Albertina Fontana, Ivan Pupo (a. c. d.): Nel paese di Cunegonda. Leonardo Sciascia e le culture di lingua tedesca
Firenze: Leo S. Olschki Editore, 2019, 256 pp., Euro 29,00
ISBN 978-882-226-671-2

• Ursula Reuter-Mayring •


PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EA9B-3

Sciascia scrittore europeo heißt die Reihe, in der das vorliegende Buch als dritter Band mit Unterstützung der Gesellschaft Amici di Leonardo Sciascia (www.amicisciascia.it) erschienen ist.1 Herausgeberin Albertina Fontana und Herausgeber Ivan Pupo legen eine Sammlung von fünfzehn Beiträgen vor, die sie in zwei Themenkomplexe zusammenfassen: I. Le Culture di lingua tedesca nella lente di Leonardo Sciascia und II. Scrittori e pubblicisti di lingua tedesca a confronto con Leonardo Sciascia. In einem dritten Abschnitt, Testimonianze, finden sich einige Erinnerungen von Salvatore Costanza an Sciascias ersten Besuch in Deutschland 1967; Pino di Silvestro, der für das Titelbild des Bandes seinen Holzschnitt L’offerta del diavolo (2019) zur Verfügung gestellt und mit einer Anmerkung versehen hat, steuert auch ein «argomento limitato a una semplice nota» zur Beziehung Sciascias zum «universo germanico» (S. 229) bei. Ein Abbildungsteil erweitert die informative und zu mancherlei Überlegung anregende Lektüre, zwei Register dienen dem effizienten wissenschaftlichen Gebrauch des Bandes. Denjenigen Beiträgen, die im deutschsprachigen Original abgedruckt sind, ist jeweils eine italienische Übersetzung bzw. Zusammenfassung beigegeben.

Dem Typus des Bandes gemäß findet die LeserIn thematisch – und durch den Teil Testimonianze und die diversen Originalquellen auch formal – sehr unterschiedliche Analysen bestimmter Aspekte und Fragestellungen vor. Dass diese nicht disparat nebeneinander stehen bleiben (müssen), ist nicht allein dem differenzierten Vorwort von Bruno Pischedda und dem erwähnten herausgeberischen und verlegerischen ‹Beiwerk› zu danken. Eine sich reizvoll ergänzende und gleichzeitig kontrastierende Sicht auf Sciascias Rezeption Goethes und besonders der ‹sizilianischen› Abschnitte aus der Italienischen Reise ergibt zum Beispiel das Zusammenlesen von Passagen von Andrea Schembari («L’occhio e la meraviglia, il reale e il destino. Sciascia lettore di Goethe, tra testo e intertesto») und solchen von Pino di Silvestro («Mi piacerebbe scrivere una prefazione sfiziosa. Sciascia e l’universo germanico»): hier Schembaris literaturwissenschaftliche Analyse, dort die aus einer freundschaftlichen Beziehung erfahrenen Eindrücke di Silvestros zu Sciascias Reflexionen über Goethes Entelechie-Begriff.

Auch die Beiträge zur Rezeption Sciascias im deutschsprachigen Raum lohnen eine Lektüre im Zusammenhang. In Domenica Elisa Cicalas Sammlung literaturkritischer Rezensionen zu Sciascias Büchern («Ritratti poliedrici di un ‹Einzelgänger›. La presenza di Sciascia sulla stampa tedesca») erfahren wir zunächst, wie sehr und mit wie recht verblüffender Einseitigkeit Sciascias Werk in der deutschsprachigen Presse im Zusammenhang mit dem Thema ‹Mafia› gelesen wurde. Zu einer weiteren Analyse bzw. auch Nachfrage kann Cicalas Auswahl der für ihre Analyse verwendeten Quellen anregen, setzt sie doch stark auf Texte von Peter Chotjewitz aus dem Neuen Deutschland oder der Deutschen Volkszeitung. Befremdlich – und unzutreffend – ist es allerdings, wenn sie in ihrem Text einen renommierten Wissenschaftler, den Romanisten und Lehrstuhlinhaber Manfred Hardt, als «giornalista» bezeichnet (S.144). Abgesehen von solch kritischen Anmerkungen sei die Lektüre dieses Artikels aber empfohlen, insbesondere in Verbindung mit den Beiträgen von Martin Hollender («Kaum äußert er sich, reagiert die gesamte Nation. Una voce critica: Werner Raith»), Albrecht Buschmann («Leonardo Sciascia, il linguaggio e il potere. Una rilettura dell’Affare Moro»), Chiara Nannicini Streitberger («Partecipare alle vicissitudini del proprio tempo. Leonardo Sciascia e Heinrich Böll»), Alessandro La Monica («Tre interlocutori tedeschi di Leonardo Sciascia: Hans Magnus Enzensberger, Nino Erné, Rudolf Schenda») ebenso wie mit den Erinnerungen von Salvatore Costanza an die Umstände von Sciascias erstem Aufenthalt in Deutschland («Esperienze di un sodalizio di studi. Leonardo Sciascia ad Heidelberg»). In diesen Beiträgen werden als Perspektiven der Rezeption Sciascias Themen wie ‹Terrorismus›, ‹neue Formen des Romans› und, wie bereits erwähnt, ‹Mafia› deutlich. Die spezifischen und differenzierten Nahblicke der Beiträge sind gesamt gesehen markiert durch eine gewisse zeitgenössische Aktualität, die den Bereichen eigen ist, aus denen sie ihr Material entnehmen: Literaturkritik im Feuilleton, verlegerische Aktivitäten, sozialkritische Publizistik oder soziologische Feldforschung. Eben die Spuren aber dieser damaligen Aktualität(-en) lassen zusammen noch ein weiteres und panoramischeres Bild entstehen, in dem politisch-historische ebenso wie literaturästhetische Tendenzen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar werden; vor den Augen der LeserIn werden die Strukturen von Prozessen emanzipatorisch-kritischer Diskussionen und Auseinandersetzung mit realen Phänomenen und Aktionen, die diese Tendenzen in jener Zeit formten, deutlich.

Neben Albrecht Buschmann richten noch weitere Beiträger ihr Augenmerk dezidiert auf den Stellenwert Sciascias Poetik, den sie in der deutschsprachigen Rezeption dieses Autors einnimmt: Albertina Fontana beschäftigt sich mit der Bedeutung von Sciascias Romanen in den quasi schon ‹kanonischen› Texten des großen Romanisten Ulrich Schulz-Buschhaus zum Genre des Kriminalromans; Chiara Nannicini Streitberger legt einen Vergleich zwischen Sciascia und Böll und ihren unterschiedlichen Lösungen historisch-dokumentarischen Schreibens vor und von Maike Albath ist ein Auszug aus ihrem schönen Band Trauer und Licht. Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens2 aufgenommen, der am Beispiel von Sciascias Il consiglio d‘Egitto der innovativen Kunst Sciascias nachgeht, über Historiografie und Fiktion in der Form eines neuen Historischen Romans zu schreiben.

Auch auf zwei völlig unterschiedliche aber höchst interessante Beiträge im Teil Le Culture di lingua tedesca nella lente di Leonardo Sciascia sei hingewiesen: Da ist zum einen die Vorstellung des Briefwechsels zwischen Sciascia und Lea Ritter-Santini und durch deren Vermittlung im Weiteren auch mit Ida Noddack und Werner Heisenberg (Ulrike Reuter: «Notevolissime testimonianze a mio favore. Scambi epistolari sul caso Majorana tra Leonardo Sciascia, Lea Ritter-Santini e Werner Heisenberg»), die Licht auf Aspekte von Sciascias Arbeit am Roman La scomparsa di Majorana wirft, nebenbei aber auch noch einmal die erste deutsche akademische Chemikerin und ihre bedeutende Rolle für die Forschung zur Kernspaltung – noch vor Otto Hahn und Lise Meitner – in Erinnerung ruft. Der Briefwechsel selbst transportiert dazu en passant noch allerlei Informationen über die Innensicht einer italienischen Komparatistin auf das deutsche Universitätswesen, auf die verlegerischen Strategien in Bezug auf Übersetzungen u. a. Und zum anderen sei die faszinierende Analyse «Christo? Savonarola? Nota su Sciascia conoscitore di Dürer incisore» von Giovanni Maria Fara erwähnt. Fara stellt uns Sciascia hier nicht nur als Kenner von Stichen und Radierungen vor, sondern präsentiert eine kenntnisreiche Untersuchung und Deutung vom Zusammenhang zwischen Dürers Stich Ritter, Tod und Teufel (1513) und Sciascias Roman Il cavaliere e la morte (1988, erschienen bei Adelphi mit einer Abbildung von Dürers Stich auf dem Titel).

Ivan Pupo schließlich widmet sich in seinem ausführlichen und fundierten Beitrag den Vorlieben Sciascias für die mitteleuropäischen unter den deutschsprachigen Autoren, für jene «scrittori austriaci del ‹crepuscolo di un mondo›», und ihre Themen und Motiven, die eine verlorene Welt und die – damit verbundene – Suche nach Identität spiegeln und die gespeist waren aus etlichen

rapide, un po’ elittiche, ma suggestive incursioni nella letteratura asburgica […] collocate alla metà degli anni Sessanta, possono dirsi ancora estranee a quel fenomeno del mercato libraio italiano, che nella prefazione datata 1988 del suo fortunato libro, Magris definisce ‹un‘inflazionata e ormai stereotipa moda austriaca trionfante in Italia› (S. 108f.)3

Pupos Analyse eröffnet weitere Fragen: Sind neben den von Pupo aufgezeigten Präferenzen, wie derjenigen für Joseph Roth, Hoffmannsthal, Kafka, Hašek, Werfel, Lernet-Holenia, nicht auch Indizien für die Lektüre anderer RepräsentantInnen der literarischen Moderne bzw. der Gegenwart Sciascias in dessen Rezeption der «culture tedescofone» zu finden – Namen wie Rainer Maria Rilke, Alfred Döblin, Walter Benjamin, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Arno Schmidt, Uwe Johnson etc.? Ergaben sich, neben Goethe, keine Begegnungen mit weiteren deutschen Dichtern am Übergang zwischen 18. und 19. Jahrhundert, mit Jean Paul zum Beispiel, mit E. T. A. Hoffmann oder Heinrich Heine, deren ironische, bizarre, schwindelerregende Werke sich recht weit entfernen von jener

letteratura propriamente germanica sorta da un mito centrale – il cosiddetto Deutsches Wesen, l’essenza tedesca – che dal fondo del romanticismo all’età positivista sino agli anni hitleriani la manterrebbe in un’area di irrazionalità e torbide identitarie

zu der die mitteleuropäische Literatur als Gegenkraft in Sciascias Wahrnehmung zu wirken schien, so wie es Bruno Pischedda in seiner «Prefazione» ausführt (S. VI)? Sciascia konnte kein Deutsch, er war auf Übersetzungen angewiesen. Wie stand es also zum Beispiel, ganz pragmatisch gefragt, zu seinen Lebzeiten um die Breite der Repräsentation deutschsprachiger Literaturen in italienischen Übersetzungen, was wurde in welche Verlagsprogramme aufgenommen und warum?

Nicht auf alle Beiträge wurde hier eingegangen, doch aus allen können neue Facetten des Autors und seiner Arbeit gewonnen werden oder Bekanntes noch einmal in neuen thematischen Zusammenhängen vergegenwärtigt werden. Wenn sich dazu noch Nachfragen ergeben, ist durch die Herausgabe dieses Bandes viel gewonnen. Aber da «Leonardo Sciascia si è spesso soffermato sull’opportunità e il diletto della rilettura» – wie Salvatore Silvano Nigro im November 20194 schrieb –, so ist noch mehr gewonnen, wenn er zum (Wieder-)Lesen von Leonardo Sciascias Werk anregt.

  1. Die beiden vorangehenden Bände der Reihe warfen den Blick auf Sciascias Beziehungen zur Schweiz und zu Jugoslawien, (1): Renato Martinoni (a. c. d.): Troppo poco pazzi. Leonardo Sciascia nella libera e laica Svizzera. Firenze: Olschki 2011, und (2): Ricciarda Ricorda (a. c. d.): Leonardo Sciascia e la Jugoslavia, «Racconto ai miei amici di Caltanisetta della Jugoslavia e di voi: con entusiasmo, con affetto». Firenze: Olschki 2015.
  2. Maike Ablath: Trauer und Licht. Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens, Berlin: Berenberg 2019.
  3. Claudio Magris: ll mito asburgico nella letteratura austriaca moderna, Torino: Einaudi 1988, S. 7.
  4. Salvatore Silvano Nigro: «A 30 anni dalla morte. Sciascia, perché è il momento di tornare a leggere lo scrittore siciliano. Una nuova raccolta di saggi permette di approfondire l’autore scomparso nel 1989, che scriveva da narratore nei saggi e da saggista nei romanzi, e che lavorava col pensiero costantemente rivolto a Luigi Pirandello», https://www.ilsole24ore.com/art/e-arrivato-momento-tornare-leggere-leonardo-sciascia-ACytv8x