Rolf Lohse, Renaissancedrama und humanistische Poetik in Italien. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2015
ISBN: 978-3-7705-5827-8, 722 S., Euro 89,00

· Birgit Ulmer ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-C2CB-9

Die vorliegende Habilitationsschrift ist in der renommierten Reihe Humanistische Bibliothek des Wilhelm Fink Verlags erschienen. Sie kommt mit ihrem schwarzen Ein­band, der von einem zugleich düsteren und akzentuiert beleuchteten, eindrucksvollen Gemälde1 geziert ist, edel daher. Der Titel klingt zunächst etwas spröde, doch in den 722 Seiten der Studie verbirgt sich nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, einen Paradigmenwechsel in der Sicht auf das italienische Renaissancedrama und seine theoretischen Grundlagen vorzunehmen. Dies ist insofern relevant, als das 16. Jahr­hundert in vielerlei Hinsicht eine Gründungsepoche für das europäische Theater ist, deren Entwicklungen teilweise bis heute spürbar sind.

Allerdings ist seit dem 17. Jahrhundert und bis dato die weitgehend einhellige Meinung der Forschung zum italienischen Drama des 16. Jahrhunderts geprägt von den Grundsätzen der sogenannten Aristotelismusthese, die annimmt, «das Theater des 16. Jahrhunderts sei auf der Grundlage der aristotelischen Poetik entstanden, und es genüge den Forderungen der klassischen Ästhetik.» (S. 14) Gemeint ist dabei aller­dings eher «soll genügen», denn bislang schlossen die meisten Studien und in Folge auch die Literaturgeschichten Texte aus der Betrachtung aus, die dieser vermeintlich qualifizierenden Forderung nicht genügten, also von der angenommenen Norm ab­wichen. Anspruch und gleichzeitig Voraussetzung der vorliegende Studie ist es nun, diese «[...] seit mindestens einhundert Jahren als Doxa geltende Vorstellung kritisch zu durchdenken [und v]or diesem Hintergrund […] unser Bild von der Aristoteles­rezeption im 16. Jahrhundert einer Revision zu unterziehen.» (S. 639) Auf der Grund­lage dieser neuen Einsicht wird im zweiten Teil des Bandes eine große Anzahl Dramen­texte untersucht, sodass ein umfassendes und stimmiges Bild des dramatischen und dramentheoretischen Schaffens im Italien des 16. Jahrhunderts entsteht, das viele Fra­gen anders und zugleich überzeugender beantwortet als die bisherige Forschung und zudem zahlreiche Forschungsdesiderate aufzeigt.

Die Einleitung geht zunächst ausführlich auf den Forschungsstand ein und zieht aus dieser kritischen Betrachtung die Rechtfertigung für die im Folgenden präsentierte Untersuchung bzw. begründet die Notwendigkeit derselben. Zudem wird das umfang­reiche Korpus der zugrunde gelegten Texte vorgestellt, wobei auch kurz auf den Begriff des Kanons eingegangen wird. Dieser ist insofern von Bedeutung, als von der Forschung bislang nur verhältnismäßig wenige Dramentexte des 16. Jahrhunderts als kanonisch kategorisiert wurden, während eine Vielzahl an Dramen schlichtweg als «nicht-aristotelisch» abqualifiziert und übergangen wurde.

Die verschiedenen Phasen der dramentheoretischen Reflexion werden in Kapitel 2 dargestellt und aufgearbeitet, wobei die Frage nach der Rezeption der aristotelischen Poetik im Zentrum steht. In diesen Abschnitten widerlegt der Verfasser nahezu die gesamte etablierte Forschungsmeinung und findet dabei wiederholt deutliche Worte, wie etwa «Irrelevanz der aristotelischen Poetik für die Praxis bis 1536». Es geht Lohse darum, durch die Rückbesinnung auf die genaue Lektüre der Theorietraktate der Zeit (und im weiteren Verlauf auch der Dramentexte) einen neuen Blick zu gewinnen und daraus Erkenntnisse zu ziehen, die keine durch jahrhundertelange «Forschung» – die sich vor allem durch unkritische Übernahmen auszeichnet – vermeintlich ge­sicherten und unumstößlichen Wahrheiten weitergeben, sondern diese bei genauerer Betrachtung überaus fragwürdigen Thesen schlüssig widerlegen und durch einen Ansatz ersetzen, der der festzustellenden «Vielfalt von gleichzeitig und nebeneinander existierenden Theorien und Theoriederivaten» (S. 635) gerecht wird.

Zunächst unterzieht der Autor die Entstehung der Aristotelismusthese einer genau­en Analyse, wobei erkennbar wird, als wie beharrlich diese sich bis heute erweist, da sie weitgehend unkritisch bis in aktuellste Forschungsliteratur tradiert wird. Diesem Befund stellt Lohse eine Darstellung der dramentheoretischen Reflexion des 16. Jahr­hunderts gegenüber, die anhand detaillierter Lektüre aufzeigt, dass «die Dichtungs­theoretiker im 16. Jahrhundert eine Aristotelesexegese auf der Grundlage der zeitge­nössischen ästhetischen Positionen entwickeln, die sich aus spätantiken Quellen und Horaz speist.» (S. 168) Wichtig ist in diesem Zusammenhang zudem der Hinweis, dass «die wichtigen aristotelischen Kommentare auf die erste Blüte der Tragödien­produktion in den 40er Jahren folgen und ihr nicht vorausgehen.» (S. 247) Und dies bleibt nicht beschränkt auf Tragödien, sondern gilt für das Drama allgemein. Nicht wenige Autoren versuchen beispielsweise, ihr dramatisches Wirken in theoretische Überlegungen einzubetten und dadurch zu rechtfertigen. Zudem berücksichtigen «[p]oetologische Traktate [...] häufig – wenn auch nicht durchgehend – die aktuelle Theaterpraxis.» (S. 247 f.) Denn während das Drama das Mittelalter hindurch und darüber hinaus eine marginale Kunstform war, setzt am Ende des 15. Jahrhunderts eine Art Wiederentdeckung der dramatischen Praxis ein. Die dramatischen Gattungen rücken in den Mittelpunkt des Interesses, das Theater wird neu belebt und erweist sich als «dynamisches Ausdrucksmedium, dessen Entfaltung davon profitiert, daß es keine strikte Regelung hinsichtlich der dichterischen Freiheit gibt.» (S. 636) Die Praxis geht der Theorie voraus und folgt dabei nicht sogenannten klassischen Regeln, sondern entfaltet sich verhältnismäßig frei und vielfältig, wodurch sich auch die große Experi­mentierfreude der Autorinnen und Autoren erklären lässt. Hieraus ergibt sich zudem die Notwendigkeit, die theoretischen Texte nicht losgelöst zu betrachten, sondern das gleichzeitige literarische Schaffen und auch – sofern verfügbar – Informationen zur konkreten Aufführungspraxis in die Überlegungen einzubeziehen, um ein stimmiges Bild zu erhalten.

Ergänzend zu diesem historischen Abriss nimmt der Verfasser im Anschluss die Kernprobleme der gattungsgeschichtlichen Diskussion aus systematischer Perspektive in den Blick, um seine Thesen weiter zu stützen. In diesen Abschnitten werden die poe­tologischen Schriften einerseits hinsichtlich der Unterscheidung der Gattungen und ihrer Hierarchie untersucht, ergänzt durch die Frage nach der Wirkungsweise von Ko­mödien und Tragödien. Andererseits werden die Erweiterung des Gattungsspektrums durch Mischgattungen wie Tragikomödie oder tragedia a lieto fine sowie Texte mit ruraler Situierung betrachtet und die Problematik der Stoffwahl behandelt. Schließlich befasst sich der Autor erneut ausführlicher mit der zuvor bereits mehrfach kritisierten Idee der Regelhaftigkeit. Als Ergebnis dieser Untersuchungen ist festzuhalten, dass die poetologische Diskussion im 16. Jahrhundert vielstimmig und überaus komplex ist, da es «außer der von allen geteilten humanistischen Grundlage kaum eine dramen­theoretische Frage gegeben [hat], auf die die Dichter und die Gelehrten nicht unter­schiedliche Antworten gefunden hätten.» (S. 170) Dies erklärt auch die Vielfalt an dra­ma­tischen Gattungen, die in sehr kurzer Zeit entwickelt werden.

Vor dem Hintergrund dieser neuen Sicht auf die Entwicklung der Dramentheorie im Italien des 16. Jahrhunderts betrachtet der Verfasser im dritten Kapitel die verschie­denen Gattungen und interpretiert über 100 Einzeltexte. Untergliedert ist dieses knapp 400 Seiten lange Kapitel in die Kategorien Tragödie, Komödie, Tragikomödie sowie rural-dramatische Gattungen. Betrachtet werden nicht nur bereits kanonisierte Texte, sondern insbesondere auch zahlreiche Dramen, die bislang keine oder wenig Beach­tung gefunden haben. Es zeigt sich dabei, dass dies häufig aufgrund der im zweiten Kapitel ausführlich kritisierten Forschungsmeinung geschehen ist, die sie schlicht als «nicht-aristotelisch» abqualifiziert hat. Doch erst in der Vielzahl der Texte zeigt sich die Bandbreite an Variationen innerhalb der einzelnen Gattungsbegriffe und die hohe Experimentierfreude der Autoren und Autorinnen, die sich gerade nicht an bereits etablierte Regelsysteme gebunden fühlten, sondern sich allerlei Freiheiten nahmen und die vielfältigen Möglichkeiten des wieder entdeckten Theaters ausprobierten: «In allen Gattungen kommt es zur Herausbildung von unterschiedlichen Traditionslinien, die bis zum Jahrhundertende koexistieren und in Wechselwirkungen treten können.» (S. 636) Besonders deutlich wird die Vielfalt an neu entstehenden Mischgattungen, wie Tragikomödie oder tragedia a lieto fine, und bei den vom Verfasser unter dem Ober­begriff der rural-dramatischen Gattungen behandelten Texten. Zugleich ist interessant, wie sich der veränderte Ansatz auf die Interpretation bereits kanonisierter Dramen auswirkt und auch hier neue Sichtweisen eröffnet, sodass diese Texte nicht mehr wie isolierte Leuchttürme des dramatischen Schaffens wirken, die als einsame Lichter aus dem Nichts aufleuchten, sondern sich durchaus in die Entwicklungen und Tendenzen der Zeit einfügen, und dass so der Zusammenhang mit vielen anderen Texten deutlich wird.

Während die Forschung die Tragikomödie (teilweise auch in ihren verschiedenen Spielarten und Weiterentwicklungen) bereits verhältnismäßig umfassend gewürdigt hat, stehen die weitaus zahlreicheren Texte mit ruraler Handlungssituierung nach wie vor «in einschlägigen Darstellungen am Rande, oder aber es wird allein die höfische Variante, die ‹favola pastorale› privilegiert, während die zahlreichen weiteren Gattungsexperimente unbeachtet bleiben.» (S. 526) Die vorliegende Arbeit widmet dem breiten Spektrum der hier zugeordneten Texte, deren einziges gemeinsames Merkmal die Lokalisierung der Handlung an ruralen Orten ist, daher besondere Auf­merksamkeit. Zunächst geht es um die Klärung der vielen verschiedenen Gattungs­begriffe, denn «der Bereich der rural-dramatischen Dichtung ist im 16. Jahrhundert von Heterogenität bestimmt, von einer großen Gattungsvielfalt und von verschiedenen nebeneinanderher sich entwickelnden Subgattungen.» (S. 529) So ergibt sich die be­eindruckende Zahl von 65 unterschiedlichen Gattungsbezeichnungen (z. B. egloga oder pastorale) bzw. Kombinationen von Gattungsbezeichnungen (z. B. comedia rusticale oder favola pastorale; vgl. die Übersicht auf S. 546/47). Diese «Gattungsbezeich­nungen sind bedeutsame Signale, verraten sie doch, worauf Autoren ihre Rezipienten besonders hinweisen wollen.» (S. 529) Daher ist es wichtig, die vom jeweiligen Autor in der Regel sehr bewusst gewählte Bezeichnung in die Interpretation einzubeziehen und nicht, wie allzu häufig geschehen, einfach über sie hinwegzugehen.2 Wie sich bei der an­schließenden Betrachtung der gattungsspezifischen Merkmale zeigt, hatten die Autoren in diesem Bereich hinsichtlich der Orte, der Handlungsträger sowie der dargestellten Themen die meisten Möglichkeiten, Neues auszuprobieren – und haben diese auch großzügig genutzt. Aus der Interpretation der ausgewählten Einzeltexte folgt die Ein­sicht, dass weiterhin «zahlreiche Forschungsfragen unbeantwortet sind, die absehbar zu interessanten Ergebnissen führen und auch helfen werden, den bislang unbefriedi­genden Forschungsstand abzulösen.» (S. 630)

Trotz des Umfangs und der zahlreichen Einzelbetrachtungen versteht sich die Studie also durchaus nicht als abgeschlossene Untersuchung, sondern gibt im Gegenteil wie hier zahlreiche Hinweise auf weitergehende Forschungsdesiderate und will eher Anstoß und Grundlage denn zusammenfassender Abschluss sein.

Kleinere Redundanzen sind angesichts dieses Umfangs verzeihlich und belegen le­diglich, mit welchem Nachdruck hier bestehenden und noch allzu häufig unkritisch wiederholten Meinungen widersprochen wird. Man gewinnt beinahe den Eindruck, der Verfasser müsse sich seine Thesen, die ein gesamtes Forschungsgebiet auf eine neue Basis stellen, selbst immer wieder explizit vor Augen führen. Zumindest ist so sicher­gestellt, dass der neue Ansatz auch dann kommuniziert wird, wenn ein Leser die Arbeit vielleicht nur abschnittsweise rezipiert.

Vervollständigt wird die Arbeit durch eine umfangreiche Bibliographie, die zwischen Dramentexten des 16. Jahrhunderts, dichtungstheoretischen Traktaten von der Antike bis ins 16. Jahrhundert und Sekundärliteratur unterscheidet. Insbesondere die überaus umfangreichen ersten beiden Unterrubriken belegen noch einmal eindrücklich die gewaltigen Recherchearbeiten sowie die Lektüreleistung des Verfassers. Zugleich kann das angeführte und dokumentierte Textkorpus wiederum als hilfreiche Quelle für weitere Untersuchungen dienen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Verfasser eindringlich für eine Rück­besinnung auf die zentrale Idee der Literaturwissenschaft – soll heißen die Lektüre von Texten – plädiert und mit der vorgelegten Arbeit ein eindrucksvolles und erkenntnis­reiches Anwendungsbeispiel dieses Ansatzes liefert.Es entsteht so ein in Teilen völlig neues Bild vom Theaterschaffen des 16. Jahrhunderts in Italien. Es ist daher zu hoffen, dass die Studie Gehör findet und angemessen rezipiert wird, um das an dieser Stelle nur anzudeutendes Potenzial voll entfalten zu können.

  1. Es handelt sich um das Bild Iuditta e Oloferne (1612) von Artemisia Gentileschi, der wohl bedeutend­sten Malerin des Barock.
  2. Beispielhaft angeführt werden zwei kanonisierte Texte – Tassos Aminta und Guarinis Il pastor fido –, die jeweils eine konkrete Gattungsbezeichnung tragen («favola boschereccia» respektive «tra­gicomedia pastorale») und dennoch von der Forschung in der Regel unter «favola pastorale» geführt werden, was verfälschend als Überbegriff verwendet wird.