Paris
Erinnerungen an eine Weltstadt

· Edmondo de Amicis ·

Übersetzung von Annette Kopetzki1

PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-C2C9-B

Der erste Tag in Paris

Bevor der Leser in die Weltausstellung geführt wird, muss er mit uns nach Paris hinein­fahren – wir werden zusammen einen Blick in das Theater werfen, ehe wir uns der Bühne zuwenden.

Um acht Uhr morgens stiegen mein guter Freund und ich bei schönstem Wetter in der Eisenbahnstation Gare de Lyon aus. Der Kutscher, auf den wir zugingen, warf uns einen skeptischen Blick zu – wir hatten es in der Zeitung gelesen: die Pariser Kut­scher weigern sich, allzu beleibte Menschen zu transportieren – doch er ließ uns ein­steigen. Unser Ziel war der Boulevard des Italiens, wir würden also durch die schönsten Straßen der Stadt ins Zentrum von Paris fahren.

Den ersten angenehmen Eindruck empfingen wir von der großen Place de la Bastille, in die vier Boulevards und zehn Straßen münden, und wo man dumpf die Geräusche der Vorstadt Saint Antoine hört. Doch wir waren noch betäubt vom Lärm des enormen, dunklen Bahnhofs, wo wir schlaftrunken ausgestiegen waren, und nahmen diesen weiten Platz voller Licht, seine tausend Farben, die hohe Julisäule, die Bäume, das ra­sende Hin und Her der Kutschen und Menschenmengen kaum wahr. Es ist der erste ungestüme, volltönende Hauch des Pariser Lebens, aber man empfängt ihn mit halbge­schlossenen Augen. Erst am Boulevard Beaumarchais sieht man klarer.

Hier beginnt Paris. Die breite Straße mit zwei Baumreihen, die fröhlichen Häuser, alles atmet Jugendlichkeit. Auf den ersten Blick erkennt man die tausend kleinen Raffi­nessen der Bequemlichkeit und Eleganz einer Bevölkerung mit unzähligen Bedürf­nissen und Launen, die eher auf das Notwendige als auf den Überfluss verzichten wür­de und aus dem Lebensgenuss eine einfallsreiche Kunst gemacht hat. Da ist die buvette, die kleine Weinstube mit ihren glänzenden Fenstern, das Café für gutbürgerliche An­sprüche, das kleine bistrot, das mit den erlesenen Leckerbissen des großen Restaurants prahlt, da sind die tausend kleinen Läden, reinlich und fröhlich, die sich mit ihren Far­ben, Schaufenstern, Schildern, Kleiderpuppen und Reizen gegenseitig übertrumpfen. Zwischen den beiden Baumreihen herrscht ein Kommen und Gehen von Kutschen, gro­ßen Droschken, Dampfmaschinen, die große Wagen ziehen, und hohen Omnibussen voller Menschen, die mit ohrenbetäubendem Lärm über das unebene Pflaster hüpfen. Aber dies ist ein anderer Verkehr als der in London. Der offene Raum mit seinem Grün, die Stimmen, die Gesichter und Farben lassen diesen Trubel eher nach Vergnügen als nach Arbeit aussehen. Überdies ist uns die Bevölkerung nicht ganz unbekannt, all diese vertrauten Figuren entlocken uns ein Lächeln. Da ist Zolas Wäscherin Gervaise mit dem Bügeleisen in der Hand an der Tür ihres Ladens, da sind Frédéric und Bernerette aus Murgers Leben der Bohème, der gamin, der kleine Junge aus Victor Hugos Les Misérables, der homme d’affaire von Balzac, Monsieur Prudhomme von Monnier und der Arbeiter von Zola. Alle sind sie da! Und so erkennen wir, dass man auch sehr vie­le Meilen entfernt im grenzenlosen Umkreis von Paris lebte! Es ist halb neun, der große Tag der großen Stadt – ein Tag für Paris, ein Monat für den Neuankömmling – hat soeben begonnen, hitzig und lärmend wie eine Schlacht. Hinter dem Straßenlärm hört man undeutlich die tiefe Stimme der verborgenen Stadtviertel, wie das Grollen des Meeres hinter den Dünen. Soeben haben wir den Boulevard Beaumarchais verlassen, sind noch nicht am Ende des Boulevards des Filles du Calvaire angekommen, schon ahnt man, fühlt man, atmet man die unermessliche Größe dieser Stadt Paris und denkt staunend an die leeren, stillen Städte zurück, aus denen man aufgebrochen ist, ob sie nun Turin, Mailand oder Florenz heißen. Dort war alles vertraut, man lebte in der Stadt wie in einer Familie. Gestern ruderten wir in einem See, heute segeln wir über den Ozean.

Wir haben etwas mehr als eine Meile zurückgelegt und biegen in den Boulevard du Temple ein. Hier wird die Straße noch breiter, die Häuser ragen höher hinauf, die Sei­tenstraßen werden länger. Nach und nach kommt die ganze Majestät von Paris zum Vorschein. Von nun an wachsen die Proportionen, alles wird nobler. Die Theater glei­ten an uns vorbei – der Cirque Olympique2, das Théâtre Lyrique3 und später auch die Folies Bergère4 –, die eleganten Cafés, großen Kaufhäuser und vornehmen Restaurants, und die Menge bekommt ein deutlich pariserisches Aussehen. Alles ist in Bewegung. Omnibusse in vielen Formen, groß wie fahrende Häuser, drängen vorwärts. Die Men­schen laufen in alle Richtungen, fortwährend kreuzen sich ihre Wege, auf den Bür­gersteigen marschieren endlose Prozessionen. Wir fahren in den Boulevard Saint Mar­tin hinein, ein weiterer Schritt in Richtung Eleganz und Pracht. Die bunten Kioske werden zahlreicher, die Läden eleganter, die Cafés prunkvoller. Kolossale vergoldete Buchstaben bedecken die Balkone und Simse der Häuser, sodass jedes Haus aus­sieht wie das Frontispiz eines gigantischen Buches. Die Giebel der Theater, die Bögen der Galerien, die bis zum ersten Stockwerk mit Holz verkleideten Häuser, die von Spiegeln glänzenden Bistrots, die sich in Gestalt kleiner Tempel oder Theater auf die Straße öffnen, sie alle folgen ohne Unterbrechung aufeinander wie ein einziges, endloses Schaufenster. Tausendfach springt greller, kapriziöser, marktschreierischer Flitter, Firlefanz und Zierrat ins Auge, hängt und steht überall, funkelt auf jeder Höhe, hinter den dicht belaubten Ästen der Bäume, auf den Straßenbänken, den kleinen Omnibushaltestellen, den Brunnen, den Tischchen der Cafés draußen auf der Straße, den bestickten Markisen der Läden, den marmornen Treppen der Theater. Der Boulevard Saint Martin geht in den Boulevard Saint Denis über. Die breite Straße fällt ab, steigt an, verengt sich, empfängt von den großen Verkehrsadern der dicht bevöl­kerten Nachbarviertel Sturzwellen aus Pferden und Menschen und erstreckt sich vor uns, soweit das Auge reicht, von Kutschen wimmelnd und schwarz von Menschen. Zwei große Girlanden aus Bäumen und Pflanzen teilen sie in drei Teile und erfüllen sie mit Schatten und Frische. Seit einer dreiviertel Stunde fahren wir im Schritttempo, die end­losen Schlangen von Kutschen sind wie märchenhafte Hochzeitsumzüge, die von einem Ende von Paris bis zum anderen reichen, und im Boulevard Nouvelle wird das Gewim­mel, Gebrumme und Getöse noch lauter. Hier reihen die großen Kaufhäuser ihre riesigen Schaufenster nahtlos aneinander, hier prangt überall réclame, die vom Erdge­schoss, vom zweiten, dritten Stock bis zum Dach reicht; die Schaufenster werden zu Sälen, die kostbaren Waren häufen sich, die bunten Schilder vervielfachen sich, die Hausmauern verschwinden hinter blendendem, kindischem, grandiosem Schmuck, der verführt und das Auge ermüdet. Dies ist keine Straße, sondern eine Abfolge von Plät­zen, nein, ein einziger immenser, festlich geschmückter Platz, auf dem sich eine Menschenmenge mit Quecksilber im Blut tummelt. Alles liegt offen und sichtbar da, zur Schau gestellt wie auf einem großen Markt im Freien. Der Blick reicht bis in die hintersten Räume der eleganten Läden, in die comptoirs der großzügigen, weißgolden schimmernden Cafés, in die hohen Räume der fürstlichen Restaurants, und bei jeder kleinsten Veränderung der Blickrichtung erhascht er zahllose schöne und überraschen­de Dinge, pompöse Kleinigkeiten, Schätze, Delikatessen, Spielzeug, Kunstwerke, verderbliche Bagatellen, kurz: Versuchungen jeder Art, die ihn auch überfallen, wenn er zur anderen Straßenseite wandert oder auf den beiden endlos langen Reihen an Kiosken verweilt, die mit allen Harlekinfarben besprenkelt, mit Inschriften und grotes­ken Figuren geschmückt und mit Zeitungen aus aller Herren Länder und jedweden Formats tapeziert sind, sodass der weite Boulevard den sympathischen Anstrich einer großen, karnevalesken Literaturausstellung bekommt. Fährt man sodann in den Boulevard Poissonnière hinein, wird das Schauspiel noch vielfältiger, und während der ganzen Fahrt empfindet man lebhaft ein ganz neues Gefühl, das nicht nur Staunen ist, nein, eine vage Unzufriedenheit, ein sehnsüchtiges Bedauern, die Verbitterung des Jünglings, der sich bei seinem ersten Eintritt in die große Welt gedemütigt fühlt, ei­ne Art Enttäuschung der Selbstliebe, die sich in mitleidigen und grimmigen Blicken auf sein armseliges Gepäck ausdrückt, das in der Kutsche durch diesen unverschämten Luxus gefahren wird.

Endlich, der Boulevard Montmartre, auf den die Boulevards des Italiens, des Capu­cines und de la Madeleine folgen. Ah! Das glühende Herz von Paris, der Gipfel mon­däner Triumphe, das große Theater der Ambitionen und der berüchtigten Ausschwei­fungen, wo das Gold, das Laster und die Torheit aus allen Ecken und Enden der Welt herbeiströmen! Hier ist die Metropole der Metropole, hier hält Paris ununterbrochen Hof, hier wird die Straße zum Platz, der Bürgersteig zur Straße, das Geschäft zum Museum, das Café zum Theater, die Eleganz zum Prunk, der Glanz zum Funkeln, das Leben zum Fieberwahn. Pferde traben in Scharen, die Menge zieht als reißender Strom vorüber. Das Ganze ist ein Wettstreit des schönen Scheins, der den Wahnsinn streift. Es gibt die holländische Sauberkeit, die stille Heiterkeit eines Gartens und die ganze Farbenpracht eines orientalischen Bazars. Man wähnt sich in einem gigantischen Museum, wo Gold, Blumen, Kristall, Bronzen, Gemälde, die Meisterwerke der Indus­trie, sämtliche Verführungen der Künste und Launen der Mode sich in erschreckender Überfülle und hinreißender Anmut zur Schau stellen. Alles wird von zahllosen Spiegeln und Verkleidungen aus blankpoliertem Holz tausendfach reflektiert. Über die Fassa­den laufen Inschriften aus Gold wie Koranverse an den Wänden der Moscheen. Das Au­ge findet keinen Ruhepunkt. Von allen Seiten blitzen berühmte Namen aus den Rei­chen des Genusses und der Mode auf, Namen von Restaurants, die man von New York bis Petersburg lobt, Namen von Hotels, wo der Adel und das große Geld wohnen, Na­men von Geschäften, deren Eingangstür man mit zitternden Händen öffnet. Überall ein aristokratischer, provozierender, dreister Luxus, der sagt: Gib Geld aus, verschwende und genieße! Er weckt Wünsche und beschämt gleichzeitig. Doch es gibt keinerlei mo­numentale Schönheit. Das Ganze ist eher von femininem, theatralischem Gepränge, einer exzessiven Pracht des Bühnenbildes, voll Koketterie und Selbstgefälligkeit, die be­täubt und blendet und das Wesen dieser opulenten, lasziven Stadt ausdrückt, die wie besessen für Genuss und Glanz arbeitet. Sie wirkt einschüchternd. Man fühlt sich nicht im öffentlichen Raum, so reinlich und feierlich ist alles ringsumher. Sogar die Menge bewegt sich mit einer zurückhaltenden Grazie wie durch einen großen Saal, gleitet ge­räuschlos über den Asphalt wie über einen Teppich. Die Verkäufer stehen mit der Wür­de hoher Herrschaften hinter den kolossalen Schaufenstern, als erwarteten sie aus­schließlich millionenschwere Stammkunden. Sogar die Zeitungsverkäuferinnen in den Kiosken gebärden sich als blasierte Literaturkenner. Alle scheinen von der Erhabenheit des Ortes durchdrungen, alle scheinen sich zu bemühen, mit ihrer Person einen farb­lich fein abgestimmten Pinselstrich zum großen Gemälde der Boulevards beizutragen. Wahrlich, ein großes Gemälde! Jeder kann im Geiste alle Bilder hinzufügen, die sich in den blühendsten Städten seines Heimatlandes finden, doch wer es nicht gesehen hat, wird sich das Schauspiel dieses Menschenflusses, der unablässig zwischen Wänden aus Glas, inmitten dieses Grüns und Goldes, umgeben vom ohrenbetäubenden Lärm der Pferde und Räder auf dieser breiten, endlosen Straße dahinströmt, nicht vorstellen können, und sich ebenso wenig ein rechtes Bild von der erbärmlichen Figur machen, die wir mit unseren abgewetzten Literatenkoffern dort abgaben.

Gleich nachdem wir im Hotel ein wenig Atem geholt hatten, kehrten wir auf die Boulevards zurück und sahen uns, wie Motten vom Licht angezogen, unversehens vor dem Café Riche 5 wieder. Seltsam! Mir schien, als wäre ich seit einer Woche in Paris. Die Menge hat jedoch ein Aussehen, das sich ziemlich von dem normaler Zeiten unter­scheidet. Exotische Gesichter in Überfülle, Reisekleidung, staunende, erschöpfte Familien aus der Provinz, die dunklen Gesichter des Südens und die Bärte und blonden Haarschöpfe des Nordens. Auf der Brücke von Konstantinopel sieht man den ganzen Orient flanieren, hier den gesamten Okzident. Von Zeit zu Zeit ein japanisches Gesicht, ein Schwarzer, ein Turban, doch sie werden vom schwarzen Strom der Menge mit Zylinder sofort verschluckt. Ich bemerkte viele Figuren aus der großen Familie der Ge­scheiterten, die jeder auf den ersten Blick erkennt: seltsame Gestalten mit fahlem Gesicht und Brille, bis auf die Schultern fallenden Haaren und einer Kladde unter dem Arm – Träumer aller Länder, die nach Paris gekommen sind, um mit einer mechani­schen Erfindung oder einem literarischen Meisterwerk das große Los des Ruhms und Reichtums zu ziehen. Dies ist der breite Strom, wo alle durchschnittlichen Talente untergehen. Man sieht weder hochmütige Gesichter noch das Lächeln befriedigter Eitelkeiten. Sie sind alle ununterscheidbare Tropfen in der großen Welle, aus der nur die Giganten herausragen. Man begreift, wie groß der Ehrgeiz sein muss, um sich in dieses Pandämonium zu stürzen, und mit welch wütender Verbissenheit sie sich das Hirn zermartern, um das Wort oder den Schrei zu finden, bei dem die hunderttausend Köpfe dieser Menge sich umdrehen. Es ist ein Vergnügen, über dieses mit zertrete­nen Ambitionen und gestorbenen Träumen bedeckte Pflaster zu gehen, auf dem neue Ambitionen sich aufrichten und neue Kräfte sich erproben werden. Man genießt es, in dieser gigantischen, vibrierenden lärmenden Werkstatt zu sein und sich auch nur für kurze Zeit wie ein Molekül von dem großen Körper aufgenommen zu fühlen, um den alles kreist.

 

  1. Auszug aus Edmondo De Amicis: Paris. Erinnerungen an eine Weltstadt. Ausgewählt, aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Vorwort von Annette Kopetzki, Wiesbaden: Corso Verlag 2017. Mit freundlicher Genehmigung des Verlagshauses Römerweg, dem wir hiermit herzlich danken. Die folgenden Fußnoten entstammen der genannten Ausgabe.
  2. Der Cirque Olympique war eine Zirkus-Institution im 19. Jahrhundert in Paris. Das 1827 am Boule­vard du Temple eröffnete Gebäude wurde wie viele andere berühmte Boulevardtheater in dieser Stra­ße 1862 im Zuge der Haussmanschen Stadtumgestaltung abgerissen. Das Nachfolgergebäude wurde an der Place du Châtelet errichtet (heute Théâtre du Châtelet), wo sich der Cirque Olympique auch zur Zeit von De Amicis’ Besuch befand.
  3. Das Théâtre Lyrique, 1847 am Boulevard du Temple eröffnet, war eine der vier bedeutendsten Opern­kompagnien des 19. Jahrhunderts in Paris. 1862 wurde das Gebäude am Boulevard du Temple abgerissen und ein neues an der Place du Châtelet errichtet (heute Théâtre de la Ville), wo sich das Théâtre Lyrique auch zur Zeit von De Amicis’ Besuch befand.
  4. Les Folies Bergère, Konzertsaal, Varietétheater und Kabarett in der Rue Richer. Seine größte Popula­rität erreichte es in den Jahren zwischen 1890 und 1930.
  5. Berühmtes Literatencafé, gegründet 1785, es existierte bis 1916.