Dantes Inferno, filmisch erzählt:
Visualisierte Geschichte in Le lunghe notti di Anna Alrutz von Ilva Fabiani

• Fabian Scharf •


PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EAA8-4

Obwohl Ilva Fabianis Le lunghe notti di Anna Alrutz bereits 2014 in der Reihe «I Narratori» beim renommierten Mailänder Verlag Feltrinelli erschienen ist und in Italien mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde1, hat die deutsche Öffentlichkeit bislang wenig Notiz von einem Romandebüt genommen, das sich der Zwangssterilisationen unter der Nazidiktatur annimmt und trotz des bedrückenden, unpopulären und lange Zeit tabuisierten Themas durch seine poetische Sprache, seinen sensiblen Ton und sein feines Gespür für die Psychologie der Figuren überzeugt. Letztere bestehen zum einen aus fiktiven und zum anderen aus historischen bzw. historisch inspirierten Figuren.2

Gleich im Prolog werden wir von der Tatsache überrascht, dass uns die Ich-Erzählerin ihr Geburtsdatum, das mit ihrer Dienstnummer identisch ist (271207), und das Datum ihres Todes (06.12.1935) mitteilt: Es ist der Geist der Anna Alrutz, der uns über ihr kurzes Leben und Wirken als NS-Schwester in der Göttinger Frauenklinik berichtet. In fast permanenter Rückschau durchleben wir einzelne, mehrheitlich in chronologischer Reihenfolge erzählte Szenen, die sich am Ende zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Dank der besonderen Erzählsituation – der Geist Annas wird durch jeden Windhauch fortbewegt und kann über die zu erzählende Episode nicht selbst entscheiden – spielt sich die Handlung des Romans vor dem inneren Auge der Lesenden als visualisierter narrativer Prozess ab, der einerseits an die Techniken des filmischen Erzählens mit seinen verschiedenen Kameraperspektiven, Voraus- und Rückblenden, Standbildern, Zeitlupen und (Selbst-)Kommentaren durch ein sogenanntes Voiceover erinnert.3 Andererseits ist die Erzähltechnik von einem großen Vorbild des Trecento, dem wohl berühmtesten Werk der italienischen Literatur inspiriert: Im fünften Gesang des Inferno zeigt Dante Alighieri, wie der höllische Orkan die Geister quält, indem er sie packt, sie fortreißt, sie dreht und herumschleudert:

La bufera infernal, che mai non resta,
mena li spirti con la sua rapina;
voltando e percotendo li molesta. (Inferno V, 31–33)4

So geht es auch Annas Geist, der im Prolog von einer eisigen Windböe emporgehoben und zurückgeworfen geworfen wird, sodass er in arbiträrer Abfolge immer wieder dieselben Situationen seines irdischen Daseins durchlaufen und die daran beteiligten Personen betrachten muss und sich fragt, was der Sinn dieser bizarren Übung ist:

Ogni tanto accade che un vento gelido mi sollevi e mi catapulti all’indietro. Dal passato riaffiorano situazioni e persone in sequenze arbitrarie, spesso senza una logica. Rivedo le scene decine di volte e per decine di volte non colgo che gli stessi particolari – a cosa mira questo bizzarro esercizio?5

Dass diese Höllenqualen sowohl dantesker als auch dystopischer Ausprägung sind, zeigt die Folterszene aus der Romanverfilmung A Clockwork Orange von Stanley Kubrick (1971), in der sich die Hauptfigur Alex DeLarge (Malcolm McDowell) auf einem Kinosessel fixiert willkürlich zusammengestellte Filmszenen ansehen muss und dabei den Verstand zu verlieren droht. Während Alex auf der filmischen Metaebene Kubricks dem erzählenden Ich in Fabianis Roman ähnelt, weil er gezwungenermaßen Augenzeuge der Naziverbrechen ist – er soll dahingehend konditioniert werden, Gewalt nicht mehr ertragen zu können, indem ihm Filmausschnitte aus dem Zweiten Weltkrieg und von Adolf Hitler auf dem Nürnberger Reichsparteitag vorgespielt werden, die mit seiner Lieblingsmusik, Beethovens 9. Sinfonie, unterlegt sind –, wird Anna als Romanfigur und erlebendes Ich, nachdem sie schon als Jugendliche begeisterte Zuhörerin des Klavierspiels ihrer Schwester Hedwin sowie einer Hitler-Rede in Braunschweig war, zur Überzeugungstäterin.

Der Roman beginnt mit dem Bild einer trügerischen Idylle, in der die Arzttochter Anna Alrutz mit ihren Eltern und jüngeren Geschwistern Hedwin und Willi in Braunschweig aufwächst. Dass die wohlhabende Bürgerfamilie die Sommerferien immer in demselben Luftkurort, Bad Salzgitter, verbringt, verwundert die Lesenden und wird aus der medizinischen Sicht des Dr. med. Alrutz mit Hedwins erblich bedingter Lungenkrankheit gerechtfertigt, birgt jedoch in Wahrheit eine Lebenslüge, ein Familiengeheimnis, das die Erzählerin im vierzehnten Kapitel des Romans lüften wird. Die immer wieder verwendeten Motive der deutschen Romantik zeugen einerseits von Annas glücklicher Kindheit zwischen Waldspaziergängen und Märchenspielplätzen. Andererseits übernehmen sie die Funktion einer düsteren Vorahnung der Katastrophe. Dabei kommt den im Roman erwähnten Orten und historischen Figuren eine besondere Bedeutung zu. So hat das Spielen von Anna und ihrer Freundin Helene zwischen den Märchenfiguren von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, Dornröschen sowie Hänsel und Gretel im Greifpark von Bad Salzgitter einen bitteren Beigeschmack, da wir heute wissen, dass die von Reinhard Martin Stoot, von den Einheimischen liebevoll «Onkel Stoot» genannt, nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen überlebensgroßen Steinskulpturen und der von ihm angelegte Märchenwald, der sich bei Sonntagsausflüglern großer Beliebtheit erfreute, 1941 von den Nazis als «entartete Kunst» zerstört wurden, bevor der Park in den letzten Kriegsjahren in eine Stellung für Fliegerabwehrgeschütze umfunktioniert wurde. Die Schrecken des Nationalsozialismus, die im Laufe des Romans durch historische Orte wie die Göttinger Frauenklinik und die Konzentrationslager Moringen und Drütte symbolisiert werden, äußern sich zunächst noch nicht in Form von Rassenhygiene und Eugenik, sondern halten auf subtile Weise Einzug über die Diskurse der bildenden Kunst. In diesem Zusammenhang überrascht Fabianis in Italien verlegtes Werk durch regionales niedersächsisches Lokalkolorit und gut recherchierte geografische Details, sei es die den Eingang des Greifparks einst beherrschende Skulptur des «Wilden Mannes», die durch eine Harzer Volkssage inspiriert war, oder der Plünneckenbrunnen, beliebtes Wanderziel und locus amoenus des Romans.

An die Stelle der Begeisterung für Grimmsche Märchen und Volkssagen tritt bei der heranwachsenden Anna ihre unerfüllte romantische Liebe zum Pastor Heinrich Rudinski, dessen Schwanenhals das Mädchen sich zu jeder Zeit vom tristen Braunschweig ins sommerliche Bad Salzgitter wünschen lässt, dessen Verhalten und Gefühle Anna jedoch Rätsel aufgeben und der mit seiner Frau Nelly und seinen drei Söhnen eines Tages im Jahr 1942 spurlos verschwinden wird. Rudinski, der in jungen Jahren an der Berliner Akademie der Künste studiert hat und Anna die Zeichnung eines Greifs widmet, die anstelle eines Hitler-Portraits noch ihr Göttinger Schwesternzimmer zieren wird, liefert mit dem mythischen Mischwesen das Leitmotiv des Romans, das die ambivalente romantische Stimmung, die innere Zerrissenheit sowie den fortwährenden Widerspruch zwischen Vernunft und Gefühl bei der Hauptfigur symbolisiert. Anna, die als strebsam, ordnungsliebend, strukturiert und zuweilen als dickköpfig, engstirnig, ja als gewalttätig beschrieben wird, verliebt sich in den eher blassen, geschwätzigen und charakterschwachen Pastor Heinrich Rudinski.

Dem Roman gelingt es, gesellschaftliche Diskurse und Konflikte – von der Dolchstoßlegende bis zum Reichstagsbrand – sowie politische Entwicklungen dank der Figurenkonstellation auf literarisch verknappte und gleichzeitig plausible Weise darzustellen. Während sich Heinrichs Ehefrau Cornelia Schrott, genannt Nelly, in ihrer Berliner Jugend dem Spartakusbund um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht angeschlossen hatte, verkörpert ihr Ehemann die ambivalente Haltung der evangelischen Kirche in der Weimarer Republik, die bereits ihre fast völlige Gleichschaltung unter der Nazidiktatur andeutet. Dies zeigt sich beim Übergriff von zwei Jugendlichen auf Willis Spielkameraden Jakob, genannt Kuba Goldfinger, der den Angriff der Schläger nur knapp überlebt. In seiner sonntäglichen Predigt ist Pastor Rudinski nicht in der Lage, die in der Kirchengemeinde zunehmenden Diskriminierungen, Anfeindungen und körperlichen Übergriffe auf die jüdische Mitbevölkerung zu verurteilen. Statt sich vom Angriff auf ein jüdisches Kind aus der Mitte der Dorfgemeinschaft zu distanzieren, schwadroniert Rudinski von Kain und Abel, wodurch sich die theologische und gesellschaftliche Misere einer ganzen Epoche in einer einzelnen Romanszene und im Mikrokosmos von Bad Salzgitter kondensiert. Letzterer wird durch die literarischen und filmischen Anspielungen auf Françoise Sagan6 und Michael Haneke7 zum einen als dörfliche Einöde, als Ort der Melancholie, als «Baddeckenstedt Tristesse»8 beschrieben und erweist sich zum anderen als ein geschlossenes System der Sittenstrenge und Doppelmoral, wie wir es aus dem imaginierten Dorf Eichwald in Hanekes Film kennen, der einige Handlungsmotive des Romans inspiriert zu haben scheint.9

Gleichzeitig wartet Le lunghe notti di Anna Alrutz mit überraschenden Wendungen auf: Wilhelm Alrutz, genannt Willi, der zu Anfang durch seine adipöse Weichheit und körperliche Schwäche charakterisiert wird, erscheint zunächst als Müßiggänger und Langschläfer, erweist sich im Laufe des Romans jedoch als belesener, weitsichtiger und freigeistiger junger Mensch, der im Gegensatz zu seiner Schwester gegen die Propaganda des Nationalsozialismus immun ist. Was die Figurenkonstellation betrifft, ist also festzuhalten, dass der anfängliche Schein trügt: Obwohl Anna den Lesenden zu Beginn als gefestigt und charakterstark erscheint, ist sie in Wirklichkeit mehr als nur eine angepasste Mitläuferin, da sie sich nicht nur mit den einfachen Wahrheiten der nationalsozialistischen Rassenlehre begnügt, sondern auch aktiv in die an der Göttinger Frauenklinik begangenen Naziverbrechen verwickelt ist, bis sie durch eher persönliche Umstände denn aus politischer Überzeugung zum Einlenken gebracht wird. Sie personifiziert die Gefahr des vermeintlich Unpolitischen, das schon den jungen Thomas Mann dazu gebracht hatte, die Beteiligung Deutschlands am Ersten Weltkrieg zur Verteidigung der romantischen Nationalkultur zu verklären, während sich sein Bruder Heinrich in seinem Essay über Émile Zola mit den Werten der Aufklärung und der europäischen Zivilisation solidarisierte.10 Der Antagonismus zwischen Anna und Willi offenbart sich in Kapitel 9, als sie sich nach der Hitler-Rede in der Braunschweiger Innenstadt in zwei verfeindeten Lagern gegenüberstehen.

Annas erster Kontakt mit der Nazi-Ideologie entsteht über die Figur des Hadrian, den Stiefbruder ihrer Schulfreundin Lotte, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg Mitglied beim Wehrverband Stahlhelm ist und mit seinen stechenden, blassblauen Augen, seinem impulsiven Charakter und seiner mangelnden humanistischen Bildung als Karikatur eines Nazis der ersten Stunde erscheint. Dies zeigt sich vor allem beim gemeinsamen Theaterbesuch im Jahre 1924, als Hadrian in voller Pracht seiner SA-Uniform in Sophokles’ Antigone einschläft, während Anna gebannt den tragischen Konflikt der zwischen Gesetz und Moral gefangenen Heldin verfolgt. Anfang der Zwanzigerjahre nimmt Hadrian Einfluss auf Anna, indem er ihr gegenüber seine Ablehnung des Versailler Vertrages und seine von Antisemitismus geprägten Überzeugungen äußert. Und dennoch kann er das junge Mädchen beeindrucken und für seine Bewegung gewinnen, deren Anhänger sich auf einer geheimen Braunschweiger Versammlung des Stahlhelms treffen, an der auch Anna und Lotte im Winter 1922/23 teilnehmen. Durch die besondere Erzähltechnik, deren Hauptmerkmal der kontinuierliche Wechsel zwischen erlebenden und reflektierenden Passagen ist, wird Annas nationalsozialistische Initiation besonders eindrücklich geschildert. Nachdem die Jugendliche mit der Eröffnungsrede konfrontiert worden ist, interveniert die Erzählerin, der Windhauch, um das Gehörte retrospektiv zu reflektieren, und die Szene scheint anzuhalten. Wie in einem filmischen Standbild, einem freeze-frame oder arrêt-sur-image, betrachtet Annas Geist die erstarrten Figuren und sich selbst. Der psychologische Akt der Selbstreflexion wird durch den visuellen Effekt der Autospektion untermalt, für den die Erzählerin eine imaginäre Stopp-Taste gedrückt hat, weil die Zeit stillzustehen scheint: Als sie die Szenerie rückblickend und in einem neuen Blickwinkel betrachtet, indem sie von der Rednerbühne aus ihr jugendliches Selbst an der Wand des dunklen Kellergewölbes lehnen sieht, reflektiert Anna nicht nur die bedrückende Atmosphäre des Geheimtreffens und die Selbstzweifel bezüglich ihres Äußeren, das sie auf die Zöpfe und die breiten «Männerschultern» reduziert, sondern antizipiert auch die Zukunft aller anwesenden Personen, die auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges den Tod finden werden. Sie möchte die frisch rasierten ernsten jungen Menschen in ihren Uniformen anschreien, sie aus ihrem nationalistischen Wahn wachrütteln und somit Einfluss auf den Verlauf der Geschichte nehmen, sieht sich jedoch untätig, einer sechzehnjährigen Büßerin gleich, an die Kellerwand gedrückt:

Eccomi di nuovo qui, questa volta come vento. Percorro la sala, leggera, fino a trovarmi sul palco. Da qui la scena è diversa: una platea di giovani seri e impettiti nelle divise, le guance ben rasate e le membra che qualche anno dopo sarebbero bruciate sui campi di battaglia. Li guardo e, sapendo quello che accadrà, ho pena per le loro vite. Vorrei urlare: tornate a casa e lasciate perdere la salvezza della patria. Disertate. Smettete quella divisa, vestite panni civili e sopratutto uscite fuori. Vivete, intensamente, siete ancora in tempo. Poi lo sguardo va oltre: vedo Lotte, appoggiata al muro, che fa fatica a restare in piedi. […] E io, al suo fianco, sedicenne, con le mie trecce e le spalle da uomo, che respiro malvolentieri quell’aria consumata e che sto lentamente perdendo la pazienza. Vorrei dirmi di risalire in strada e poi fuggire a casa nel vento freddo […]. Ma restai lì, appoggiata al muro, quasi in penitenza.11

Die dem filmischen Erzählen entlehnte dramatisierende Technik des Standbildes, die auch als Standkopierung, Stehbild oder Stoppbild bezeichnet werden kann12, begegnet uns an anderen Stellen des Romans als personifizierte Zeit, die stehenbleibt, um die Freundinnen Anna und Helene zu betrachten13, oder in Form eines Cliffhangers, den die alles entscheidende Frage zwischen Kapitel 17 und 18 darstellt, ob den Klinikpatientinnen vor ihrer Zwangssterilisation zur Flucht verholfen werden sollte.14 Im Kino der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Standbild unter verschiedenen Vorzeichen und zur Erzielung diverser Effekte der Verdichtung, Zuspitzung und Dramatisierung verwendet und prägt nicht nur die narrativen Strukturen in modernen Filmklassikern von François Truffaut (Jules et Jim, 1961) bis Quentin Tarantino (Pulp Fiction, 1994), sondern beeinflusst auch den italienischen Neorealismus eines Gillo Pontecorvo (La Battaglia di Algeri, 1966). In Fabianis Roman findet sie ihren emotionalen Ausdruck in der penitenza, der Buße, die bereits das vorangestellte Talmud-Zitat15 dominiert und insofern in Le lunghe notti di Anna Alrutz ein Leitmotiv ist.

Auch in Dantes Divina Commedia ist die penitenza allgegenwärtig. Während wir ihr dreimal explizit an der Textoberfläche begegnen – im XI. Gesang des Inferno, im XIII. Gesang des Purgatorio und im XX. Gesang des Paradiso16 –, tritt sie im Inferno vor allem im Zusammenhang mit den Begriffen der pena, der Strafe, und des contrapasso, der sich aus dem Lateinischen contra und patior zusammensetzt und wörtlich mit «das Gegenteil erleiden» zu übersetzen ist, in Erscheinung. Der contrapasso wird am Ende des XXVIII. Gesangs wörtlich erwähnt17, als der Troubadour Bertran de Born, nachdem er im Leben Zwietracht gestiftet hat, in der Hölle seinen abgeschlagenen Kopf als Laterne vor sich hertragen muss. Der bei Dante enthauptete Dichter, dessen in okzitanischer Sprache verfasstes Werk aus dem 12. Jahrhundert unter anderem Heinrich Heine, Ezra Pound und Paul Auster beeinflusst hat, wird in einer der berühmten Illustrationen von Gustave Doré dargestellt, die zum Kulturerbe der künstlerischen Moderne und zum kollektiven Gedächtnis zu rechnen sind. Eine frühere Interpretation des contrapasso finden wir auch in den heutzutage etwas seltener besprochenen Illustrationen des flämischen Malers Jan van der Straet, genannt Giovanni Stradano oder Johannes Stradanus18, die im 16. Jahrhundert entstanden sind und im Zusammenhang mit dem XX. Gesang des Inferno die Erzählperspektive bei Fabiani erhellen: Da die Wahrsager der Antike, von denen Teiresias, der blinde Seher aus Theben, ein prominenter Vertreter ist, die Sünde begangen haben, die Zukunft vorauszusagen, ist ihnen in Dantes Inferno der Kopf nach hinten gedreht, sodass sie rückwärts gehen müssen und nicht nach vorn sehen können. Wie die Wahrsager bei Dante ist Fabianis rückblickende Erzählerin nicht in der Lage, ihren Mitmenschen das zukünftige Geschehen mitzuteilen, da sie ihre irdische Stimme verloren hat. Sie scheint dazu verdammt zu sein, für alle Ewigkeit in die Vergangenheit zu blicken, was sie wahre Höllenqualen durchleiden lässt. Eine weitere Parallele zwischen beiden Texten besteht in einer gewissen geschlechtlichen Ambivalenz: Während Anna kontinuierlich mit männlichen Attributen versehen wird, – die Erzählerin betont mehrfach ihren dominanten Charakter, ihre kräftigen Schultern, dank derer Lottes Großmutter ihr im Scherz eine Soldatenlaufbahn vorschlägt19, sowie die Tatsache, dass sie sich während ihres Medizinstudiums in einer typischen Männerdomäne ihrer Zeit zu behaupten versucht –, erhält der Körper des Teiresias bei Dante weibliche Eigenschaften. Nachdem der Seher sieben Jahre lang in eine Frau verwandelt war, muss er erst eine männliche Schlange töten, um wieder zum Mann zu werden. Interessanterweise wird Dante auf seiner Reise durch die Unterwelt von seinem Führer Vergil dazu angehalten, kein Mitleid mit den Sehern zu haben, um die ihnen von Gott auferlegte Strafe nicht in Frage zu stellen:

Di nova pena mi conven far versi,
e dar matera al ventesimo canto
de la prima canzon ch’è de’ sommersi.

Io era già disposto tutto quanto
a riguardar ne lo scoperto fondo,
che si bagnava d’angoscioso pianto;

e vidi gente per lo vallon tondo
venir, tacendo e lagrimando, al passo
che fanno le letane in questo mondo.

Come ’l viso mi scese in lor più basso,
mirabilmente apparve esser travolto
ciascun tra ’l mento e ’l principio del casso;

ché da le reni era tornato il volto,
ed in dietro venir li convenia,
perché ’l veder dinanzi era lor tolto.
[…]
Certo io piangea, poggiato ad un de’ rocchi
del duro scoglio, sì che la mia scorta
mi disse: «Ancor se’ tu de li altri sciocchi?

Qui vive la pietà, quand’è ben morta:
chi è più scellerato di colui
che al giudicio divin passion comporta?
[…]
Vedi Tiresia, che mutò sembiante,
quando di maschio femmina divenne,
cangiandosi le membra tutte quante;

e prima, poi, ribatter li convenne
li duo serpenti avvolti, con la verga,
che riavesse le maschili penne.20

Durch den intertextuellen Verweis auf die Tragödie Antigone in Kapitel 7 spielt die mythologische Figur des Teiresias auch in Fabianis Roman eine wichtige Rolle. Ähnlich wie der blinde Seher bei Sophokles wird Anna zur stummen Seherin, die schon zu Lebzeiten in enger Verbindung mit der sie umgebenden Natur steht und wie ihr antikes Vorbild in der Lage ist, mit der Vogelwelt zu kommunizieren.21 Dies zeigt die Szene mit dem Rotkehlchen, das an einem Oktobermorgen 1934 an Annas Zimmerfenster erscheint. «Das Rotkehlchen» ist eine vor allem in den Niederlanden verbreitete und in Schweden von Selma Lagerlöf22 überlieferte Christuslegende, der zufolge ein Vogel Mitleid mit dem sterbenden Jesus am Kreuz hat und ihm einen Dorn aus seiner Stirn entfernt. Dabei wird seine Brust von einem Blutstropfen Christi rot gefärbt. Zum Gedächtnis an die Leiden Jesu soll der Vogel seine namensgebenden Brustfärbung für immer behalten. Annas Erinnerung an diese Legende aus ihrer Kindheit verweist auf die Schuld, die sie durch ihre Arbeit in der Frauenklinik auf sich geladen hat. Obwohl sie sich bemüht, in der magischen Kreatur, der sie einige Kerne hingestreut hat, ein positives Vorzeichen einer glücklichen Zukunft zu sehen, müssen wir das Erscheinen des Rotkehlchens in Kapitel 15 als dunkle Vorahnung, als Antizipation ihres frühen Todes deuten.23

So wie bei Dante wird das Mitgefühl bei Fabiani zunächst unterdrückt. Anna erlaubt sich keine Empathie gegenüber ihrer jüdischen Kommilitonin Elise Hahn, als diese im Wintersemester 1927/28 aufgrund ihrer Konfession offen diskriminiert wird. Obwohl es für Anna mit Leid verbunden ist, versucht sie, den Impuls auszublenden, Elise zu trösten und beschränkt sich auf die Rolle der Mitläuferin, die nicht nur die Ausgrenzung ihrer Freundin duldet, sondern auch mit dieser bricht, nur weil sie eine Jüdin ist.24 Der Gedanke an Elise lässt Anna jedoch keine Ruhe, und so erfahren wir am Ende von Kapitel 11, dass ihr Geist nicht nur in die Vergangenheit zurückblickt, sondern auch in der Lage ist, die Zukunft zu sehen. So kommt es, dass die Erzählerin uns die über hundertjährige Elise schildert, die in ihrer New Yorker Heimat Brooklyn Heights den vier Enkeln ohne große Emotionen von ihrem Leben in Deutschland erzählt.25 Ein letztes Mal sieht Anna Elise am Anfang von Kapitel 17, als aus der Sicht der Erzählerin die Umrisse der Greisin verschwimmen, bis diese quasi durchsichtig wird, was ihren baldigen Tod ankündigt.26 Einen ähnlichen visuellen Effekt beobachten wir in einem vielbesprochenen Werk der zeitgenössischen italienischen Literatur, nämlich im Roman L’amica geniale von Elena Ferrante, der 2011 erschienen ist und in dem vom Phänomen der smarginatura die Rede ist. Dieser Begriff bezeichnet die Tatsache, dass sich aus dem Blickwinkel der Figur Lila die Ränder der Menschen und Dinge am Silvesterabend des Jahres 1958 plötzlich auflösen, sodass die materielle Welt unbekannte Wesen einer erschreckenden Natur zum Vorschein bringt. Sowohl Ferrante als auch Fabiani greifen in ihrem Roman auf einen Effekt zurück, der an die als künstlerisches Mittel eingesetzte Unschärfe, an den soft focus des filmischen Erzählens angelehnt ist. Diese Technik, die im Film auch blurring, breezing oder fringing genannt wird27, hat bei beiden Autorinnen eine äußerst unterschiedliche Wirkung. Während sie bei Ferrante dazu dient, die Auswirkung des Milieus der Gewalt und Kriminalität in der neapolitanischen Vorstadt auf die Psyche Lilas darzustellen, die ihre Mitmenschen auf das Animalische ihres Wesens reduziert, stellt sie bei Fabiani die schwindenden Lebensenergien, den nahenden Tod dar und wird zum Ausdruck einer romantisierten Übernatürlichkeit. Beide visuellen Effekte, die smarginatura bei Ferrante und die sfumatura bei Fabiani, stellen eine metaphysische Erfahrung dar und stehen somit in einem komplementären Verhältnis zu den ersten Worten des blinden Sehers Teiresias in Sophokles’ Tragödie König Ödipus: «Weh, wehe, Klarsehn: wie furchtbar, wo es nicht / nützt dem Klarsehenden!»28

Die Frage, ob die einzelne Person Mitleid für die anderen empfinden sollte, wird in Bezug auf die Patientinnen der Frauenklinik deutlich bejaht, weshalb Anna mit ihren Freunden Frida, Thierry und Pierre beschließt, ihnen vor der Zwangssterilisation zur Flucht zu verhelfen. Doch eines Nachts werden sie entdeckt und die geplante Flucht ins französische Ausland scheitert. Was ihre Kolleginnen in der Frauenklinik betrifft, hat die Erzählerin im Epilog des Romans ebenfalls Mitgefühl, zeigt sie jedoch als Büßerinnen. Auch hier vermischen sich danteske Vorstellungen und filmische Narration: Einerseits ist die Einsamkeit und Isoliertheit der Krankenschwestern, deren Zimmer einzelnen, in sich geschlossenen Universen gleichen, als contrapasso für die Kollektivschuld zu betrachten, die vor jedem individuellen Gewissen in der traurigen Gewissheit der jeweiligen persönlichen Implikation zu verantworten ist. Andererseits gleicht die Perspektive der Erzählinstanz, die durch einen Windhauch emporgehoben wird und von außen in die verschiedenen Räume der Frauenklinik blickt, dem Flug einer imaginären Kameradrohne.29

Diese Passage, in der die Figuren hinter den Fensterscheiben gleichzeitig an Dantes penitenti und an die von einer Laterna magica projizierten Phantasmagorien erinnern, verdeutlicht, dass Anna einerseits in die reale Zukunft ihrer Mitmenschen blicken kann. Andererseits sieht sie auch eine hypothetische Zukunft, die eingetreten wäre, wenn die beteiligten Figuren anders gehandelt oder in anderen Zeiten gelebt hätten. So wird Anna in Kapitel 16 vom Wind davongetragen, um sich in einer weiteren Szene der Autospektion mit ihrem Mentor an der Göttinger Frauenklinik, Professor Hartmann, in der sommerlichen Landschaft des Zürichsees wiederzufinden. Während beide am Ufer des Sees spazieren gehen, bemerkt Anna ihre ergrauten Haare und die Tatsache, dass dem auf ihren Arm gestützten Hartmann das Laufen schwerfällt. Des Weiteren erfahren wir durch die Erzählinstanz, dass der Krieg vorbei, Frau Hartmann seit einigen Jahren gestorben und Anna inzwischen die wichtigste Vertraute des Professors geworden ist. In einem kurzen inneren Monolog schildert uns Anna, sie werde nie mehr nach Deutschland zurückkehren und ihren Lebensabend an diesem verzauberten See verbringen, dessen Wasseroberfläche zu blau und zu glänzend sei, um wahr zu sein.30

Die neutrale Schweiz erscheint an dieser Stelle als das gelobte Land, als der Weg in das für die Sünderin unerreichbare Paradies. Insbesondere der Zürichsee liefert uns interessante Verweise auf die der Empfindsamkeit zuzuordnende Ode Klopstocks («Der Zürchersee», 1750) und das Gedicht des ‹Stürmers und Drängers› Goethe («Auf dem See», erste Fassung 1775). Was die Erzählperspektive betrifft, fällt das Zitat von romantischen Motiven auf, die das danteske Thema der Hellseher und Wahrsager in der Hölle aufgreifen und uns beispielsweise auf die Erzählung A Christmas Carol von Charles Dickens31 verweisen, in welcher der Geldverleiher Ebenezer Scrooge dank des dritten Geistes in eine Zukunft blickt, die eintreten könnte, sich aber nicht zwangsläufig bewahrheiten muss. Der Bezug im selben Kapitel zu dem eine dunkle und fantastische Romantik vertretenden E.T.A. Hoffmann, dessen Nachtstücke32 ihm den Beinamen «Gespenster-Hoffmann» eingebracht haben, legt nahe, dass sich die Erzählinstanz vor allem mit den Strömungen der deutschen Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts identifiziert, welche die Emotionalität, Individualität und Intuition verteidigen (Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Romantik), während sie die in erster Linie die Rationalität, Gesetzmäßigkeit und Ordnung repräsentierenden Strömungen (Aufklärung, Weimarer Klassik) eher vernachlässigt.

Die Erzählung der Anna Alrutz kulminiert schließlich in dem düsteren Realismus, mit dem das Euthanasieprogramm des Nationalsozialismus geschildert wird, das den Holocaust ankündigt und in den menschenverachtenden theoretischen Schriften entwickelt wird, die der Roman erwähnt: Neben Hitlers Mein Kampf (1925) zitiert Fabiani in Kapitel 15 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, das die «Unfruchtbarmachung» vermeintlich «Erbkranker» und Alkoholiker zum Ziel hatte und die eugenische Zwangssterilisation ab dem 1. Januar 1934 legalisierte, sowie die Nürnberger Gesetze von 1935, die in Kapitel 17 zur Sprache kommen. Den Lesenden nicht erspart bleibt außerdem die grausame Praxis der Zwangssterilisation, von der allein in Göttingen mindestens 787 Patientinnen betroffen waren und die im Roman in einigen Fällen in besonders bestialischer Weise mit Hilfe von Radium vorgenommen wird.

Psychologisch relevant erscheint die Tatsache, dass Anna am Zürichsee die Rolle der verstorbenen Frau Hartmann eingenommen hat. Der Roman entwickelt zwei dominante Vaterfiguren, Doktor Alrutz und Professor Hartmann, beide Mediziner, deren Erwartungen die junge Frau nicht erfüllen kann. Wir erleben in Le lunghe notti di Anna Alrutz eine Entwicklung und Umkehrung von Sigmund Freuds Ödipus-Komplex, da die Protagonistin einerseits die Stelle ihres Vaters einnehmen, seine Braunschweiger Praxis übernehmen möchte und andererseits von einem ruhigen Lebensabend an der Seite ihrer zweiten Vaterfigur, Professor Hartmann, und von der Vermischung von Beruflichem und Privatem am Zürichsee träumt. Im Zusammenhang mit dem Motiv der enttäuschten Erwartungen lohnt es sich, den Roman Effi Briest von Theodor Fontane (1896) heranzuziehen, der in Kapitel 15 des Romans erwähnt wird. Während Fontane die Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft thematisiert, die von Effis Eltern und vor allem von ihrem Vater personifiziert werden und denen die junge Frau nicht gerecht werden kann, enttäuscht Anna Alrutz die Erwartungen an sich selbst und erfüllt überdies nicht die Hoffnungen, die ihr Vater und Hartmann in ihre Zukunft als Medizinerin setzen. Wenn wir die Dreiecksbeziehung bei Fontane auf Fabianis Roman anwenden, ergibt sich ein interessantes Verhältnis zwischen Effi (Anna), ihrem reifen Ehemann und Übervater Baron von Instetten (Dr. Alrutz, Prof. Hartmann) und dem Geliebten, dem Major Crampas (Heinrich Rudinski, Thierry Picard), der diese Beziehung stört. Bei Fabiani erfährt diese Figurenkonstellation noch eine weitere, äußerst überraschende Kombination, die das eingangs erwähnte Familiengeheimnis birgt.

Ein wichtiges Thema stellt in diesem Kontext das Frauenbild im Nationalsozialismus dar, das in Kapitel 9 zum Ausdruck kommt. Als Hitler auf einer historisch belegten NSDAP-Versammlung am 4. November 1925 in Braunschweig eine Rede hält, sind auch Anna und ihre Freundin Lotte im Publikum zu finden. Nachdem der Autor der im selben Jahr erschienenen Hetzschrift Mein Kampf die Stärke der NSDAP beschworen und der begeisterten und jubelnden Menge unterbreitet hat, dass alle, die den Volkskörper schwächen würden: Pazifisten, Antinationalisten, Marxisten, eliminiert werden müssten, kommt er auf die ‹deutsche Frau› zu sprechen. Hitler wird durch die rückblickende Erzählerin als Wolf bezeichnet, der den Mädchen ins Ohr flüstert, es sei die Frau gewesen, die das Christentum in Europa verbreitet hätte, und es wäre die Frau, die der nationalsozialistischen Bewegung zum endgültigen Sieg verhelfen würde.33 Wie historische Quellen belegen, hat Hitlers im Roman nach Braunschweig verlegte Rede zur Zukunft Deutschlands und zur Frau fast im Wortlaut so stattgefunden, und zwar auf einer Münchner Parteiversammlung vom 27. Februar 1925.34

Die Metapher des Wolfes ist sowohl bei Dante als auch bei Fabiani ein Leitmotiv. Während der Wolf bzw. die Wölfin insgesamt zehnmal im Text der Divina Commedia auftaucht35, verwendet Fabianis Roman ausschließlich die männliche Form, die zunächst im Zusammenhang mit dem Grimmschen Märchen Rotkäppchen genannt wird, durch die abwechselnd Anna, Hadrian und Hitler bezeichnet werden und die den selbsternannten Führer zur Inkarnation des Bösen, zum Verführer stilisiert. Der Roman vermittelt das Bild einer unter dem Nationalsozialismus falsch verstandenen und pervertierten Romantik. Zu diesem Ergebnis kommt auch Rüdiger Safranski in seiner Studie Romantik. Eine deutsche Affäre, in der er zu Beginn des Kapitels 17 die Frage stellt, wie romantisch der Nationalsozialismus gewesen sei, bevor er die Auffassung der Nationalsozialisten vom Staat als Organismus beschreibt, den sie in Opposition zum «nivellierenden, mechanischen Staat der Französischen Revolution» setzen und der verspricht, die Sehnsüchte der Dichter und Denker zu erfüllen. Anschließend setzt sich Safranski mit der stählernen Romantik36 eines Joseph Goebbels auseinander, die Affekte wie Mitleid und Empathie ausklammert und die Anna Alrutz, wie diese Analyse gezeigt hat, auf Dauer nicht durchhalten kann. Dem oben genannten Wolfsmotiv zu eigen ist die mit ihm verbundene Metaphorik des Einverleibens, die sich bei Fabiani im Bild des gorgo, des alles mit sich reißenden, in sich aufsaugenden und verschlingenden Strudels37, äußert, der wiederum auch die Ugolino-Episode im XXXIII. Gesang von Dantes Inferno anklingen lässt, der, im Hungerturm eingesperrt, seine Kinder verspeist.38

Filmische Bezüge spielen am Ende des Romans erneut eine wichtige Rolle. So erfahren wir in Kapitel 19, dass Willi nach dem Zweiten Weltkrieg in einer namentlich nicht erwähnten Stadt am Niederrhein ein Kino eröffnet, in dem er Unterhaltungsfilme der Sechzigerjahre zeigt, um die Schrecken der russischen Kriegsgefangenschaft zu vergessen. Auf dem Programm seines Kinos stehen vermutlich die Komödien eines Heinz Erhardt, die zum Teil in Göttingen, an einem der Hauptschauplätze des Romans, gedreht wurden, sowie andere harmlose Filme der Nachkriegszeit. Es ist außerdem denkbar, dass in seinem Filmtheater, wie es in der Bundesrepublik Deutschland bis ins 21. Jahrhundert zu beobachten ist, Komödien der Nazipropaganda, wie zum Beispiel die als «Kultfilm» gefeierte Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann (1944), auf eine unkommentierte, ja vermeintlich unpolitische Art rezipiert werden. Dies war zum Beispiel im «Unikino» der Georgia Augusta am 7. und 8. Dezember 2017 der Fall, was vom Göttinger Tageblatt mit keinerlei kritischem Kommentar bedacht wurde.39

Es sind Fabianis zugleich von offener Sympathie und unterschwelliger Kritik geprägten Gesellschaftsdiskurse, welche die Lektüre ihres im italienischen Original vorliegenden Romans so interessant machen und dazu einladen, die deutsche Geschichte (erneut) zu reflektieren. Erst nach Willis Reise zu einer Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, zu denen sein ermordeter Freund Jakob «Kuba» Goldfinger gehört, wird der Antagonismus Annas zu ihrem Bruder endgültig aufgelöst, sodass die Erzählerin ihren Frieden finden kann. Insofern greift das im Wald vorherrschende Dämmerlicht im Epilog die romantische Stimmung des Romans auf und assoziiert zugleich Dantes Aufstieg vom Inferno ins Purgatorio.

Fabianis Roman ist im Kontext von anderen zeitgenössischen Werken anzusiedeln, die vor allem in Frankreich und Italien erschienen sind und sich der heiklen Frage widmen, wie Nationalsozialismus und Faschismus ihr Narrativ in der Literatur des 21. Jahrhunderts finden können. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang so unterschiedliche Romane wie Les Bienveillantes von Jonathan Littell (2006), in dem sich historische Ereignisse mit der fiktionalen Biografie des Ich-Erzählers Maximilian Aue vermischen, HHhH («Himmlers Hirn heißt Heydrich») von Laurent Binet (2010), der das Heydrich-Attentat in Prag 1942 aus der Sicht der Widerstandskämpfer schildert, La gemella H von Giorgio Falco (2014), der das Leben einer deutschen Familie von der Nazidiktatur bis in die 2000er-Jahre aus verschiedenen Perspektiven erzählt, Sangue giusto von Francesca Melandri (2017), der die italienische Kolonialgeschichte und faschistische Rassenlehre aus heutiger Sicht verarbeitet, sowie Le assaggiatrici von Rosella Postorino (2018), der auch bei Feltrinelli erschienen ist, sich zahlreicher Motive Fabianis bedient und dessen englische Übersetzung mit At The Wolf's Table (2019) betitelt ist. Dass bislang keine deutsche Übersetzung von Le lunghe notti di Anna Alrutz vorliegt, verwundert und ist zu bedauern.

  1. Der Roman ist 2014 mit dem Feltrinelli-Preis Il mio esordio, dem vom Verlag ausgeschriebenen Publikumspreis Il miglior incipit, dem Premio Scuola Holden per l’opera più originale sowie 2015 mit dem Premio Primo Romanzo Città di Cuneo ausgezeichnet worden.
  2. Während Anna eine fiktive Figur ist, treten neben historischen Personen (z. B. Kuba Goldfinger, Adolf Hitler) auch historisch inspirierte Figuren auf, wie beispielsweise Professor Hartmann, dessen Vorbild der Göttinger Gynäkologe Heinrich Martius (1885–1965) ist.
  3. Ein Beispiel für einen ironischen Selbstkommentar finden wir in Kapitel 16, als sich die «braune Schwester» Anna viermal als «fata bruna», als «braune Fee» bezeichnet (Ilva Fabiani, Le lunghe notti di Anna Alrutz, Mailand: Feltrinelli, 2014, Kap. 16, S. 194ff.)
  4. Die Divina Commedia wird nach folgender Ausgabe zitiert: Dante Alighieri, La Divina Commedia, Mailand: European Book, 2011.
  5. Fabiani 2014, Prolog, S. 11.
  6. Françoise Sagan, Bonjour Tristesse (1954). Zu erwähnen ist außerdem die Romanverfilmung von Otto Preminger (1958) mit Deborah Kerr als Anne Larsen und David Niven als Raymond, in der die Stimme der Erzählerin Cécile (Jean Seberg) ebenfalls retrospektiv berichtet und aus dem Off zu hören ist.
  7. Auf Michael Hanekes Film Das weiße Band (2009) wird auf indirekte Weise durch den Pastor Rudinski verwiesen, der Anna im vierten Kapitel «la storia del nastro bianco», die regionale Legende des weißen Bandes erzählt, die im Epilog des Romans erneut aufgegriffen wird (Fabiani 2014, Kap. 4, S. 45; «il nastro bianco», Epilog, S. 248).
  8. «Hedwin mi guardò con gli occhioni neri e disse: ‹Quelle tristesse!› citando non so quale romanzo. Quel giorno, aspettando il treno, coniammo l’espressione Baddeckenstedt Tristesse […]. Baddeckenstedt Tristesse, la tristezza del saluto mancato.» (Fabiani 2014, Kap. 8, S. 94).
  9. Zwischen dem Film und dem Roman gibt es auffällige Parallelen: In beiden Werken fragt ein Arztsohn als kleines Kind nach der Bedeutung des Todes, wird die Misshandlung eines Kindes während eines Gottesdienstes angesprochen, verschwinden Figuren eines Tages unerwartet und spurlos. Interessanterweise stellt Fabiani das Verschwinden der Rudinskis im Jahr 1942 wie in einem Szenenbild oder einem Filmfoto dar, in dem Anna vor dem gedeckten Tisch mit dem noch warmen Gerstenkaffee und den umgefallen Stühlen steht, die vom überstürzten Aufbruch der Rudinskis zeugen. So wie das Publikum Hanekes über das Verschwinden der Arztfamilie rätselt, fragt sich die Erzählerin Fabianis, was mit der Pastorenfamilie geschehen ist. Das Geheimnis um das Verschwinden der Rudinskis entfaltet durch die fast wörtliche Wiederholung der Szene in einem späteren Kapitel eine noch stärkere Wirkung: «Tante volte, dopo la mia morte, ho salito le scale della loro casa e sono entrata dalla porta semiaperta. [...] Non ho trovato nessuno. Una tavola apparecchiata, resti di pane nei piatti, il caffè d’orzo ancora caldo e le sedie rovesciate. Vetri e cocci per terra, qualche cassetto aperto. Il calendario riporta l'anno 1942, siamo in guerra. Di loro, della famiglia Rudinski, nessuna traccia. Non so dove siano finiti, non mi è permesso vederli. Uccisi? Deportati? Semplicemente fuggiti? Non lo so.» (Fabiani 2014, Kap. 10, S. 121f.); «Tante volte, dopo la mia morte, ho salito le scale della loro casa e sono entrata dalla porta semiaperta. Una tavola apparecchiata, resti di pane nei piatti, il caffè d’orzo ancora caldo e le sedie rovesciate. Il calendario riporta l’anno 1942...» (Kap. 13, S. 159).
  10. Vgl. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin: S. Fischer, 1918; Heinrich Mann, Geist und Tat. Franzosen von 1780 bis 1930: Victor Hugo, Stendhal, Flaubert, Émile Zola, Anatole France und andere, Berlin: G. Kiepenheuer, 1931. Der 1915 geschriebene und 1919 erstmals veröffentlichte Essay über Zola führte zum vielzitierten Zerwürfnis zwischen Thomas und Heinrich Mann.
  11. Fabiani 2014, Kap. 5, S. 53.
  12. Vgl. Lexikon der Filmbegriffe: filmlexikon.uni-kiel.de.
  13. «Quando mi incontravo con Helene, il tempo si fermava a guardarci.» (Fabiani 2014, Kap. 2, S. 25)
  14. «E se le facessimo scappare?» (Fabiani 2014, Kap. 17 – 18, S. 217f.)
  15. «Diceva Rabbi Eliezer: ‹Pentiti un giorno prima della tua morte.› Forse che l’uomo conosce il giorno in cui morirà? Gli obiettano i suoi discepoli. ‹Proprio per questo deve pentirsi oggi per timore di morire domani.› Così facendo, sarà penitente tutti i giorni della sua vita.» I racconti del Talmud (Fabiani 2014, S. 7).
  16. Vgl. Dante 2011, Inferno XI, 87; Purgatorio XIII, 126; Paradiso XX, 51.
  17. Vgl. Dante 2011, Inferno, XXVIII, 142.
  18. Vgl. Giovanni Stradano, Indovini (1587), Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana.
  19. «‹Anna, se fossi in te, entrerei nell’esercito. Pagano bene, è un mestiere sicuro. Con quelle spalle fai paura a un uomo!› disse un giorno la nonna di Helene, mentre riordinava i suoi giornali sulla veranda.» (Fabiani 2014, Kap. 4, S. 40).
  20. Dante 2011, Inferno, XX, 1 – 45.
  21. «TEIRESIAS: Erfahr es aus den Zeichen meiner Kunst: / Ich saß auf der altgewohnten Seherwarte, / Wo die Geschwader aller Vögel landen, / Da hört’ ich unbekannten Vogellaut, / Das krächzte bös verstört, barbarenhaft, / Zauste sich blutig mit den Krallen, deutlich / Erkannte ich’s am lauten Flügelschlagen. / […] Unheil verkündet jeder Vogelschrei» (Sophokles, Antigone, übers. v. Wilhelm Kuchenmüller, Stuttgart: Reclam, 1955, V, 998 – 1021).
  22. «Das Rotkehlchen» ist die bekannteste der elf Christuslegenden von Selma Lagerlöf, die erstmals 1904 erschienen sind.
  23. «Sul davanzale c’era un piccolo pettirosso infreddolito. Stava beccando i semi di zucca che lasciavo lì per gli uccellini. Si accorse di me, dall’altra parte del vetro, ma non fuggì. Più che paura, aveva fame. Restai a guardarlo, appoggiata alle parete e avvolta nella coperta calda. Goccioline di vapore si erano depositate sui vetri, il pettirosso era al centro di questa cornice sfumata e si stagliava sull'alba come una creatura magica. Osservavo i riflessi dorati del sole sulle sue piume rosse, ero incantata e quasi commossa, Mi venne in mente la leggenda che ci raccontava la mamma sui pettirossi, quando eravamo bambine. Prima, diceva, erano dei passeri qualsiasi, ma quando Gesù venne crocifisso, uno di loro ebbe pietà del suo dolore. Volò sulla sua testa e con il becco gli tolse una spina dalla fronte. Il sangue che sgorgò macchiò il volatile. Da allora il pettirosso porta con sé il segno della sua pietà, in eterno. Quel pettirosso era sicuramente di buon auspicio. Era un piccolo incanto, un dono della sorte. Stava per succedere qualcosa di bello?» (Fabiani 2014, Kap. 15, S. 187)
  24. «Provavo una pena lancinante. Lottavo per spegnare l’impulso di andarla a consolare. Sudavo.» (Fabiani 2014, Kap. 11, S. 135)
  25. «Elise è diventata ultracentenaria nella sua casa sui Brooklyn Heights: ha avuto un marito, due figlie e quattro nipoti che vanno spesso a trovarla. La sua salute è straordinaria. Quando racconta dei suoi studi universitari in Germania, descrive a chiare lettere l’isolamento che ha dovuto sopportare e di cui io fui sciagurato corifeo. Senza grosse emozioni, racconta di aver interrotto gli studi nel 1934 e di averli ripresi e conclusi lì, negli Stati Uniti.» (Fabiani 2014, Kap. 11, S. 136)
  26. Folgendes erfahren wir über Annas metaphysische Gabe, dank der sie mit einem Blick die Grenzen eines Menschenlebens erfasst: «Da quando sono morta osservo minuziosamente chi è in vita. I bambini hanno figure definite, nitide, che si stagliano sullo sfondo con violenza. Poi, crescendo, invecchiando, le figure iniziano a sfumare, i colori cambiano e si indeboliscono, come se un cancellino passasse ogni giorno sui contorni e li rendesse più indistinti. La vita, quella piena, è limpida, di una nitidezza che allieta lo sguardo. Poi la nitidezza scema: prossimi alle fine, gli anziani sono quasi trasparenti. Così Elise, l’ultima volta che la vidi nel suo tinello a Brooklyn, aveva contorni sbiaditi: sapevo che stava per lasciare il suo corpo.» (Fabiani 2014, Kap. 17, S. 205)
  27. Vgl. Lexikon der Filmbegriffe: filmlexikon.uni-kiel.de.
  28. Sophokles, König Ödipus, übers. von Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam, 1989, V, 316f.
  29. «Il vento mi ha permesso di lasciare la clinica. Ma prima di farlo, ho dato un ultimo sguardo al terzo piano, cercando la finestra della mia stanza. All’improvviso le ho viste. Ognuna pensosa e triste. Ecco lì a destra Wilhelmine, più in basso Greta, Minna, e anche Hertha. Tutte presenti, nella clinica, ognuna di loro chiusa in un universo singolo, a scontare pene personali e colpe assolutamente private. Non si sfiorano, non si vedono, come io non vedevo loro prima di questo momento.» (Fabiani 2014, Epilog, S. 248)
  30. «Il vento mi solleva e mi fa sbucare sotto un altro cielo. Vedo Hartmann e me passeggiare sulle rive di un lago. Zurigo, estate, quell’estate che sarebbe potuta essere la mia vita, ma che non fu. Ho qualche capello bianco sulle tempie, Hartmann procede a fatica appoggiandosi al mio braccio: siamo invecchiati entrambi, ma siamo in salute. La guerra è finita da tempo. Io e lui al riparo, in un paese neutrale: sua moglie è mancata anni prima, io sono la sua principale confidente, ormai. Lavoro e vita privata sono sobriamente confusi. Guardo il lago, troppo azzurro e troppo brillante per essere vero: non tornerò mai più in Germania, penso, e finirò i miei giorni lì, sulle rive di quel lago incantato.» (Fabiani 2014, Kap. 16, S. 190)
  31. Charles Dickens, A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (1843).
  32. E.T.A. Hoffmann, Nachtstücke herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier (1816/17).
  33. «Le sue parole erano sferzanti: è arrivato il momento, diceva, di parlare del futuro! La Nsdap si è ricostituita, ed è più forte di prima. […] dovremo eliminare dal corpo della nazione quella grossa fetta di pacifisti, di antinazionalisti, di marxisti che ci indeboliscono! […] Il lupo ci raccontava esattamente quello che volevamo sentire e nel modo in cui volevamo sentirlo. Anche a me e a Lotte il lupo bisbigliò all’orecchio: era stata la donna ad aver diffuso il cristianesimo, la religione dell’Occidente, in Europa, e sarebbe stata lei a portare il movimento nazionalsocialista alla sua vittoria definitiva. […] Il boato che seguì era a forte componente femminile: Lotte e io ci sgolammo per sostenere questa miserabile bugia.» (Fabiani 2014, Kap. 9, S. 100ff.)
  34. «Glauben Sie mir, es mag ein Dr. Heim ruhig von unseren ‹hysterischen Frauen› reden. Die Frau hat einst das Christentum in die Länder gebracht und sie wird auch unsere Bewegung letzten Endes zum dauernden Sieg führen. […] Seien Sie überzeugt: Eine Bewegung, die die wenigsten Frauen hat, besitzt auch die geringste Kraft, weshalb Sie denn auch z. B. in der demokratischen Partei nur wenige ‹Damen› finden.» (Adolf Hitler, «Deutschlands Zukunft und unsere Bewegung», Rede auf NSDAP-Versammlung in München, 27. Februar 1925, in: Clemens Vollnhals, Hitler-Reden, Schriften, Anordnungen: Februar 1925 bis Januar 1933, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, München: Saur, 1992, Bd. 1: Die Wiedergründung der NSDAP: Februar 1925 bis Juni 1926, S. 23)
  35. Vgl. Inferno I, 49, VII, 8, XXXIII, 29; Purgatorio XIV, 50, XIV, 59, XX, 10; Paradiso IV, 5, IX, 132, XXV, 6, XXVII, 55.
  36. Joseph Goebbels definiert die stählerne Romantik in einer programmatischen Rede zur Eröffnung der Reichskulturkammer am 15. November 1933 wie folgt: «Eine Romantik, die sich nicht vor den Härten des Daseins versteckt oder ihr in blaue Fernen zu entrinnen trachtet, – eine Romantik vielmehr, die den Mut hat, den Problemen gegenüberzutreten und ihnen fest und ohne Zucken in die mitleidlosen Augen hineinzuschauen.» Er wiederholt diesen Begriff noch einmal 1939 bei der Eröffnung einer Automobil-Ausstellung: «Wir leben in einem Zeitalter, das zugleich romantisch und stählern ist, das seine Gemütstiefe nicht verloren, andererseits aber auch in den Ergebnissen der modernen Erfindung und Technik eine neue Romantik entdeckt hat» (zitiert in: Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München, Carl Hanser Verlag, 2007, Kap. 17, eBook).
  37. «Stavamo sprofondando nel gorgo, tutti quanti.» (Fabiani, Kap. 8, S. 93); «Occorre morire per accorgersi del gorgo nel quale venivamo inghiottiti?» (Kap. 13, S. 149); «Eravamo nel gorgo, pieni di euforia, eravamo in fervente attesa e affondavamo, con i calici alzati.» (Kap. 14, S. 165)
  38. Dieser grausamen Episode haben sich in der Kunstgeschichte unter anderem der Illustrator Jan van der Straet (1537) und die Bildhauer Jean-Baptiste Carpeaux (Ugolin entouré de ses quatre enfants, 1861, Paris, Petit Palais) und Auguste Rodin (Ugolin et ses enfants, um 1881, Paris, Musée Rodin) gewidmet. Zu erwähnen sind außerdem die Verfilmungen von Giovanni Pastrone (1908) und Riccardo Freda (1949).
  39. Vgl. Anna-Katharina Mengel, «Unikino Göttingen präsentiert die ausverkaufte Feuerzangenbowle», goettinger-tageblatt.de, 7.12.2017.