Aus: Der kunstfertige Fälscher

• Maria Attanasio •

(Übersetzung: Michaela Wunderle und Judith Krieg)1

PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EA9F-F

WIE ALLES KAM
oder vom traurigen Ende der Lira

Im Jahr 2003 baten mich zwei Schriftstellerfreundinnen aus Kampanien, Antonella Cilento und Emilia Cirillo Bernabei, um einen kleinen Beitrag für eine Art literarisches Requiem auf das Ende der Lira, das als Sammelband mit dem Titel In fin di lira2 veröffentlicht werden sollte.
Da ich nicht wusste, was schreiben, sinnierte ich eine ganze Weile über eine passende Absage, als mit einem Mal Erinnerungen an allerlei aufgeschnappte Sätze aus meinen Kindertagen in mir zu rumoren begannen, darunter auch die vertraute Beschwörung des legendären Paolo Ciulla, Chiddu ri sordi farsi, «der mit dem Falschgeld»: zum einen Metapher für die wundersame Erlösung aus wirtschaftlichen Notlagen – und derer gab es in den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Krieg zahlreiche und schwerwiegende –, zuweilen aber auch der Maßstab für einen rundum perfekten Betrug, eine makellose Täuschung.
Ich sagte meinen Freundinnen zu und machte mich auf die Suche nach Informationen über das private und öffentliche Leben des Fälschers Paolo Ciulla, im Archiv und in der Stadtbibliothek «Emanuele Taranto Rosso» in Caltagirone, seinem Geburtsort, sowie in der Bibliothek «Ursino Recupero» in Catania, wo er viele Jahre gelebt hat und 1931 im Armenhaus, dem «Albergo dei Poveri Invalidi» gestorben ist.
Ich verfasste einen Prosatext mit dem Titel Il curioso caso di Paolo Ciulla (Der kuriose Fall des Paolo Ciulla), der sich einige Monate später – infolge meiner Teilnahme an der Tagung zum Thema «Berühmte Strafverfahren», zu der Professor Pasquale Beneluce an die Universität Messina geladen hatte – zu einem ausführlichen journalistischen Bericht über den spektakulären Prozess aus dem Jahr 1923 auswuchs, der den Fälscher auf der Anklagebank gesehen hatte.
Doch Paolo Ciulla trieb mich weiter um: Was ich über ihn geschrieben hatte, wurde weder seinem Leben noch meiner Einbildungskraft gerecht.
Ich setzte meine Recherchen im Staatsarchiv in Catania fort. Ein wahrer Glückstreffer war die Hilfsbereitschaft des Personals, dank dessen es mir gelang, die noch nicht systematisch archivierte fünfundachtzigseitige Begründung des Urteils, das die fünfte Strafkammer des Gerichts von Catania am 12. November 1923 verkündet hatte, ausfindig zu machen und zu fotokopieren.
Von diesen Dokumenten ausgehend, habe ich nach Belegen gesucht und Paolo Ciullas Lebensphasen rekonstruiert, obgleich sich die Überprüfung manches Mal als unmöglich erwies; auch den Inhalt der biografischen Rekonstruktion Paolo Ciulla, il falsario (Tringale, 1984) des Journalisten Pietro Nicolosi aus Catania, die mir zum Vergleich und zuweilen als Quelle diente, konnte ich nicht in allen Fällen verifizieren. Nicolosi ist ebenfalls Autor einer umfangreichen Chronik Siziliens (1900–1950), die eine Menge kurioser Meldungen aus den Lokalnachrichten, vorwiegend aus Catania, enthält. Eine davon, eine historische Notiz, reizte meine Phantasie besonders: Der «Gefreite Adolf Hitler» war als «Kriegsgefangener» in Sizilien, «interniert in Augusta und für den Bau eines großen Hangars für Luftschiffe eingeteilt». Eifrig suchte ich in Geschichtsbüchern, in Monographien, im Internet nach Belegen dafür. Nichts. Es fand sich keinerlei Hinweis.
Und ohne objektive historische Belege konnte es weder imaginierte Begegnungen noch Berührungspunkte zwischen dem Ciulla meiner Vorstellungswelt und dem unglücklicherweise sehr realen Hitler geben.
Der Duktus der Erzählung wogt hin und her: von absoluter Faktentreue in der Präambel im ersten Teil (die Figur des Cola ausgenommen) und im dritten Teil, über eine Mischung aus Realität und Phantasie im Epilog, bis hin zur vorwiegend fiktiven Rekonstruktion im zweiten Teil und bei den Figuren Masi und Juan.
Mit Sicherheit steht fest, dass Paolo Ciulla ein Zertifikat der Académie des Beaux Arts in Paris besaß, dass er als Kopist im Louvre arbeitete, dass er sich in Le Havre nach Südamerika einschiffte. Aber über sein Leben zwischen 1907 und 1910 ist weiter nichts Gesichertes bekannt.
Echte Dokumente also, und Berichte, häufig erfundener Art, die aber Ciullas Biographie immer als Möglichkeit einbeschrieben sind und sich auf plausible Weise mit historischen Daten und Fakten überschneiden.
Marguerite Yourcenar schreibt in Bezug auf Zenon, den Protagonisten des im 16. Jahrhundert spielenden L’Oeuvre au noir (dt. Die schwarze Flamme): Die Figuren historischer Romane sollten immer von Zeugnissen und Ereignissen gestützt sein, die den Fakten und Daten der Vergangenheit entstammen, also der kollektiven Geschichte, um der «fiktiven Figur diese besondere, durch Zeit und Ort bedingte Realität zu verleihen, ohne die ein ›historischer Roman‹ nur ein gelungener oder misslungener Kostümball ist»3.
Und nicht nur der fiktiven Figur, sondern bisweilen auch den schweigenden Leerstellen einer echten Lebensgeschichte, die durch ihre Verwandlung in Erzählung, wie alle Kunst, unweigerlich verfälschend, also ein Truggebilde ist.

☙ ☙ ☙

Er schloss die Augen, hielt sich die Ohren zu, aber das Zahnrad zerhackte alles — Paris, Buenos Aires, die Schreie der Verrückten in der Psychiatrie — und trug ihn zum Ausgangspunkt zurück: unter die Honoratioren und an allen Ecken lungernden Bettler der Stadt seiner Kindheit, aus der er so schnell wie möglich fortgehen wollte, Turis Beharrlichkeit zum Trotz. Er hatte ihn sofort nach seiner Rückkehr besucht, von seiner Odyssee erzählt, und ihm die Bilder gezeigt, die in Argentinien entstanden waren.
«Du bist ein großer Künstler: Hier, hier musst du bleiben. Über meinen Bruder werden wir in Rom einen Mäzen finden. Catania, im Krieg, was hast du da zu suchen?», hatte Turi überschwänglich gesagt und ihm ausführlich von den tiefgreifenden Veränderungen berichtet, die sich in der Zwischenzeit in Caltagirone vollzogen hatten, wo beide Parteien – Libertinis Konservative und Milazzos Radikale – nun den Priester Luigi Sturzo unterstützten, der die Stadt seit über zehn Jahren energisch verwaltete4. Im Parlament saß nach Arcoleo jetzt der Giolitti treu ergebene Libertini, der bis zum Krieg als Mittler und Friedensstifter zwischen Sturzo und dem Ministerpräsidenten fungiert hatte. Giolitti war schlimmer als Crispi, da er sich in allen Rathäusern auf die Sieger gestützt hatte: in Catania auf den Sozialisten De Felice – der kein Sozialist mehr war, weil man ihn nach seiner Befürwortung des Libyenkrieges aus der Partei geworfen hatte; in Caltagirone auf Sturzos Katholiken; und in ganz Sizilien auf Honoratioren und Mafiosi, was jeden Wandel blockierte.
Während sie auf dem Corso flanierten, blieb Turi stehen, um sich angeregt mit Sturzo zu unterhalten und diesem das doppelte Spiel seiner Partei vorzuwerfen – Hilfen für die katholischen Bauern, und ungebrochene Macht für die Honoratioren.
«Was für ein Parteienleben ist das nur?», fragte Turi polemisch.
«Was ist an diesem Leben denn parteiisch?», entgegnete der Priester streng und grüßte Paolo zerstreut, als hätte er ihn nie zuvor gesehen. «Das Leben des Zentrums bewegt sich nun einmal zwischen zwei Polen: Wir wenden uns dorthin, wo das Beste wartet, ohne politisches Vorurteil und kategorische Ablehnung. Die einzig mögliche Zukunft für Italien, wenn wir nicht im Chaos des sozialistischen Atheismus versinken wollen.»5
Schließlich berichtete Turi ihm auch von der Konversion des erklärten Freimaurers Arcoleo, der sein Leben in einem Kloster in Neapel beschlossen hatte, und vom grausigen Tod Mario Milazzos, der 1910, in einem Hotel in Palermo, von einem Aufzug zerquetscht worden war. Auch er hatte irgendwann Sturzo unterstützt, aber bis zuletzt für die Aufteilung der Ländereien an die Bauern gekämpft.
Paolo widerstand Turis Drängen und kehrte nach Catania zurück; doch der Gedanke, wie Mario zu Tode gekommen war, ließ ihn nicht mehr los. Seine unvoreingenommene, mitreißende Vitalität hatte er an ihm ebenso heftig geliebt wie gehasst: glühendes Magma aus Demagogie und Wahrheit, zügellosem Ehrgeiz und Gerechtigkeitsdurst. Wie bei De Felice. Wie, in anderer Hinsicht, bei ihm selbst, der sich versteckte, sein Anderssein verleugnete: einen widernatürlichen – für ihn natürlichen – Trieb, der sich stürmisch Bahn brach, allen Schein beiseite fegend; ein Ausgestoßener, der jedes Mal gezwungen war, andernorts neu anzufangen, und nun, mit fast fünfzig Jahren, als Bettler und Fremder in eine Stadt zurückkehrte, die er nicht wiedererkannte.
Catania war nicht mehr die Heitere und Barocke, wie er sie vor zehn Jahren verlassen hatte, sondern schwarz von Lavaschlacke und freudlos; vom Mailand des Südens, Stadt der Musikliebhaber und der Industrie, das Turi ihm in seinen Briefen geschildert hatte, fand er keine Spur. Selbst die Jugendstilgebäude schienen unter einer Schicht aus Erschöpfung und Armut, wie sie sich in den zwei Kriegsjahren über alles gelegt hatte, zu zerbröckeln.
Und nach dem Krieg war es nur noch schlimmer: die Fabriken geschlossen, das Schreckgespenst der Spanischen Grippe, hungrige Massen, die aus den Vorstadtvierteln – San Cristoforo, Fortino, Picanello – in Richtung Zentrum strömten, auf der Suche nach irgendeiner Arbeit, die das Überleben sichern würde; wie er es im Übrigen selbst in den ersten Monaten nach seine Rückkehr getan hatte.
Nachdem er die Idee einer Fotowerkstatt vorläufig aufgegeben hatte, ihm fehlten schlichtweg die Mittel, versuchte er sich in allem Möglichen – als Sänger argentinischer Tangos, Straßenmaler, Graveur – und trieb nur mit Mühe das Geld für die ein oder andere Mahlzeit auf.
Er fragte auch Santi nach Arbeit.
«Das Wenige, was ich habe, reicht nicht einmal für mich», antwortete ihm sein früherer Kommilitone peinlich berührt und fügte hinzu – aus Angst, er könnte am nächsten Tag gleich wieder auftauchen: «Meine Frau, du weißt ja … frag doch bei Don Stefano nach, sicher kann er dir helfen.»
«Geh doch selber hin, wenn du so wenig zu tun hast», lautete Paolos bissiger Abschiedsgruß. Erneut fragte er sich, wie die beiden wohl zueinander standen; Santi tat zwar unschuldig, doch musste er über Don Stefanos Aktivitäten Bescheid wissen, ihm vielleicht sogar zur Hand gehen, wenngleich er als Künstler zu mittelmäßig war – nie einer Versuchung nachgab, nie ein Wagnis einging –, um einen guten Fälscher abzugeben.
Einige Jahre vor seiner Abreise nach Paris hatte er auf Santis Bitte hin ein Portrait von ihm gefertigt, das dieser dann wutentbrannt abgelehnt hatte; damals war Santis Hass aufgeflammt, als hätte er in jenem überheblichen Blick, in den zusammengepressten Lippen die eigenen uneingestandenen Wünsche erkannt, und sein Unvermögen als Kolorist, der niemals ein Künstler sein würde.
An seinem fünfzigsten Geburtstag dann hatte Paolo, lange vor dem Spiegel versunken in seine düsteren Gedanken und seinen erloschenen Blick, einen Entschluss gefasst. Er ging zu Don Stefano, der ihn wie einen wiedergefundenen Freund aufnahm, ohne jegliche Anspielung auf ihr früheres Zerwürfnis, und ihm von der Tochter erzählte, die nun glücklich mit einem Graveur verheiratet war. Er beauftragte ihn sofort mit dem Portrait seiner im Sterben liegenden Frau und legte ihm nahe, nicht wieder zu verschwinden: Nach dem Tode seiner Frau – eine Frage von Tagen – wollte er das Gespräch wiederaufnehmen, das vor Paolos Abreise abgebrochen war, und ihm, gemeinsam mit anderen Freunden, die besten Gerätschaften zur Verfügung stellen.
Zwei Wochen später fand Paolo sich in einem abgelegenen kleinen Haus in Pedara wieder, mit allem, was er zum Fälschen des Fünfzig-Lire-Scheins brauchte; eine neue Version, äußerst schwierig nachzuahmen.
Monatelang versuchte er es – ganz auf sich gestellt – wieder und wieder, perfektionierte jedes Detail, während sämtliche Alltagssorgen verschwammen, abgedrängt an den Rand seines Bewusstseins. Schließlich entdeckte er, dank einer Mischung aus Tierfetten, die er zum Kochen brachte, das Geheimnis einer perfekten Nachbildung des Wasserzeichens. Der Besitzer des Hauses in Pedara wurde verhaftet – man überraschte ihn, als er versuchte, illegal eingeführte Kleie in ein kleines Dorf am Ätna zu schmuggeln – und die Werkstatt wurde nach Catania in die Kellerräume von Santis Wohnhaus verlegt. Eine Zeit lang zeigte Santi sich Paolo freundlich zugewandt, kam oft herunter, um sich zu erkundigen, wie es mit der Arbeit voranging. Doch Paolo wich ihm aus – das Geheimnis dieser komplizierten Fälschung gehörte ihm, ihm allein. Santi begriff und wurde wieder feindselig. Er verweigerte ihm sogar die Hilfe eines seiner jungen Gesellen, der ihn nach Hause begleiten sollte. Denn ätzende Pulver, Säuren und Lösungsmittel schädigten, zusammen mit der mühsamen Gravurarbeit und seinem hohen Blutzucker – ein Erbe des Vaters –, unwiederbringlich Paolos Augenlicht.
Als die Banknoten nach getaner Arbeit kurz vor dem Druck standen – abgesehen vom etwas zu dicken Papier war alles perfekt –, brachten Don Stefano und seine Freunde die Klischees an sich und verjagten Paolo, den sie für einen nutzlosen blinden Fälscher hielten; um den Druck kümmerte sich nun Santi, der keinen Verdacht auf sich lenken und die Werkstatt wieder nach Pedara verlegen wollte.
Paolo verschwand spurlos, anders als es seine ehemaligen Partner erwartet hatten. Ein Falschgeldhändler wusste ihnen zu berichten, er arbeite nun auf eigene Faust; eine unglaubwürdige Neuigkeit, wie sie fanden: Was konnte er schon tun, blind, wie er war?
Nur Santi erzählte, wie Paolo einmal gegen Mittag bei ihm zu Hause aufgetaucht war, ihn und seine Frau beschimpft und zum Abschied «Als Christus bete ich dich an, als Holz spalte ich dich!» gerufen hatte.6

☙ ☙ ☙

Paolo saß an einem Tischlein vor dem Café Tricomi und hielt unter wildem Gestikulieren stumme Selbstgespräche, vor sich ein Eis, das nicht zur Jahreszeit passte.
Er führte die Zeitung ganz dicht an die Augen heran, um sie plötzlich angeekelt wieder wegzuhalten. «Sie haben sich abgesprochen, die Dreckskerle», dachte er erbost, während Passanten beunruhigt die Straßenseite wechselten. Er bemerkte die Verunsicherung und spürte, dass seine Gesten den ursprünglichen Zusammenhang seiner Gedanken verließen und eigenmächtig ihres Weges gingen, doch er konnte nichts dagegen tun. Er war wütend. Völlig außer sich.
Mit den «Dreckskerlen» meinte er an jenem Morgen Ende März 1920 insbesondere die Industriellen, die den Verband Confindustria gegründet hatten, um vereint den aufbegehrenden, die Betriebe besetzenden Arbeitern entgegenzutreten; aber die Beschimpfung schloss alle ein: Gutsbesitzer, Adlige, Priester, Herrscher, Minister, Generäle und seinen Ex-Genossen Mussolini, den die Katholiken und Sozialisten bei den Wahlen in Mailand im vorigen November geschlagen hatten. Ebenfalls Dreckskerle, folgerte er, aber mit einer Art inneren Atemanhaltens, einem uneingestandenen Schuldgefühl. Er warf die Zeitung zu Boden und kehrte zurück zu den Resten im Eisbecher und dem Problem, das ihn seit Tagen quälte: Alles stand nun bereit für den Fünfhundert-Lire-Schein, Pressen, Tinte, Säure, Kleber, Walzen, Klischees – alles, bis auf das richtige Papier, leicht und gerade leimig genug, das er noch immer nicht gefunden hatte.
Während er den kleinen Teller in der Hand hielt, berührten seine Fingerkuppen den Rand des Blättchens unter dem Eisbecher; er spürte jede Faser mit ihrer Porosität, Konsistenz, den kaum merklichen Erhebungen und Vertiefungen.
«Das da. Das ist es!», rief er laut und fühlte sein ganzes Leben erlöst in diesem feuchten Papierrand zusammenströmen: sein jahrelanges, leidenschaftliches Studium an der Akademie und seine oft geringgeschätzte Kunst; seine vielen Spaziergänge durch die Straßen von Buenos Aires, von Paris; die Gesichter der Genossen – nie überwunden –, die wiederkehrten, an verzweifelten Tagen wie in schlaflosen Nächten, um ihm zu zeigen, worin der Sinn ihres Todes und der Zweck seines Lebens lag. «Verfluchtes Geld», dachte er.
Ob seiner Bitte sah ihn der Kellner verdutzt an, kehrte aber kurz darauf mit einigen papiernen Untersetzern zurück. Dann ging er weiter zu einem anderen Tisch, froh darüber, dass in Zeiten großer Not und übergroßen Geizes Verrückte wie dieser hier unterwegs waren. Er hatte ein Trinkgeld bekommen, das zehnmal so hoch war wie der Preis des Eises. An diesem Abend sollte seine verhärmte Tochter, die das karge Essen über hatte, fürstlich speisen.
Auf seinem Weg zur Piazza Università half Paolo sich mit dem Stock, um nicht auf dem tückisch maroden Pflaster der Via Stesicoro Etnea zu stolpern. Er schlug einen großen Bogen um die tägliche Schar von Demonstranten und erreichte schließlich die Mietkutschen, die an einer Seite des Platzes warteten.
Während er in einer Kutsche die Stadt durchquerte, sah er, wie ein Regen aus Fünfhundert-Lire-Scheinen, himmelblau und violett, auf Straßen, Gebäude, Plätze, Krankenhäuser, Banken und stillgelegte Fabriken niederging.

 

  1. Die drei Abschnitte (S. 7–10 sowie S. 141–149) stammen aus dem kürzlich im Verlag Edition Converso erschienen Roman Der kunstfertige Fälscher. Ausführliche Notizen über den kuriosen Fall des Paolo Ciulla aus Caltagirone von Maria Attanasio (https://www.edition-converso.com/buecher/der-kunstfertige-faelscher). Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung. Die Nummerierung der Anmerkungen wurde beibehalten. Mehr zu Maria Attanasio unter https://www.edition-converso.com/maria-attanasio.
  2. Der Titel ist dem Begriff in fin di vita – «dem Tode nahe» – nachgebildet. (Anm. d. Ü.)
  3. Vgl. Marguerite Yourcenar: Die schwarze Flamme. Aus dem Französischen von Anneliese Hager, René Cheval und Bettina Witsch. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1993.
  4. Im Jahr 1905 wurde in Caltagirone ein Gemeinderat, aber kein Bürgermeister gewählt: Sturzo kümmerte sich als Ratsmitglied um Finanzen, Infrastruktur und Bauwesen sowie Personal und wurde in dieser Funktion auch als «stellvertretender Bürgermeister» tituliert. Rein formal gesehen hatte Caltagirone aber bis zu Sturzos Rückzug im Jahr 1920 keinen Bürgermeister. (Anm. d. Ü.)
  5. Dieses Zitat aus Sturzos Zeitung Croce di Costantino vom 17. April 1904 ist mir durch Rosario Mangiamelis Buch Le officine della nuova politica (C.U.E.C.M., Catania 2000) in den Schoß gefallen; den letzten Satz habe ich selbst hinzugefügt.
  6. Das Zitat wird Papst Sixtus V. zugeschrieben: Es heißt, er habe auf ein angeblich Blut schwitzendes Kruzifix eingeschlagen, woraufhin ein blutgetränkter Schwamm zum Vorschein gekommen sei. (Anm. d. Ü.)