Editorial 1 (2016)

· Luca Farulli — Sabrina Maag ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0002-4493-B

Passend zur neuen Gestalt von HORIZONTE als online-Zeitschrift, in welche die Zeitschrift mit der vorliegenden Nummer schlüpft, sind die in der ersten Nummer der Neuen Serie enthaltenen Beiträge der Frage nach der Identität gewidmet, genauer: der Künstleridentität. Die meisten von ihnen gehen zurück auf Vorträge, die auf der Tagung Künstleridentitäten und Kunstbegriffe zwischen Italien und Deutschland. Bildung und Umbildung eines Paradigmas gehalten wurden, die von 23.–25. April 2015 im Rahmen des Italienzentrums der Universität Stuttgart stattgefunden hat.

Die Tagung hatte angesetzt bei der umfangreich in der Forschung aufgearbeiteten, aber noch längst nicht erschöpfend behandelten Tatsache, daß Italien vor allem durch seine Renaissance-Künstler, die im 18. Jahrhundert in Deutschland zunehmend anhand der Vite von Giorgio Vasari, aber auch auf anderen Wegen rezipiert wurden, einen enormen Einfluß auf die Herausbildung von Künstleridentitäten hatte. Dieser bislang als unilateral betrachteten Einflußnahme soll mit dem Blick auf das 20. Jahrhundert eine neue Perspektive gegeben werden, die das Verhältnis von Vorbild (Italien) und Nachbildung (Deutschland) als bilaterales herausarbeitet und so einen Dialog zwischen den beiden Ländern freilegt. Das Hauptaugenmerk der porträtartig angelegten Tagungsstruktur liegt dabei auf den innerhalb dieses Dialogs identifizierbaren Vorbildern. Künstleridentitäten entwickeln sich immer in der Auseinandersetzung mit Vorbildern, und mit dieser Auseinandersetzung ist unweigerlich die Frage verbunden: Warum nimmt wer wen als Vorbild? Welcher Aspekt ist hier wichtig?

Dabei wird der Künstler nicht nur als Person begriffen, die sich in einem komplexer werdenden Gesellschaftssystem verorten muß, sondern als Kommunikationsmedium innerhalb eines Dialoges, der im Austausch überhaupt erst Identität zu erschaffen vermag.

Nicht zuletzt wird die These vertreten, daß zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch auf diesem Gebiet ein Paradigmenwechsel stattfindet, der die bislang eher latente Bilateralität der deutsch-italienische Künstlerbeziehungen deutlich zutage treten läßt.

Die Reihenfolge der Beiträge ist chronologisch angelegt und soll diese Entwicklung widerspiegeln: Der erste Beitrag, den Gerd Reichardt «Dürer und Raffael als Künstler-Vorbilder[n] im 19. Jahrhundert» widmet, gewährt mit dem Hinweis auf deren gegenseitige Wertschätzung einen Rückblick auf einen frühen Dialog zwischen den Ländern und Künstlern und zeigt zugleich auf, inwiefern die beiden auch als Vorbild-Paar für die Künstler des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen. Luca Farullis Beitrag «Immagini in movimento: l’Italia del Rinascimento tra Jacob Burckhardt e Friedrich Nietzsche» nimmt sich der beiden wichtigsten Vermittler der Kultur der italienischen Renaissance in Deutschland an, wobei er die Unterschiede und damit Verschiebungen und Umdeutungen zwischen Burckhardts und Nietzsches Interpretation detailliert verfolgt. Dies führt zum Beitrag von Sabrina Maag über «Die Avantgarden auf der Suche nach neuen Identitäten», mit dem ein klarer Wendepunkt innerhalb der Entwicklung von Identitäten und der Suche nach Vorbildern in den Blick genommen wird: mit Kunstbewegungen, die sich aller Vorbilder entledigen wollen, entsteht Raum für eine radikale Neudefinition der eigenen Identität. Die Folgen dieser Umorientierung werden im darauffolgenden Beitrag deutlich gemacht, in dem Alberto Giorgio Cassani über «Oltre Argan. La ricezione del Bauhaus in Italia» schreibt und damit den Moment direkt nach dem vollzogenen Paradigmenwechsel in den Fokus rückt, einen Moment, in dem erstmals eindeutig eine in Deutschland entstandene Künstlerbewegung, das Bauhaus, einen immensen Einfluß auf italienische Künstler hat und damit wegweisend wird. Die Vorzeichen haben sich sichtbar umgekehrt, was auch der zweite Beitrag von Luca Farulli zeigt: «L’Adorno dei pittori. Linee di ricerca per una ricezione del pensiero di Th. W. Adorno in Italia: l’esperienza torinese della rivista Questioni» beschäftigt sich mit dem Einfluß der philosophischen und vor allem musikästhetischen Gedanken Adornos, die über die Zeitschrift Questioni vermittelt zu einem wichtigen Bezugspunkt für die modernen italienischen Maler auf der Suche nach einer neuen, zukunftsorientierten Identität werden. Den Abschluß der Tagungsbeiträge bildet Cecilia Liveriero Lavellis Aufsatz «Joseph Beuys in Italia: tra relitto e feticcio, mito e materia», der sich mit den fruchtbaren Verbindungen von Beuys mit Italien beschäftigt, die ihren Anfang nehmen in der Ausstellung in Neapel im Jahr 1971 und wichtige Impulse für italienische Künstler geben – die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Lucio Amelio in Neapel oder mit Lucrezia De Domizio in Pescara legen ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab.

Den Abschluß der Beitragsrubrik bilden zwei Aufsätze, die ergänzend zu den Beiträgen der Tagung gewonnen werden konnten und das Panorama abrunden: Riccardo Caldura, «Paradigmi (artistici) in movimento fra Venezia e Kassel» sowie Jacopo Mancabelli, «Breve storia del novenario dalle Origini alle Avanguardie».

Am Übergang von wissenschaftlichen Beiträgen und Literarischen Stimmen befindet sich Giovanni Anceschis ebenfalls im Rahmen der Tagung gehaltener Abendvortrag «Ulm e il Gruppo T». Giovanni Anceschi beschreibt hier seine eigenen Erfahrung an der Ulmer Hochschule für Gestaltung bis zu deren Schließung sowie seine Rückkehr nach Italien, wo er aufbauend auf diesen neuen Ideen und Impulsen unter anderem den Gruppo T (T=Tempo/Zeit) gründet und eine neue Sprache des Designs in Italien etabliert. Anceschi tritt hierbei als Angehöriger zweier Welten auf – als Wissenschaftler und als Künstler zugleich, als Zeitzeuge einer noch aktuellen Identitätsfindung italienischer Künstler und Designer. Diese Hybridität läßt sein Beitrag deutlich zutage treten, indem er oszilliert zwischen Erlebnis und Erkenntnis, Erzählung und Reflexion. Damit ist sein Beitrag zugleich auch das Herzstück einer Ausgabe von HORIZONTE, die sich in verschiedener Hinsicht ebenfalls zwischen den Welten bewegt und dabei Grenzen als ständig zu hinterfragende und gegebenenfalls auch zu verschiebende Variablen, nicht als definitive Trennlinien begreift. Diese Offenheit hatte auch bereits die Anlage der Tagung geprägt, die sich nicht als konventionelle Tagung verstanden hat, sondern vielmehr als Experiment zwischen Wissenschaft und Didaktik, bei dem Vorträge und Workshop-Phasen sich abwechselten und die anregende und fruchtbare Beteiligung von Studierenden aus Deutschland und Italien ein wichtiges Element gebildet hatte. Mit dem Thema der nie abgeschlossenen Suche nach der eigenen Identität hat die erste Nummer von Horizonte — Neue Serie • Nuova Serie somit einen kongenialen Gegenstand ihres Neuanfangs gefunden.

Wir schätzen uns glücklich, die vorliegenden Beiträge für unsere Zeitschrift gewonnen zu haben.