Andrea Donaera: Io sono la bestia
Mailand: Enne Enne Editore 2019, 240 S., Euro 16,00
ISBN: 978-88-94938-46-3 (La stagione: Gli Innocenti)

• Sabrina Maag •


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-F451-A

Von Bestien und Menschen

Ein Haus in Apulien. In einem großen Raum ein Sarg. Familienangehörige, Freunde, Fremde, Tränen und stumme Umarmungen. Und ein gebrochener Mann, der wie ein verwundetes Raubtier umherstreift.

E Mimì pensa che gli ammazza tutti.
[...]
Gira attorno, gira attorno alla bara. Pensa che la dovrebbe aprire, la bara, vederlo, suo figlio, comunque sia combinato, a lui non gliene frega nu cazzu, lo vuole vedere, suo figlio, c'avrebbe il diritto. Ci pensa, Mimì, sudando, ci pensa, vedere quel corpo, quel corpo che riempie quella bara, in quella sala. Poi però, mentre sta lì che gira e pensa, Mimì, con il dito tra i denti, mentre sta lì così, lo distraggono. (S. 11f.)

Gleichsam auf den Spuren dieses verwundeten Raubtiers, seinen Kreisen folgend, erfährt der Leser die Details: Der Mann ist der Vater des 15-jährigen Teenagers, der dort aufgebahrt liegt. Und wenn er in seiner Verzweiflung alle umbringen will, dann ist das nicht nur die Stimme eines unsagbaren Schmerzes, die hier spricht, sondern die von Domenico ‹Mimì› Trevi, eines Bosses der Sacra corona unita, der schon unzählige Leben brutal ausgelöscht hat. Sein Sohn, Michele, hat sich aus dem siebten Stock des eigenen Hauses zu Tode gestürzt und wie es scheint, gibt es auch eine Schuldige: Nicole, ein Mädchen aus Micheles Schule, das er erfolglos umworben hat. Am Morgen seines Todes, so wollen es Klassenkameradinnen gesehen haben, hat er ihr einen Stapel Blätter überreicht, doch sie hat ihn ausgelacht. Und nun schwört der Vater Rache.

Das Romandebüt von Andrea Donaera, geboren 1989 in Maglie und in Gallipoli aufgewachsen, präsentiert zunächst die Ingredienzien einer klassischen Mafia-Geschichte: Schnell lernt der Leser Vincenzo und dessen Sohn Carmine, die treuen Handlanger des Bosses kennen, er wohnt einer Befragung von Nicoles Freundinnen Samantha und Noemi bei, erfährt von Hotels, in die unliebsame Mitmenschen verschleppt werden und aus denen sie nie wieder auftauchen, von gebrochenen Armen als Warnung. Und er wird Zeuge von bestialischen Morden, die Mimì zum Teil selbst ausführt: Wegen eines Fehlers ‹bei der Arbeit› erwürgt er Carmine mit seinem Gürtel, dessen Vater Vincenzo überfährt er später mit dem Auto.

[…] Mimì lo guarda, mentre fa marcia indietro, da lontano Vincenzo sembra una pietra, più si allontana e più sembra una pietra, e Mimì poi si ferma, mette la prima, parte, va verso la pietra, sempre più veloce, mette la seconda, va verso la pietra, la pietra un attimo si muove, guarda verso la macchina che arriva, la pietra, e Mimì la colpisce, in quell'attimo che si è mossa, la pietra, Mimì, la pietra, la colpisce e ci passa sopra, poi frena, Mimì, dopo poco frena, ferma la macchina, esce, va verso la pietra, che ora non è più una pietra, Vincenzo, Mimì lo guarda, Vincenzo sembra vomito, vomito di quando mangi troppo e bevi troppo vino, vomito di quando sei giovane, ceni con gli amici, cene che mangi e bevi così tanto che poi alla fine vomiti, quasi in sincrono con gli amici, Mimì ci pensa, si ricorda, quella sera, al ristorante dei genitori della Marta, lui e Vincenzo, quanto bere, quanto mangiare, e il vomito poi, primo Vincenzo, poi Mimì, sul lungomare, tutti e due lì, a vomitare, il giorno prima del matrimonio di Vincenzo, il vomito per terra, sul lungomare, Vincenzo ora questo è, vomito, assomiglia a quel vomito di quella sera […]. (S. 105f.)

Die Bestie, das dürfte klar sein, ist Mimì.

Doch so einfach macht Donaera es seinen Lesern nicht. Die 18 Kapitel des Romans, denen eine Art Epilog mit dem Titel «Sei mesi dopo» folgt, sind jeweils aus der Perspektive eines der Protagonisten geschrieben. Die Mischung aus erlebter Rede und neutraler Erzählhaltung, die sich selbst noch in den Kapitelüberschriften zeigt – sie tragen lakonisch nur die Namen der Figuren –, gewährt dem Leser ungefilterte? Einblicke in die Gedanken und Psyche der einzelnen Figuren, eine korrigierende oder wertende Erzählerstimme fehlt völlig. Die somit vollkommen subjektiven Stimmen sind nicht glaubwürdig in Bezug auf eine objektive Realität der Fakten – die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge, Objektivität und subjektiver Verzerrung oder Interpretation der Fakten bleibt bis zum Schluss offen. Sie sind aber absolut glaubwürdig durch die Authentizität ihrer Stimmen, durch die Wahrhaftigkeit ihrer Gefühle.

Neben Mimì, dem die meisten der Kapitel gewidmet sind, gibt es zwei Hauptfiguren, die sich schon in ihrer Stimme von allen anderen unterscheiden: Ihre Kapitel sind in der Ich-Form verfasst, als innerer Monolog. Sie bilden das Herzstück dieses Romans, der in die Köpfe und Herzen seiner Figuren blicken lässt. Eine dieser Hauptfiguren ist Veli. Er wird eingeführt als Mann, der von Mimì in einem Haus in der campagna gefangengehalten wird und zu dem immer wieder andere Gefangene gebracht werden, die dann mehr oder weniger lange Zeit bei ihm eingesperrt bleiben. Velis Aufgabe ist es, diese zu bewachen – wobei er mal mehr, mal weniger detaillierte Anweisungen bekommt, mal mehr, mal weniger Freiheit hat, seine Wächterrolle zu gestalten. Erst nach und nach erfährt der Leser, was der wahre Grund dafür ist: Veli hat sich in Arianna, die Tochter des Mafiabosses, verliebt. Die beiden sind ein Paar und wollen dies auch dann noch bleiben, als Ariannas Mutter ihr offenbart hat, dass Veli Ariannas Halbbruder ist. Mimì hält ihn also gefangen, weil ihm dies die einzige Möglichkeit zu sein scheint, die inzestuöse Verbindung zu unterbinden.

Velis Rolle ist eine doppelte: einerseits selbst Opfer, gehört er in den Augen der ihm anvertrauten Gefangenen zu den Tätern. Sein eigenes Leben hängt davon ab, wie gut er die Rolle des Wächters spielt, und im Laufe der Zeit verliert er seine Unschuld. Er spielt seine Rolle gut, sie wird ihm immer natürlicher. Das ändert sich, als Nicole gebracht wird. Sie erscheint ihm als unschuldiges Kind, wenngleich sie sich erwachsen und hart zu geben versucht. Die Ambivalenz ihres Auftretens, die Unschuld und Lebendigkeit, die sie in sein Gefängnis bringt, lassen ihn aus seiner Rolle fallen. Zwischen den beiden besteht eine Atmosphäre der Spannung und gleichzeitig der Anziehung. Wie zwei Raubtiere belauern sie sich, versuchen den anderen zu durchschauen, aus der Reserve zu locken. Nicole gelingt, was eigentlich keinem der Gefangenen gelingen darf: Sie entlockt Veli Persönliches, verwickelt ihn in Gespräche, es entsteht eine Intimität zwischen den beiden, die ihren symbolischen Ausdruck darin findet, dass Nicole Veli den Bart schneidet. Gleichzeitig werden in der Begegnung dieser beiden Figuren alle Kategorien in Frage gestellt. Veli, der selbst Opfer der Sacra ist, verliert seine Unschuld, seine Rolle lässt seine dunklen Seiten zum Vorschein kommen: Als Nicole eine Tüte öffnen will, die zu öffnen Veli ihr verboten hat, springt er auf sie zu, packt sie erst am Arm, dann hält er ihre Handgelenke fest und drückt ihren Hals bis sie rot anläuft, und, mit Entsetzen in den Augen, zu weinen beginnt. Erst dann lässt er los. «Ricomincio a respirare normalmente anche io. E so che, da adesso in poi, nulla sarà uguale a prima. Ora sono anche io uno di loro.» (S. 113)

Doch auch Nicole ist nicht das unschuldige Mädchen, als das sie Veli erscheint. Mal kindlich, wie beim Luftgitarre spielen, mal mütterlich, als sie das Zimmer sauber halten will, mal zärtlich-fürsorglich, als sie Velis Bart schneidet, mal provokativ-verführerisch, wenn sie sich auf dem Tisch räkelt oder Veli von ihren sexuellen Erfahrungen berichtet, hat sie viele Facetten, bei denen Veli nicht zwischen echt und gespielt, Wahrheit und Rolle unterschieden kann. Bei ihrem Kampf um ein Messer scheint etwas Tierisches auf: «Con una rapidità imprevedibile mi morde il collo. Affonda forte i denti, fino a farmi malissimo.» (S. 112) Und als am Ende Mimì erscheint, um sie herauszuholen und umzubringen, stellt ausgerechnet er in einer Verkehrung der Verhältnisse fest: «sembra una bestia, adesso, quella ragazzina, pronta ad attaccare. Con quegli occhi – quegli occhi così feroci.» (S. 201) Die Verwischung der Grenzen von gut und böse, Opfer und Täter, die wir im an das Stockholm-Syndrom erinnernden Verhältnis zwischen Nicole und Veli beobachten, wird auch von Nicole thematisiert. Da sie Veli anfangs für einen von Mimìs Leuten hält, schlägt sie ihm vor, sie zu heiraten, um sie vor dem Tod zu bewahren. «Stavo pensando. Che se tu mi sposassi, per esempio, a me non mi farebbero niente.» (S. 192) Auf Velis Versicherung, er sei keiner «di loro», zieht sie das einzige Buch, das sich im Zimmer befindet, hervor: Die Schöne und das Biest und liest die Stelle vor, in der das Biest dem Mädchen einen Heiratsantrag macht.

Chiude il libro. Ci guardiamo.
Mi chiede: «Ti piace?».
Mi piace. «Si» rispondo.
«Io sono la Bestia». Trema.
«Non è vero».

«Io sono la Bestia».
«Non è vero».
«Io sono la Bestia».
«Non è vero».

È vero. (S. 194)

Die Introspektive in die Psyche der Figuren ist eine Analyse menschlicher Schwächen, sie lässt in Abgründe blicken, zeigt, zu was Menschen fähig sind, zu was sie werden können. Ein Roman des Hasses, aber auch der Liebe: der inzestuösen Liebe zwischen Veli und Arianna, der unerwiderten Liebe von Michele zu Nicole, der pervertierten Liebe der Mitglieder er Sacra-Familie ihrem Boss gegenüber, der verstörenden Liebe des Mafia-Bosses zu seinem Sohn. Sie wird spät im Roman in ihrer Krankhaftigkeit deutlich, als Mimì sich erinnert, wie er im Zimmer seines Sohnes, der über Gedichten am Schreibtisch sitzt, diesen zur Fellatio zwingt. Er wiederholt damit den Missbrauch, den sein eigener Vater an ihm begangen hat, als er ihm zeigen wollte «wie man das mit den Mädchen macht», ein Ereignis, das Mimì nie wirklich verkraftet hat:

E Mimì non lo sa, non lo sa, ha guardato quel corpo rosa, la nuca di quel corpo rosa, quella carne silenziosa, vorrebbe saperlo, il perché, Mimì, ma non lo sa come mai mentre era lì con Michele suo ha pensato a suo padre, a quella volta che erano allo stadio, suo padre gli ordinò di alzarsi, gli ordinò di andare con lui, suo padre, allo stadio, nel bagno dello stadio, gli disse che mò gli faceva vedere come si fa con le ragazze. (S. 180)

Micheles Selbstmord, der sich kurz danach ereignet, erscheint so in einem anderen Licht, einem Licht, das auch aufscheint in einer Passage aus einem von Micheles Gedichten, die er selbst wieder gestrichen hat:

Mi fa male tutto. La bestia mi ha
reso bestia. Anche io sono bestia, ora.
Adesso che mi è dentro, quella bestia.
Adesso anch'io sono bestia. Fa male.
Mi fa male un padre in tutto il corpo.

E mi fa male tutto.

Bella N., ho odiato tutti tranne te. (S. 23)

Während der sensible Michele an dem Bösen zerbricht, das ihn umgibt, tritt sein Vater in die Fußstapfen des eigenen Vaters, der ebenfalls ein Mafiaboss war. Wie eine Krankheit infiziert die Sacra corona unita jeden, der mit ihr in Berührung kommt, auch Arianna, die sich so vehement dem Elternhaus widersetzt hat. Nachdem ihre Eltern beide tot sind – die Mutter vom eigenen Ehemann erschossen, Mimì von Veli umgebracht – kehrt Arianna ins Elternhaus zurück, streift durch die Räume, den Saal, in dem zu Anfang des Romans ihr Bruder aufgebahrt lag. Sie ist verändert, die Nachricht, dass Veli überlebt hat, interessiert sie nicht mehr, schlimmer erscheinen ihr Nachlässigkeiten und Unordnung, die sie im Haus sieht. Der Roman endet mit den Worten, mit denen er beginnt, nur dass es sich diesmal um Arianna handelt: «E Arianna pensa che li ammazza tutti. Tutti, se non se ne vanno, se non se ne vanno da lì, se non la lasciano da sola, in quella sala, se non la lasciano da sola Arianna fa un macello, li ammazza tutti.» (S. 227)

Der Strudel, der alle in einen Abgrund zu reißen droht, findet seinen Ausdruck in einer Sprache, die einem Staccato gleicht. In kurzen Sätzen, der erlebten Rede ähnlich, prasseln die Gedanken und Erinnerungsfetzen der Figuren auf den Leser ein, die in ihrer Unerbittlichkeit und schonungslosen Härte gleichermaßen verstören wie faszinieren. Der Gedankenstrom der Figuren wechselt sich ab mit ebenso knappen Dialogen und erzeugt ein atemloses Tempo, das den Leser in seinen Bann zieht. Der schnelle Lauf des Romans wird nur unterbrochen von Gedichten Micheles, die immer wieder zwischen die Kapitel eingeschoben sind und dem Roman poetische Atempausen verleihen.

Mit Io sono la bestia ist Andrea Donaera nach mehreren, durch Preise ausgezeichneten Lyrik-Veröffentlichungen ein eindrucksvolles Romandebüt gelungen, das sich keinem Genre zuordnen lässt und Erwartungshorizonte zu durchbrechen vermag.