Daniele Comberiati: Un autre monde est-il possible? Bandes dessinées et science-fiction en Italie, de l’enlèvement d’Aldo Moro jusqu’à aujourd’hui (1978–2018)
Macerata: Quodlibet 2019, 102 S., Euro 10,00
ISBN 978-88-229-0332-7

· Sabrina Maag ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-DA5F-A

Daniele Comberiatis Studie widmet sich einem Thema, das zwar schon länger Gegenstand der Forschung ist, das aber in den letzten Jahren einen enormen Boom erlebt: den bandes dessinées, speziell den italienischen. Das angestiegene Interesse der Wissenschaft an diesem Genre erklärt sich aus der Entwicklung desselben, dessen Anfänge bereits kontrovers datiert werden, wobei die variierenden Ursprungs-Zuschreibungen von den satirischen Bild-Text-Beiträgen in Zeitschriften Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu den Höhlenmalereien der Steinzeit reichen.1 Mindestens ebenso kontrovers wird eine jüngere Entwicklung diskutiert, die den zuvor eher als minderwertig, der Populärkultur zugehörig und durch seine Serialität bereits suspekt erscheinenden Comic oder fumetto aufwerten und als graphic novel der anspruchsvollen Literatur ebenbürtig wissen will.2 Die Anfänge dieser Entwicklung liegen in den Vereinigten Staaten der 1950er- und vor allem 1960er-Jahre, in denen der Comic in einer neuen Gestalt als underground-Text auftritt und sich von den Klischees erfolgreicher Vorgänger ab- und heiklen, gesellschaftskritischen Themen zuwendet.3

Comberiatis Analyse setzt ebenfalls bei einer Ambivalenz ein, die sich jedoch zunächst auf ein anderes Genre bezieht: das der Science Fiction. Auch sie steht unter dem Verdacht der mangelnden Qualität4, nicht zuletzt durch die Zuschreibung von Michel Butor, auf den Comberiati verweist, wenn er zusammenfassend den Ruf der Science Fiction als «des histoires hautement traditionnelles [qui] sont transplantées dans l'avenir, dans les constellations du bout de l'univers, ou dans les deux, simultanément» (S. 11) beschreibt. Comberiati nimmt diese Charakterisierung auf und stellt die Hypothese auf, daß die Rückwärtsgewandtheit, «le côté ‹rétro›» (ebd.), der Science Fiction Indiz einer gesellschaftlichen Krise sei, die in der Folge zur Idealisierung der Vergangenheit führe. Demgegenüber stellt er in der aktuellen Science Fiction die neue Tendenz fest, sich an der Gegenwart zu orientieren, wobei die entworfenen Dystopien Ausdruck der Ängste der jeweiligen Entstehungszeit seien.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der zeitliche Rahmen, den die Studie wählt und der auf den ersten Blick überrascht: die Zeitspanne zwischen der Entführung Aldo Moros 1978 und der aktuellen Gegenwart des Jahres 2018. Er entsteht aus der Wahl der als beispielhaft bezeichneten Comics, Ranxerox (1978–1996), Nathan Never (1991–laufend) und Orfani (2013–laufend). Alle drei interpretiert Comberiati als Reaktion auf eine aktuelle Krise, eine Verunsicherung der Gesellschaft: In Ranxerox ist dies der Terrorismus der brigate rosse und die Enttäuschung über die Politik, in Nathan Never sind es die sozialen Spannungen, die das Italien Silvio Berlusconis und der ersten Einwanderungswellen in den 1990er-Jahren begleiten, in Orfani die aktuellen Kriegsgeschehnisse und die daraus erwachsenden großen Migrationswellen unserer Tage (S. 13 f.). Markieren diese drei Comics verschiedene ‹Epochen›, so sind folgerichtig ihre Helden auch verschiedener Natur.
Ranxerox ist eine ‹moderne› Version von Frankensteins Monster: er wird – nicht zufällig im Jahr der Entführung Aldo Moros durch die brigate rosse – von einem Studenten ‹erschaffen›, um diesen, der aufgrund seiner politischen Aktivitäten im Untergrund leben muß, mit Informationen ‹von draußen› zu versorgen. Sein Schöpfer stirbt jedoch schon kurz nach Ranxerox' ‹Geburt›, so daß sich dieser, ohne Bezugsperson und ohne Aufgabe, in einem von Gewalt und Chaos gekennzeichneten Rom zurechtfinden muß (S. 27).

Die Figur des Nathan Never hingegen nimmt das Motiv des Privatdetektivs auf. Während im Italien des Jahres 1991 das erste von vielen Schiffen mit albanesischen Flüchtlingen anlegt, erscheint mit Nathan Never ein Privatdetektiv, der sich in einer Gesellschaft bewegt, die aus Menschen, Androiden und Cyborgs besteht. Nicht nur sein Umgang mit neuen Technologien und seine daraus resultierende Überlegenheit den Androiden gegenüber sind ein roter Faden im Comic, sondern auch die gesellschaftlichen Unterschiede im Allgemeinen:

les divisions et les limites entre les différentes parties de la société présentées par la B.D. sont visibles à plusieurs niveaux: il y a bien évidemment le coté «racial», où les différences entre androïdes, hommes et cyborgs sont les plus évidents; il y a une division spatiale, car le monde de Nathan Never est divisé verticalement […] et les classes sociales moins aisées occupent les niveaux les plus bas. (S. 45)

In Orfani schließlich begegnet uns als Protagonist eine Gruppe Jugendlicher, die Überlebende einer Katastrophe sind, welche große Teile der Menschheit ausgelöscht hat, und die nun von einer gewissen Madame Juric zur Bekämpfung der für die Katastrophe verantwortlich gemachten Außerirdischen ausgebildet und von ihr manipuliert werden. Die Angst vor dem ‹Anderen›, die sich als fingierte Bedrohung herausstellt, da nicht jene, sondern ein Unfall im Teilchenbeschleuniger vom CERN bei Genf für die Katastrophe verantwortlich ist, die selbst entwickelte Technologie also zur Bedrohung für die Menschheit geworden ist (S. 59), und die Manipulation der Massen, auf die Madame Juric spezialisiert ist, spiegeln in vielfacher Hinsicht die aktuelle Situation in Europa und darüber hinaus wider.

Nicht nur der Bezug auf gesellschaftliche Ängste und Krisen unterscheidet die behandelten Texte von den klassischen Superhelden- und Micky Maus-Comics. Sie sind in mehrerlei Hinsicht durch Ambivalenzen und Grenzüberschreitungen gekennzeichnet, die Comberiati aufzeigt. Durch vielfache intertextuelle Verweise verorten sie sich selbst innerhalb verschiedener literarischer Genres wie der schon genannten Science Fiction, der Dystopie, aber auch dem klassischen Superhelden- oder Privatdetektiv-Comic. Doch nicht nur auf andere literarische Genres wird verwiesen: Mit den Zusammenfassungen in Staffeln («saison», S. 58) bewegt sich Orfani im Spannungsfeld der Transmedialität (S. 81), indem ein enger Bezug zu Fernsehserien hergestellt wird, ein Bereich, der eine ähnliche Entwicklung durchmacht wie die Comics. Zunächst als populär und damit von geringer Qualität angesehen, gehen in den 1990er-Jahren von Serien wie Twin Peaks und später den Sopranos im amerikanischen Fernsehen Impulse für Innovationen im Genre der soap operas aus, die jene in die Liga des sogenannten ‹quality tv› aufsteigen lassen.5
Es ist nicht nur die Komplexität ihrer Intertextualität, welche die untersuchten bandes dessinées eindeutig der Kategorie der graphic novels zugehörig erscheinen läßt. Auch der reflektierte Umgang mit der Farbe innerhalb der Panels geht weit über die simple Colorierung hinaus, so Comberiati, wenn er im Fall des Zeichners von Orfani bemerkt:

ses expériences acquises dans les contextes américaines et français […] lui ont permis de concevoir une coloration très innovante pour une B.D. commerciale italienne, et sourtout de considérer à tous les effets la couleur comme un élément de la narration. (S. 64)

Es ist genau dieser doppelte Ansatz einer Erzählung, die zugleich aus Worten und Bildern besteht, wobei nicht die einen als Illustration oder Erklärung der anderen angelegt sind, sondern in einem Verhältnis der Komplementarität erst das Ganze des Kunstwerks bilden, die für die ganz junge Theorie der artistic research von zentraler Bedeutung ist.6
Trotz allem bleibt jedoch die Ambivalenz der Texte bestehen, wenn Comberiati unterstreicht, daß alle drei Werke zumindest ursprünglich als Serien in klassischen Comic-Verlagen wie Sergio Bonelli Editore (Nathan Never und Orfani) oder Primo Carnera (Ranxerox) erschienen sind. Sie schwanken damit zwischen den verschiedenen, auch von Comberiati angeführten Arten des Comics, den bandes dessinées underground, d'auteurs und commerciales (S. 20), ohne sich eindeutig zuordnen zu lassen, und heben auf einer Metaebene des Textes durch ihre intertextuellen Verweise, die sie an alle Genres rückbinden, diese Unterschiede auf.

Mit seiner nur gut 100 Seiten umfassenden Studie legt Daniele Comberiati eine Untersuchung vor, die anhand der von ihm gewählten Beispiele nicht nur verschiedene, aktuell diskutierte Aspekte der Comicforschung aufgreift, sondern einen entscheidenden Beitrag zur Geschichte und Theorie der graphic novel leistet, der letztlich eine Brücke schlägt zu aktuellen Ansätzen wie der artistic research und Entwicklungen wie der des graphic journalism, einem Genre, in dem Italien mit Verlagen wie BeccoGiallo wiederum eine entscheidende Rolle spielt.

  1. Vgl. z. B. Daniele Barbieri, Breve storia della letteratura a fumetti, Roma 2009; Scott McCloud, Understanding Comics. The invisible art, New York 1995.
  2. Vgl. z. B. Monika Schmitz-Emans, Literatur-Comics. Adaptionen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin 2012.
  3. Vgl. z. B. Julia Abel / Christian Klein (Hrsgg.), Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, Stuttgart 2016.
  4. Daniele Comberiati, Un autre monde, est-il possible?, Macerata 2019, S. 21.
  5. Vgl. z. B. Uwe Durst / Sabrina Maag / Kristin Rheinwald u. a. (Hrsgg.), Wie die Sopranos gemacht sind. Zur Poetik einer Fernsehserie, Wiesbaden 2017.
  6. Zur artistic research vgl.: Annette W. Balkema / Henk Slager (Hrsgg.), Artistic Research, Amsterdam/New York 2004; Julian Klein: «Was ist künstlerische Forschung?», in: Gegenworte, 23/2010, S. 24–28.