduziert.

Damit ist der Schritt vollzogen zu einer Sprache, die nur noch das innere Empfinden transportieren kann und die nur in der Darstellung eines subjektiven Eindrucks wahrhaftig ist, ein Schritt, den der Expressionismus reflektiert, wenn Hatvani feststellt: «Im Expressionismus überflutet das Ich die Welt.»35

Diesem zersplitterten, modernen Bewußtsein, auf das simultan verschiedenste Sinneseindrücke einwirken, kann eine geordnete, lineare, grammatisch korrekte Sprache nicht mehr angemessen sein. Gerade im Umfeld der Avantgarden tauchen nun sprachliche Experimente auf, die versuchen, über die Grenzen der bisherigen Sprache hinauszugehen und die Welt neu erfahrbar zu machen. Zu nennen sind hier zunächst beispielsweise die Figurengedichte Apollinaires, die auf antike und barocke Spielereien zurückgreifen und der Sprache durch ihre bildhafte Form zusätzliche Sinnesreize geben. Die Experimente mit der Sprache, wie sie in den Manifesten der Futuristen gefordert werden, nehmen immer radikalere Züge an, wenn zuerst die Befreiung von den Regeln der Syntax, der Grammatik und schließlich von der Logik gefordert wird.

So spricht sich der Futurist Gian Pietro Lucini in Der freie Vers (Il verso libero «Proposta», 1908) zunächst für eine Konzentration auf das Wort, auf seine Bedeutung, auf seine Aura aus:

Unser Stil mußte sich in diesem Sinne wie eine leuchtende Bewegung der Substanz ausdrücken und hell erstrahlen. Deshalb nahmen die Worte eine besondere und unterschiedliche Bedeutung je nach der Stelle an, die sie in der Rede innehatten. Sie erhellten oder verdunkelten sich von Mal zu Mal nach unserem Belieben, je nachdem, in welcher Nachbarschaft sie sich befanden. Sie änderten Geschmack und Farbe je nach den verschiedenen Rapporten, die auf sie einwirkten oder die sie anziehend ausstrahlten. So war das Spiel der Nuancen, der wechselseitigen Zergliederungen, der verschiedenen Stellungen, die sie im Schriftsatz einnahmen. So hob sich unsere Syntax ab, die keine festgesetzte Norm für jemanden war, der den Wunsch hat, schreiben zu können. Dieser respektierte die morphologischen Grundlagen des eigenen Idioms und seine Funktionen und leitet aus ihm alle Sekundäraktionen ab, wodurch es ihm möglich wurde, den Ausdruck der eigenen Schönheit zu erreichen.
[…]
Wir wollten einen vom asthmatischen Atem, vom lahmen Gang und vom keuchenden Galopp befreiten Satz; einen freien, kühnen, sprudelnden, bilderreichen, telegraphischen Satz, je nach dem Gedanken, den er einschließen sollte. In ihm teilen die gut gebauten Redewendungen jedem Wort einen unveränderlichen Platz zu, so daß ein einfaches Bindewort nicht weggelassen werden kann, ohne seine Gesamtwirkung zu schmälern, ohne daß man sein Fehlen merkte.36

Bereits deutlich radikaler geht Marinetti vor, wenn er nicht nur die parole in libertà fordert, sondern im Technischen Manifest der futuristischen Literatur eine völlige Aufgabe aller grammatischen Strukturen propagiert:

Manifesto tecnico della letteratura futurista
11 maggio 1912

1. Bisogna distruggere la sintassi disponendo i sostantivi a caso, come nascono.
2. Si deve usare il verbo all’infinito, perché si adatti elasticamente al sostantivo e non lo sottoponga all’io dello scrittore che osserva o immagina. Il verbo all’infinito può, solo, dare il senso della continuità della vita e l’elasticità dell’intuizione che la percepisce.
3. Si deve abolire l’aggettivo, perché il sostantivo nudo conservi il suo colore essenziale. L’aggettivo avendo in sé un carattere di sfumatura, è inconcepibile con la nostra visione dinamica, poiché suppone una sosta, una meditazione.
4. Si deve abolire l’avverbio, vecchia fibbia che tiene unite l’una all’altra le parole. L’avverbio conserva alla frase una fastidiosa unità di tono.
5. Ogni sostantivo deve avere il suo doppio, cioè il sostantivo deve essere seguito, senza congiunzione, dal sostantivo a cui è legato per analogia. Esempio: uomo-torpediniera, donna-golfo, folla-risacca, piazza-imbuto, porta-rubinetto. Siccome la velocità aerea ha moltiplicato la nostra conoscenza del mondo, la percezione per analogia diventa sempre più naturale per l’uomo. Bisogna dunque sopprimere il come, il quale, il così, il simile a. Meglio ancora, bisogna fondere direttamente l’oggetto coll’immagine che esso evoca, dando l’immagine in iscorcio mediante una sola parola essenziale.
6. Abolire anche la punteggiatura.37

Marinetti selbst liefert mit Gedichten wie Dune (1914) Beispiele für eine solche, von allen sprachlichen Regeln befreite Lyrik, die sich nicht nur in ihrer klanglichen Qualität an die Musik annähert, sondern auch im Druckbild mehr der Partitur eines Orchesterstücks, als einem Gedicht gleicht:

Marinetti_Dune_Auszug

F. T. Marinetti, Dune (1914)38

In diesem Verständnis von Sprache soll die Bedeutung nicht mehr durch den fragwürdig gewordenen Verweis eines Zeichens auf das von ihm Bezeichnete entstehen, sondern durch die deutlich weniger Regeln gehorchenden, sondern viel eher subjektiven Assoziationen.

Die Zerstückelung der Sprache, die Auflösung ihrer Bedeutung und schließlich das Verschwimmen der Grenzen von Sprache und Musik wird von den Dadaisten am radikalsten vollzogen: In ihren Texten wird nicht einmal mehr das Wort als Bedeutungseinheit und Sinnträger beibehalten, sondern der einzelne Laut in seiner Musikalität als kleinste Einheit der Sprache in den Vordergrund gestellt.

Ball_Karawane

Hugo Ball, Karawane (1917)39

Die von ihrer herkömmlichen Bedeutung losgelöste Sprache, die somit zunächst ihre Funktion als Medium der Kommunikation verliert, ist die letzte Konsequenz nicht nur des Spiels mit der Sprache, sondern auch der Ablehnung von Traditionen, die sich zum einen durch die Sprache vermitteln, die Sprache aber zum anderen auch im Laufe der Zeit durchtränken und sich in deren Konnotationen festsetzen. Die Neuschaffung des Menschen und der Sprache soll bei Dada ausgehen von einem Nullpunkt, vom Nichts. Diese Suche nach einem absoluten Neuanfang spiegelt sich im Namen der Bewegung wider: Dada ist in der deutschen Sprache intuitiv assoziiert mit dem ersten Lallen eines Säuglings, der sich in die Sprache erst noch einfinden muß. Mit Dada ist die Literatur gewissermaßen an einem Nullpunkt der Sprache angelangt.

Auf der Suche nach einer neuen, eigenen Identität ist die Grenzüberschreitung in der Überschreitung des Erwartungshorizonts Merkmal jeder Weiterentwicklung in der Kunst und in besonderem Maß ein zentrales Moment der Aktivitäten der Avantgarden. Sie führen nicht nur die Grenzüberschreitung zu einem neuen Höhepunkt, sondern legen diese innere Notwendigkeit, die Struktur geschichtlichen Fortschritts, bloß. Damit wird eines der Verfahren von Kunst als solches deutlich und in der absichtlichen Provokation sogar überdeutlich gemacht. Ist die Grenzüberschreitung allerdings zum Stilmittel der neuen, dynamischen Kunst erhoben, so werden in rasantem Tempo immer neue Überschreitungen erforderlich, da die Provokation des Moments der Überraschung bedarf. Dada will in der totalen Negation jeder Normierung, Autorität, Ordnung und Tradition einen neuen état d’esprit erreichen, der gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben soll. Ihre Parole «Alles ist Dada»40 ist die letzte Konsequenz einer Neuschaffung der Kunst und des Menschen und zugleich ein provokativer Nihilismus, wobei Dada bedeutet:

Dada ist eine neue Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, daß bisher niemenad etwas davon wußte und morgen ganz Zürich davon reden wird. Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Französischen bedeutet es Steckenpferd. Im Deutschen: Addio, steig mir bitte den Rücken runter, auf Wiedersehen, ein ander Mal! Im Rumänischen: «Ja, wahrhaftig, Sie haben Recht, so ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir.» Und so weiter.
Ein internationales Wort. Nur ein Wort und das Wort als Bewegung. Es ist einfach furchtbar. […]
Auf die Verbindung kommt es an, und daß sie vorher ein bißchen unterbrochen wird. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andere erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen. Wenn eine Schwingung sieben Ellen lang ist, will ich füglich Worte dazu, die sieben Ellen lang sind.41

Kehren wir also zur Ausgangsfrage zurück, inwiefern sich die Avantgarden von ihren Vorgängern unterscheiden. Der Gedanke eines Gesamtkunstwerks im Sinn nicht nur einer Aufhebung der Grenzen verschiedener Kunstgattungen, sondern auch und vor allem einer Verschmelzung von Kunst und Leben taucht massiv schon um 1800 in der Romantik auf. Hier wird Kunst, nachdem im 18. Jahrhundert die christliche Religion ihre Funktion einer Deutung der Welt verloren hat, zu einer zweiten Religion, in der Versöhnung von Kunst und Leben wird wieder eine Offenbarung möglich, die den Menschen auf eine höhere Stufe der Erkenntnis führen und der Welt und dem Dasein ihre Sinnhaftigkeit verbürgen soll. Die Themen der Ästhetik gewinnen dadurch an Bedeutung über die Kunst hinaus und werden existentiell. Was in der Romantik an ästhetische Begrifflichkeiten und Theorien geknüpft ist, bezieht sich bei den Avantgarden ein Jahrhundert später auf die Form. Die Mittel der Kunst werden als solche in einer Absolutheit begriffen, die Dichotomie von signifiant und signifié als grundlegende Struktur jedes Codesystems, also auch der Kunst, erkannt. Die Konsequenz daraus schlägt sich darin nieder, daß die Avantgarden die Möglichkeiten einer totalen Revolution nicht nur in den Inhalten, sondern auch und vor allem in den Formen, im Material sehen. Sie unterscheiden sich von ihren Vorgängern nicht in ihren Überzeugungen und Zielen, sondern in deren Durchführung. Dadurch, daß Form und Inhalt voneinander getrennt werden, kann den alten Inhalten und Forderungen eine tatsächlich neue Form gegeben werden, kann der künstlerische Ausdruck als das eigentliche Potential der Kunst begriffen werden. Die eigentliche Bedeutung der Kunst wird nicht mehr in ihre Bedeutung und damit eine Transzendenz verlagert, sondern in der Immanenz des künstlerischen Materials, der Ausdrucksformen gesucht. Die europäischen Avantgarden setzen demnach in einem Moment ein, in dem sich grundlegende Änderungen nicht nur lebensweltlicher und technischer, sondern auch literarästhetischer Natur vollziehen, und führen unter diesen neuen Voraussetzungen eine Bewegung zu Ende, die im 18. Jahrhundert ihren Anfang nimmt und am Nullpunkt der Literatur im Dadaismus endet.

  1. Zur Geschichte des paragone, den in seinem Zusammenhang entstandenen Schriften und seinen Protagonisten vgl: Benedetto Varchi, Paragone – Rangstreit der Künste, italienisch und deutsch, hrsg., eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Oskar Pätschmann und Tristan Weddigen, Darmstadt 2013.
  2. Vgl. hierzu Federico Zuccaro: «L’idea de pittori, scultori et architteti», in: Ders., Scritti d’arte di Federico Zuccaro, vol. 2, a cura di Detlef Heikamp, Firenze 1961.
  3. Zur Bedeutung der Geschichtswissenschaften und der Entstehung der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert vgl. z.B. Jutta Voorhoeve, Romantisierte Kunstwissenschaft. ‹Franz Sternbalds Wanderungen› von Ludwig Tieck und die Emergenz moderner Bildlichkeit, München 2010, insbesondere Kapitel 2: Orte des Sprechens, S. 33–62.
  4. Vgl. hierzu z. B. Matthias Luserke, Sturm und Drang, Stuttgart 1997, S. 63ff. Luserke definiert die Bewegung des Sturm und Drang sogar anachronistisch als Avantgarde: «Sturm und Drang ist jene Literatur zwischen 1770 und 1780, die an sich selbst den Anspruch erhob, anders, und das heißt Avantgarde zu sein (die zeitgenössischen Bezeichnungen lauten: ‹junge Dichter›, ‹Genies›, ‹Goethe-Sekte›, ‹Originaldichter›)» (ebd., S. 10).
  5. Zum «Kraftkerl» vgl. auch die Ausführung Lavaters zum «Genie» in: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Eine Auswahl, hrsg. von Christoph Sigrist, Stuttgart 1984, S. 292–308.
  6. Vgl. hierzu z. B. Friedrich Maximilian Klinger, Die Zwillinge, Paralleldruck der Ausgaben von 1776 und 1794, hrsg. von Edward P. Harris, Tübingen 1997 [Werke, Band 2], der den Konflikt mit dem Vater ins Zentrum stellt.
  7. Ich folge mit dieser minimalistischen zeitlichen Begrenzung für die sogenannten historischen Avantgarden (italienischer und russischer Futurismus, Konstruktivismus, Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus) Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Neuausgabe, Hamburg 2009, S. 9f. sowie 14. Zur Diskussion um die zeitliche Bestimmung der Avantgarde vgl. auch Hubert van den Berg, Walter Fähnders (Hrsgg.), Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart 2009, S. 10f.
  8. Zur Genese und Bedeutung des Begriffs «Avantgarde» vgl. ebd., S. 4f.
  9. Filippo Tommaso Marinetti, Teoria e invenzione futurista, a cura di Luciano De Maria, Milano 1968, S. 10f.
  10. Vgl. Schmidt-Bergmann 2009, S. 35.
  11. Zum Verhältnis der Avantgarden zur Textgattung des Manifests vgl. die Einleitung zu: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hrsgg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Sonderausgabe, Stuttgart 2005, S. XV–XXVIII.
  12. Ebd., S. XVII.
  13. Vgl. hierzu z. B. Sabrina Krone, Popularisierung der Ästhetik um 1800. Das Gespräch im Künstlerroman, Berlin 2016.
  14. Vgl. hierzu z. B. Carmine Chiellino, Die Futurismusdebatte. Zur Bestimmung des futuristischen Einflusses in Deutschland, Frankfurt/Main 1978, S. 57–67: «Die Rolle von Herwarth Walden»; Irene Chytraeus-Auerbach: «Herwarth Waldens frühe Aktivitäten: Networking im Namen des ‹Vereins für Kunst›» in: Dies., Elke Uhl (Hrsgg.), Der Aufbruch in die Moderne. Herwarth Walden und die europäische Avantgarde, Berlin 2013, S. 13–33; sowie Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland. Über Anverwandlung und Abwehr des italienischen Futurismus, Stuttgart 1991, S. 144–153: «Herwarth Walden als Propagandist und Interpret der Avantgarde».
  15. Zit. nach: Schmidt-Bergmann 1991, S. 158.
  16. Alfred Döblin: «Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F.T. Marinetti», in: Asholt/Fähnders 2005, S. 32–34; S. 34.
  17. Zit. nach: Schmidt-Bergmann 1991, S. 184f.
  18. Zit. nach: Karl Konrad Polheim (Hrsg.), Der Poesiebegriff der deutschen Romantik, Paderborn 1972, S. 79.
  19. Vgl. hierzu: Schmidt-Bergmann 2009, S. 14.
  20. Hierzu gehört z. B. das Verteilen von Flugblättern und Plakaten aus dem fahrenden Auto in Berlin, von dem Nell Walden berichtet, vgl. hierzu: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: «‹Ja, wir sind jung, und unsere Kunst ist unersehen revolutionär›. ‹Der Sturm›. Zweite Ausstellung», in: Chytraeus-Auerbach/Uhl 2013, S. 46.
  21. Vgl. hierzu: Chytraeus-Auerbach 2013.
  22. Vgl. hierzu: Van den Berg/Fähnders 2009, S. 92; Otto F. Best (Hrsg.), Theorie des Expressionismus, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2007, S. 3ff.
  23. Zu Marinettis Herausgebertätigkeit vgl. z. B. Schmidt-Bergmann 2009, S. 27–51 sowie 247–261.
  24. Zitiert nach: Asholt/Fähnders 2005, S. 139f.
  25. Zitiert nach: ebd., S. 141–144; S. 141.
  26. Vgl. hierzu Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974, S. 24f.
  27. Vgl. hierzu Schmidt-Bergmann 2009, S. 41f.
  28. Vgl. hierzu: F. T. Marinetti: «Fondazione e Manifesto del Futurismo», in: Ders. 1968, S. 7–14, und Ders.: «Uccidiamo il Chiaro di Luna», in: ebd., S. 14–26.
  29. Zur Herkunft des «neuen Menschen» von Nietzsche und D’Annunzio vgl. Walter Fähnders: «Der neue Mensch» in: van den Berg/Fähnders 2009, S. 225f. sowie Schmidt-Bergmann 2009, S. 37–51.
  30. Herwarth Walden: «Das Verstehen in der Kunst», in: Ders., Einblick in Kunst. Expressionismus, Futurismus, Kubismus, Berlin 31924, S. 36–38.
  31. Zitiert nach: Best 2007, S. 68–73; S. 72f.
  32. Vgl. hierzu: Schmidt-Bergmann 2009, S. 198ff.
  33. Zur zeitgenössischen Rezeption und Diskussion im Bereich der Philosophie vgl. z. B. Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Hamburg 2001 (erstmals publiziert 1921) sowie Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Birgit Recki, Band 6: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Text u. Anm. bearb. von Reinold Schmücker, Hamburg 2000 (Erstdruck 1910), wo Cassirer bereits in Hinblick auf Relation und Einsteinsche Relativität das Verhältnis von objektiver und subjektiver Wirklichkeit diskutiert.
  34. Die Notwendigkeit der Krisenerfahrung zur Schaffung von Neuem thematisiert auch André Breton in seinem zweiten surrealistischen Manifest, wenn er zu Beginn bemerkt: «Ungeachtet der verschiedenartigen Unternehmungen all derer, die sich auf den Surrealismus berufen haben und sich noch auf ihn berufen, wird man letztlich doch zugestehen müssen, daß er nichts so sehr erstrebte, als in intellektueller und moralischer Hinsicht eine Bewußtseinskrise auszulösen; und daß lediglich die Erreichung oder Nicht-Erreichung dieses Ziels über seinen geschichtlichen Erfolg oder Mißerfolg entscheidet.» (Hervorhebung im Original), André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, deutsch von Ruth Henry, Hamburg 132012, S. 45–99; S. 55.
  35. Hatvani, Versuch über den Expressionismus, in: Best 2007, S. 68.
  36. Zitiert nach: Schmidt-Bergmann 2009, S. 263–269; S. 265f.
  37. Filippo Tommaso Marinetti: «Manifesto tecnico della letteratura futurista» in: Ders. 1968, S. 46–54; S. 46f.
  38. Filippo Tommaso Marinetti: «Dune», in: ebd. S. 786–787.
  39. Hugo Ball: «Karawane» in: Hermann Korte, Kalina Kupczynska (Hrsgg.), Dada zum Vergnügen, Stuttgart 2015, S. 63.
  40. Z. B. Paul Dermée: «Was ist Dada!», in: Asholt/Fähnders 2005, S. 193–194; S. 193.
  41. Hugo Ball: «Manifest zum 1. Dada-Abend in Zürich 1916» in: Best 2007, S. 235–240; S. 235f.