Demokratie/Demagogie

• Cesare De Marchi •


PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EAA5-7

1. Elite und Auflehnung der Massen

Das Aufeinandertreffen von «‹unfairen› oder ‹betrügerischen›»1 politischen Kräften einerseits und von Massen andererseits, die nicht nur lenkbar, sondern oft ruhelos, labil und bereit sind, schnell von einem zum anderen politischen Lager zu wechseln, kann konsolidierte und gut funktionierende demokratisch-liberale Systeme gefährlichen Spannungen aussetzen.

In einem normal funktionierenden liberaldemokratischen System geht die Regierung ihrer staatsverwaltenden Arbeit nach; die Kritik der parlamentarischen Opposition, mit der sie dabei konfrontiert ist, wird sich in manchem (nicht unbedingt idealen) Fall als konstruktiv, seltener aber radikal oppositionell bzw. obstruktiv erweisen. Letzteres wird höchstens bei wichtigen und sehr kontroversen Entscheidungen auftreten. Jede Regierung wird in einer besonders schwierigen – beispielsweise wirtschaftlichen – Lage von vornherein gezwungen sein, Probleme, deren endgültige Lösung eine geraume Zeit erfordert, schnell zu lösen; grundsätzlich ist jede Regierung gezwungen, kurzfristig zu agieren, auch dort, wo eine erfolgreiche Politik nur langfristig möglich wäre. Die Opposition wird somit leichtes Spiel haben, die Regierungsmaßnahmen der Wirkungslosigkeit zu bezichtigen; um dann, wenn sie ihrerseits die Regierung übernimmt, vor der Alternative zu stehen, entweder die von den politischen Gegnern begonnene Politik fortzuführen und sich damit als inkonsequent oder gar heuchlerisch zu entpuppen, oder diese zu beenden und eine neue einzuleiten, wodurch sie den gleichen Gefahren und derselben Kritik ausgesetzt sein wird. Selten wird eine Regierungspartei, vor allem gegen Ende ihres Mandats, geneigt sein, notwendige, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen: sie wird es vorziehen, dies entweder zu Beginn des neuen Mandats zu beschließen, oder besser noch dem Parteigegner zu überlassen, um dann mit weißer Weste und bereits gelöstem Problem in die Regierungsverantwortung zu treten.

Bis hierhin bewegen wir uns noch innerhalb einer die Spielregeln respektierenden demokratischen Dialektik, in welcher die Parteiführungen, auch wenn sie sich gelegentlich einiger Kniffe bedienen mögen, trotzdem in ihren Programmformulierungen ausgewogen und rational bleiben und sich im politischen Wettbewerb verantwortungsvoll verhalten. Anderes gilt für den Fall, in dem einer oder mehrere politische Konkurrenten mit unrealistischen Programmen und kurzen, einfachen, volltönenden, stark emotional geprägten Parolen vor die Wähler treten, in der Absicht, die Komplexität der Wirklichkeit abzustreiten und zu suggerieren, dass eine als unerträglich und ausweglos dargestellte Situation nur dadurch zu bewältigen sei, dass man die alten Eliten loswird. «Take Back Control» in England, «America First» und dessen italienische Abwandlung «Prima gli italiani» sind Beispiele für wirksame Parolen, die umso überzeugender sind, je spärlicher ihr konzeptueller Inhalt ist.

Es ist offensichtlich, dass solche Parolen bei einer ‹idealen› Wählerschaft keine großen Erfolgschancen hätten. Ideal wäre meiner Meinung nach eine Wählerschaft, die sich aus einem hohen Anteil von Menschen zusammensetzt, die sich nicht ausschließlich über das Netz oder das Fernsehen informieren, die über eine zumindest elementare Fähigkeit der logischen Schlussfolgerung verfügen und die ungefähr wissen, was Staatsverschuldung, Staatshaushalt, Handels- und Zahlungsbilanz, direkte und indirekte Besteuerung u. Ä. bedeuten. Wenig wahrscheinliche, eben ideale Bedingungen.

Vor nicht allzu langer Zeit waren es Klassenparteien, welche die Belange der Bürger, die sie vertraten, in die Parlamente einbrachten; klassenübergreifende Parteien wie die Democrazia Cristiana wiesen eine interne Dialektik zwischen den verschiedenen Strömungen und den von ihnen repräsentierten sozialen Interessen auf; und es gab Parteien wie den kleinen Partito Repubblicano von Ugo La Malfa, der eine zuverlässige Anlaufstelle in Wirtschafts- und Finanzfragen bildete. Ich halte hier keine verspätete, zwecklose Lobrede auf die sogenannte2 erste Republik, obwohl man anerkennen muss, dass in dieser der Ausgleich der verschiedenen sozialen Interessen zumindest möglich war. Die Unmöglichkeit, einen echten Regierungswechsel hervorzubringen, den (wie Giorgio Galli3 bewiesen und Alberto Ronchey später über die Tagespresse verbreitet hat) die Präsenz einer mit der Sowjetunion eng verbundenen kommunistischen Partei verhinderte, bestimmte ihre Grenzen. Deswegen zeichnete sich die damalige italienische Politik durch minimale Verschiebungen in der Wählerschaft und durch eine sehr langsam fortschreitende Erosion der die Macht ausübenden Eliten aus, was eine sowohl unerwünschte als auch unvermeidbare Zunahme an Korruption und Klientelismus mit sich brachte.

Es war der Zusammenbruch der Sowjetunion, der die festgefahrene italienische Politik aufrüttelte. Das führte nicht, wie man es vielleicht erwartet hätte, zu einem Wahlerfolg der Sozialisten zuungunsten der Altkommunisten, sondern zum gemeinsamen Niedergang der bisherigen Regierungsparteien. Was damals wie eine Revolution erschien, wurde durch die sogenannten «Saubere Hände»-Gerichtsverfahren gegen die politische Korruption eingeleitet. Heil davon kamen eigentlich nur die oppositionellen oder die nicht gänzlich mit dem alten politischen System kompromittierten Parteien: darunter vor allem die kommunistische Partei, die sich übrigens nur mühsam von der eigenen Vergangenheit distanzieren konnte, um den thematischen Raum der Sozialdemokratie zu besetzen, der durch den Untergang der Sozialisten frei geworden war.

Doch inzwischen war ein europäisches Phänomen herangereift, das sich schon in den Wirtschaftswunderjahren abgezeichnet und mit der 68er-Studentenrevolte eine erste traumatische Erschütterung verursacht hatte. Bis dahin nur den oberen Gesellschaftsschichten vorbehaltene Güter wurden allmählich nicht nur breiteren sozialen Gruppen, sondern nach der großen Streikwelle von 1969 und den darauffolgenden Lohnerhöhungen auch der Arbeiterschicht zugänglich. Das Fernsehen, diese große verfehlte Zivilisationsmöglichkeit, hielt seinen Einzug in alle Wohnungen. Ihm folgten die Waschmaschine und einige Jahre später die Spülmaschine und viele andere Haushaltsgeräte. Bald konnte sich fast jede Familie ein Auto leisten. Es fing etwas an, dessen Abwesenheit für uns heute kaum vorstellbar ist: die Konsumgesellschaft, die «Gesellschaft im Überfluss», wie John Galbraith sie bereits 1958 in The Affluent Society beschrieb. Nicht dass die sozialen Unterschiede sich damit verwischt hätten, um eine undifferenzierte Verbrauchergestalt hervorzubringen; jedoch war eine Wandlung zweifellos im Gange: zumindest konnte man feststellen, dass jener «Bereich des Sozialverhaltens, der durch den Beruf nicht unmittelbar geprägt ist, sich ständig erweitert», sodass «die soziale Persönlichkeit» – zum Beispiel die des Industriearbeiters – «von anderen Erwartungen» bestimmt wird, und er «als Konsument oder Staatsbürger kein Arbeiter mehr ist»4. Obwohl zunächst scheinbar eine sehr starke Politisierung zu sehen ist, verlieren Ideologien und jede Form von Religion an Rückhalt, ohne dass sich in der Gesellschaft irgendeine neue Form von intellektueller oder zumindest emotionaler Bindung erahnen lässt. Die intensivsten Momente sozialen Zusammenschlusses ereignen sich bei Fußballspielen und Rockkonzerten; heute erleben zwar die traditionell von gebildeten Kreisen aufgesuchten Orte und Ziele, wie Museen oder Kunstausstellungen, einen großen Besucherzulauf – dennoch ist es schwierig zu sagen, wo ein touristisches Muss endet und wo ein echtes kulturelles Interesse beginnt.

Witzigerweise beeindruckte dieses Phänomen Ortega y Gasset bereits vor neunzig Jahren – die Menschenansammlung, die Überfüllung:

Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf der Straße, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; Theater- und Kinoaufführungen, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern, die Badeorte von Sommerfrischlern. Was früher kein Problem war, ist es jetzt unausgesetzt: einen Platz zu finden.5

Darin wollte der Philosoph «einen Haltungswechsel der Masse»6 erkennen, die gierig ist, den Platz einzunehmen und die Vorzüge zu genießen, die bisher nur wenigen zugute kamen; doch nicht nur: Er sah darin das Auftauchen eines primitiven Menschentyps «inmitten einer zivilisierten Welt»: eines «Massenmenschen», für den das von ihm begehrte Automobil «von selbst an einem Paradiesbaum wächst», und der «im Grunde seiner Seele nichts von dem künstlichen, fast unwirklichen Charakter der Zivilisation weiß».7 Dieser Umstand wäre nicht weiter besorgniserregend, wenn er nicht einen tiefgreifenden moralischen Wandel offenbaren würde. Was man einst als Geschenk des Schicksals empfunden hätte, wird nun zu einem Anrecht. Es ist das Anrecht auf freies Streben nach Glück, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung formuliert ist, welches hier allerdings zu einem angeblichen Recht auf Glück wird. Um die Worte einer meiner Romanfiguren zu zitieren, deren Verächtlichkeit leider nur wenige Leser erkannt haben:

Nessuno, credo, vorrà negare che l’uomo ha soprattutto dei diritti e che, prima che questi siano stati soddisfatti, dovere è per lui una parola vuota di senso. [...] Datemi ciò che mi spetta, poi mi parlerete del mio dovere!8

Ortega y Gasset schrieb in den Jahren zwischen 1926 und 1929, unmittelbar vor der ersten großen Wirtschaftskrise, die für die westliche Welt alles veränderte (der erste Teil seiner Abhandlung erschien in einer Madrider Tageszeitung am 24. Oktober 1929, dem Tag des Börsencrashs an der Wall Street); jedoch ist seine Unterschätzung von Bolschewismus und Faschismus unleugbar; nicht genug: Im «Prolog» zur französischen Übersetzung vom Mai 1937, als Hitler bereits mehr als vier Jahre an der Macht und in Spanien der Bürgerkrieg schon ausgebrochen war, scheint der Philosoph sich des radikalen Umbruchs nicht wirklich bewusst zu sein, der seinen Massenmenschen gerade in die Knie zwang und tragischen Ereignissen aussetzte. Es ist trotzdem interessant zu sehen, dass seine Analyse sich, nachdem der Krieg beendet ist und das bürgerliche Leben in Europa wieder begonnen hat, der aktuellen Wirklichkeit wieder annähert und diese vielleicht besser beschreiben kann als jene von vor neunzig Jahren.

Die reichliche und nie versiegende Versorgung des Marktes (die die wenigen Privilegierten aus dem Ostblock, die in den Westen reisen konnten, so sehr verblüffte), die Wahrnehmung eines Produkts, ohne eine Ahnung von der Komplexität seiner Herstellung zu haben, und noch viel mehr die Geschwindigkeit, mit der die technologische Innovation den Markt mit immer neuen und verbesserten Produkten überschwemmt, haben den konsumierenden Durchschnittsmenschen daran gewöhnt, dies alles als selbstverständlich hinzunehmen, sodass in ihm die Illusion entsteht, er habe eine Art Naturrecht, über diese Güter zu verfügen. Doch die Gewohnheit, insbesondere die Gewöhnung an eine stetige und sozusagen automatische Verbesserung des Lebensstandards ist ein schlechter Berater. Man sollte nie vergessen, dass, wenn man den Lichtschalter betätigt, das Licht auch ausbleiben könnte und sich das Wasser auch weigern könnte zu fließen, wenn man den Hahn aufdreht, und dass von heute auf morgen der Fernsehbildschirm schwarz bleiben könnte.

Es ist eine Tatsache, dass die technische Komplexität der Geräte, derer wir uns täglich bedienen – vom Fernseher bis zum Computer, vom Mikrowellenofen bis zum Smartphone – durch ihren extrem unkomplizierten Gebrauch verdeckt wird. Die Herstellung von Gütern, bei der verschiedene, über die ganze Welt verteilte Industriezweige an einem Endprodukt mitwirken, das dann über breite, ausdifferenzierte Vertriebsnetze bis zur letzten Verkaufsstelle gelangt, verschwindet in der einfachen Handbewegung des Verbrauchers, der die Ware von einem Supermarktregal nimmt oder sie durch einen Klick am Bildschirm seines Computers bestellt. Insbesondere die ständig sinkenden Preise verweisen nur vage auf den riesigen Teil des Produktionsprozesses, der dem Verbraucher unsichtbar bleibt und ihn in seiner Vorstellung bestätigt, dass all die schönen Gegenstände, die er erworben hat, «von selbst wachsende Früchte eines Paradiesbaumes» seien.

Die scheinbar unbegrenzte Verfügbarkeit von Gütern und die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der neue elektronische Instrumente es ermöglichen, durch einfaches Fingertippen Waren zu bestellen und zu bezahlen und somit in den Besitz nicht nur materieller, sondern auch abstrakterer Güter wie Bilder, Nachrichten, Informationen zu gelangen, haben die Gewohnheiten und Erwartungen der Menschen und folglich ihr Verhalten im Alltag tiefgreifender verändert, als man meint.

Hier ein kleines, sehr persönliches Beispiel: Bis vor einigen Jahren musste ich, wenn ich ein Buch aus der Bibliothek ausleihen wollte, mindestens eine Stunde dafür in Kauf nehmen, abgesehen von der Zeit, die nötig war, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Am Ziel angekommen, musste ich einen oder mehrere Katalogkästen herausziehen, mit dem Finger über die Karteikarten gleiten, die Signatur abschreiben, ein Formular ausfüllen und abgeben; anschließend zwischen einer halben und einer Stunde warten, bis das Buch aus dem Magazin kam. Manchmal befand sich das bestellte Buch in einem Außenmagazin und konnte erst am nächsten Tag ausgegeben werden. Heute setze ich mich vor den Computer und gebe auf der Website der Bibliothek den gesuchten Buchtitel ein: Innerhalb weniger Sekunden erscheint eine Auflistung aller Ausgaben und Übersetzungen des Werks, die sich im Bibliotheksbestand befinden. Ich wähle die Buchtitel aus und sende die Bestellung ab: auf dem Bildschirm wird sofort mitgeteilt, dass die zwischen 10.30 und 13 Uhr bestellten Medien in einem bestimmten Regal ab 15 Uhr zur Abholung bereitstehen. Ich richte mich danach und tätige auf dem Weg in der Stadt noch ein paar andere Besorgungen, sodass der Gang zur Bibliothek bestmöglich genutzt wird.

Zeit sparen! Dadurch wird zwar das Leben nicht länger, aber sicherlich gibt es vielfältige Möglichkeiten, die auf diese Weise frei gewordene Zeitmenge zu nutzen. Fragen wir uns zunächst nicht, wie die Nutzung dieser zusätzlichen Zeitmenge konkret aussehen könnte. Zweifellos verursacht (was ich ständig an mir beobachte) die Gewöhnung an Geschwindigkeit und Einfachheit bei der Erledigung von praktischen Aufgaben eine nervöse Ungeduld gegenüber jeglicher Verzögerung, die sich zwischen Absicht und Verwirklichung einer bestimmten Handlung schiebt. Ich will Eier und Milch kaufen, an der Kasse ist eine lange Schlange: ich fühle mich meiner Zeit, meines Rechts auf Zeit beraubt. Denn Waschmittel kann ich online bestellen, das Bahnticket kaufe und bekomme ich auf mein Smartphone, aber frische Milch...

Die Ablehnung gegenüber allem, was sich der Geschwindigkeit und Vereinfachung entzieht, an die uns die neuen Erwerbs- und Gebrauchsvorgänge gewöhnt haben, umfasst nunmehr alle Bereiche des sozialen Lebens. Die Fernsehberichterstattung muss kurz und klar sein; ein Zeitungsartikel (für diejenigen, die noch Zeitung lesen) darf so und so viele Wörter nicht übersteigen; ein geschichtlicher Sachverhalt muss in wenigen Zeilen dargestellt sein; ein Film mit zu langen Kameraeinstellungen, mit vielen Dialogen und wenig Handlung ist langweilig; die langen Sätze und der verschachtelte Satzbau in den ‹alten› Romanen sind unerträglich; die ausführliche, gut gegliederte Rede eines Politikers wird als «unverständliches Geschwätz» abgetan, ihr wird eine grobe, unverhohlene Ausdrucksweise (die oft ordinärem Stammtischgerede gleicht) oder die knappe Benennung eines Feindbildes vorgezogen: ‹das Europa der Banken›, ‹die starken Mächte›, ‹fake news› beweisen, dass Klarheit und Einfachheit in der Kommunikation sehr gut ohne präzisen Inhalt auskommen. Was die Argumente betrifft, so gelten sie als unnötig kompliziert, ja verfänglich: Mit ihrem Hin und Her, das nie zu einer eindeutigen, endgültigen Aussage führt, sind sie nur Zeitverschwendung; darüber hinaus überflüssig, da die Welt ja einfach ist und es ebenso einfach sein muss, sie zu interpretieren und zu verändern. Es liegt also nahe, dass jeder imstande ist, alles zu tun: Nichtstuer, Langzeitstudenten, Dilettanten jeden Schlags spielen sich als Politiker auf; viele Ideen haben sie nicht, ihre Logik hinkt, aber sie alle sind von beispielhafter Ehrlichkeit – so viel reicht, um die alten, ‹korrupten Eliten› herauszufordern.

Das ist das erste Ergebnis der Auflehnung der Massen gegen die Eliten.

2. Auflehnung der Massen und Populismus

Fragen wir uns, ob sich diese neue Auflehnung überhaupt von den übrigen unterscheidet und wenn ja, worin. Denn bekanntlich hat es schon immer Auflehnung gegen die Eliten gegeben, von der Französischen Revolution bis zur Iranischen 190 Jahre später, vom bolschewistischen Handstreich bis zum Marsch auf Rom; doch immer trat an die Stelle der gestürzten eine neue Elite, die den Aufstand angeführt oder sich aus diesem herausgebildet hatte. Heute scheint es sich aber um eine prinzipielle Auflehnung, um eine ‹contestation globale› wie die von 1968, eine globale Infragestellung jedweder Elite zu handeln. Es ist kein Zufall, dass Volkswahlen politische Bewegungen ins Parlament und oft an die Regierung bringen, die sich erst kurz zuvor gebildet, keine gefestigte Struktur und keine territoriale Verwurzelung haben ‒ zum Nachteil der traditionellen Parteien. So ist es mit Forza Italia und mit Cinque Stelle in Italien gewesen, mit En marche in Frankreich, wie auch mit den Indignados (die dann zu Podemos geworden sind) in Spanien und der AfD in Deutschland. Von all diesen Bewegungen hat sich En marche am schnellsten zur Partei entwickelt, während Forza Italia 1994 plötzlich an die Regierung des Landes katapultiert wurde, ohne über eine territoriale Organisationsstruktur zu verfügen, die sich erst später entwickelt hat. Podemos hat sich als Nationalpartei konstituiert und dabei versucht, eine ziemlich offene, dezentralisierte, in Vereine (círculos) gegliederte territoriale Organisationsform mit einer starken Zentralführung in Einklang zu bringen; noch stärker ausgeprägt ist die Zentralführung der Cinque Stelle-Bewegung, die geneigt zu sein scheint, zugunsten einer ausschließlich digitalen Organisationsform auf eine territoriale zu verzichten (sog. ‹e-democracy›); die AfD ist nunmehr eine Partei geworden, doch aufgrund ihrer turbulenten internen Diskussion hat sie es immer noch nicht geschafft, ein echtes politisches Programm aufzustellen.

Im Folgenden beziehe ich mich nur auf den italienischen Fall.

Während die alten Eliten versuchten, sich selbst durch (echte oder vorgebliche) fachliche Kompetenz und Erfahrung in der Staatsverwaltung zu legitimieren, und dabei eine esoterische Expertensprache zur Schau stellten (so wie es auf einem ganz anderen Gebiet die selbsterklärte Elite in den literarischen Verlagen zu tun pflegte), setzen solche neuen Bewegungen auf revolutionäre Improvisation: Und tatsächlich müssen sie nicht einmal befürchten, des Dilettantismus bezichtigt zu werden, da sie sich ja zur universellen, einfachen Lösbarkeit von sozialen und wirtschaftlichen Problemen bekennen, die sie übrigens gerne auf ein einziges reduzieren – beispielsweise ‹die Korruption› oder ‹die Migrantenströme› oder ‹die Zwänge der europäischen Einheitswährung›. Erst nachträglich versuchen sie, ihr politisches Programm zu differenzieren, wodurch sie sich in Parteien verwandeln, deren Organisationsstruktur sich nicht mehr wesentlich von derjenigen der Parteien unterscheidet, gegen welche ihre Auflehnung ursprünglich gerichtet war. Doch selbst in diesem Fall pflegen sie weiterhin eine demagogisch-revolutionäre Haltung, die es ihnen erlaubt, die Nabelschnur zur anti-elitären Revolte der Massen nicht zu durchtrennen. Diese Haltung äußert sich einerseits in einer peinlich elementaren, mit Fußballmetaphern und plebejischen Grobheiten gespickten Sprache (als einziges Beispiel sei hier der ‹V-Day›, der ‹Tag des vaffanculo›9 erwähnt), andererseits in der Identifizierung programmatischer Schlüsselpunkte, die, auf Umfragen und Suchen im Netz basierend, eine Art ‹circulus virtuosus› des Konsenses bewirken, indem die Wähler Programmangeboten zustimmen, die sie selbst aufgestellt haben.

Dabei besteht natürlich die Gefahr, dass die Anführer der Bewegung, wenn sie einmal an die Regierung gelangt sind und ihre übertriebenen Versprechen nicht in die Tat umsetzen können, den Verdacht erwecken, die Macht einfach an sich reißen und als neue Elite den Platz der alten übernehmen zu wollen. Die rapiden, lawinenartigen Stimmenverschiebungen bei den Wahlen, die gerade ihnen zum Vorteil gereicht haben, können sich dann gegen sie richten und ihren Niedergang herbeiführen. Diesen Bewegungen, die heute als populistisch bezeichnet werden, bleibt ein einziger Ausweg,um fest im Sattel der Macht sitzen zu bleiben: die Massen in einem Zustand ständiger Erregung halten. Wie jede Revolution, die den Namen verdient, muss auch diese permanent sein. (Daher auch der völlig begründete Eindruck einer unbestimmten Fortdauer des Wahlkampfes.) Um die versprochenen Ziele zu erreichen, muss man also die Kräfte bekämpfen, die sich diesen widersetzen: Es sind wohl ‹die Finanzmärkte›, die die Stabilität eines Landes angreifen, beziehungsweise vor allem die ‹starken Mächte›, die jeden sozialen Wandel verhindern. Es handelt sich, wie man sieht, um die alte Vorstellung einer Verschwörung, eines im Schatten komplottierenden Feindes. Um eine solche Vorstellung zu widerlegen, dürfte es wohl genügen, die «Augen zu aufzumachen» und festzustellen, dass die sogenannten starken Mächte und die

ökonomischen Minoritäten, die uns als allmächtig hingestellt werden, in keinem Land Westeuropas Transformationen verhindern konnten, von denen es immer hieß, daß diese Minderheiten ihnen feindlich gegenüberstünden. Sie konnten die Verstaatlichung eines Teils der Industrie in Frankreich oder in Großbritannien nicht verhindern. Sie haben die Ausweitung der Sozialgesetzgebung ganz gewiß nicht verhindert.10

Nichtsdestotrotz genügt es anscheinend nicht, einfach die Augen aufzumachen.

Bei einem Individuum verbirgt sich hinter einer solchen Verschwörungsvorstellung normalerweise ein Fall von Paranoia. Doch wenn sie von Führern politischer Bewegungen, Parteien oder Regierungen geäußert wird, hält die einfache medizinische Erklärung nicht stand. Es liegt der Verdacht nahe, dass derjenige, der gegen Verschwörungen Alarm schlägt, dies als Mittel zum Machterhalt nutzt, um eben seine Macht nicht abgeben zu müssen. An sich besagt eine Verschwörungstheorie, dass soziale Begebenheiten immer der Wirkung von Menschen oder Interessenverbänden zuzuschreiben sind und dass deswegen eine Schuldzuweisung möglich und eine Vergeltungsaktion berechtigt ist. Wie man sieht, ist diese ‹Theorie› nichts anderes als die Fortsetzung der primitiven Sündenbock-Logik: einer archetypischen Logik also, die in den kollektiven seelischen Strukturen tief verwurzelt ist. Heutzutage ist freilich niemand mehr bereit zu glauben, dass eine Epidemie11 oder ein Erdbeben auf das Handeln eines Pestsalbenschmierers oder einer beleidigten Gottheit zurückzuführen sind; dagegen wird die Schuld auf diejenigen abgewälzt, die die Ansteckung nicht rechtzeitig eingedämmt haben, Häuser an dem betroffenen Ort oder jedenfalls nicht erdbebensicher gebaut oder deren Stabilität nicht überprüft haben. In Italien kommt hinzu, dass Jahrzehnte von Klientelismus und ‹Assistenzialismus› eine geistige Haltung in den Bürgern hervorgerufen haben, aufgrund derer sie alles vom Staat bzw. von der Regierung erwarten, so wie sie es in früheren Zeiten vom Himmel erwartet haben.

Doch dass die Verschwörungstheorie auf die Sündenbock-Logik zurückgeht, ist noch kein Beweis für ihre Falschheit. Tatsache ist, dass es Verschwörungen und Machenschaften gibt, die manchmal auch gelingen, manchmal aber scheitern. Nun erhebt aber die Verschwörungstheorie den Anspruch, eine Gesellschaftstheorie zu sein und nimmt an,

daß wir praktisch alles in der Gesellschaft erklären können, indem wir fragen, wer es gewollt hat. Die wirkliche Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht dagegen darin, die Dinge zu erklären, die eigentlich niemand will – wie zum Beispiel einen Krieg oder eine Depression.12

Paradoxerweise sind echte Verschwörungen, fügt Popper hinzu, das Werk von an die Macht gelangten Vertretern der Verschwörungstheorie, wie Lenin und vor allem Hitler.

Poppers Bemerkung ist nicht ohne Scharfsinn. Man nehme als Beispiel einen Minister, der, da er nicht in der Lage ist ein Wahlversprechen zu halten, das Allgemeine Staatsrechnungsamt13 beschuldigt, die Handlungsfreiheit der Regierung zu behindern, also sich gegen sie zu verschwören, indem es dem Minister vorhält, dass eine Bilanzdeckung für die geplanten Maßnahmen fehle und dass daraus eine noch größere Staatsverschuldung entstehe. Da sich aber das Rechnungsamt an keiner Verschwörung beteiligt, sondern nur seine Arbeit getan hat, nämlich die Tragbarkeit weiterer Staatsausgaben prüfen, ist klar, dass der Minister dem Amt einen nicht vorhandenen Verschwörungswillen unterstellt, und damit selbst eine Verschwörung vorantreibt. In unserem Beispiel wird der nächste Schritt der Versuch sein, die Leiter des Amtes zu entlassen und sie durch ‹zuverlässiges› Personal zu ersetzen; das heißt, die Regierung wird versuchen, den Staatsapparat an sich zu reißen, indem sie nach und nach die Kontrolle über dessen Verwaltungsorgane übernimmt.

Weitere Schritte werden dann nicht ausbleiben: Früher oder später werden sich populistische Bewegungen bzw. Parteien darauf konzentrieren, die ‹Spielregeln› zu ändern. Da sie die Regierungstätigkeit als absolute Eigenmächtigkeit verstehen, ist jede Einschränkung derselben nicht nur eine Verschwörung gegen sie als Inhaber der Macht, sondern auch eine durch die Demokratie verursachte Beschränkung, die es zu überwinden gilt. Tatsächlich haben sich in Italien schon Stimmen erhoben, die die Demokratie als «nunmehr überholt»14 erklären: und darunter wird natürlich die liberale Demokratie verstanden. Der Weg zu dieser Überwindung führt unvermeidlich zum Versuch, die Verfassung auszuhöhlen. Übrigens hat man schon vor einigen Jahren einen angeblich «sowjetischen» Charakter der italienischen Verfassung beklagen hören, obwohl später dieselbe Stimme aus taktischen Gründen die Weisheit der «Verfassungsväter» beschworen hat.15

Wie schon angedeutet stellt das Fernsehen in einer durch Geschwindigkeit, Vereinfachung und Visualität beherrschten Wirklichkeit die einzig bedeutende Informationsquelle dar. Nur eine lachhafte Minderheit sucht nach erschöpfenderen Informationsquellen. Umso grundlegender für das korrekte Funktionieren der liberalen Demokratie ist daher die Qualität und Unabhängigkeit der Fernsehinformation. Folglich ist es umso wichtiger für die konkurrierenden politischen Kräfte, zumindest teilweise die Kontrolle über sie zu gewinnen. So war es ja auch bereits während der ‹ersten Republik›, welche mit der Reform von 1975 die Aufteilung der zwei staatlichen Fernsehsender im Verhältnis zum politischen Gewicht der Parteien beschloss. Vier Jahre später bekam mit der Einrichtung eines dritten Programms auch die Kommunistische Partei ihren Sender, der auf diese Weise in freien Wettbewerb zu den beiden anderen, von der Democrazia Cristiana bzw. Sozialistischen Partei kontrollierten Sendern treten konnte. Die Idee, echte Informationsunabhängigkeit, für die offensichtlich die politischen Bedingungen nicht gegeben waren, durch Wettbewerb zu ersetzen, konnte in jenen Jahren der generellen Politisierung sogar als gerechtfertigt erscheinen. Mit dem Untergang der alten Parteien und dem Auftreten neuer politischer Kräfte, doch vor allem mit dem Ende des öffentlich-rechtlichen Fernsehmonopols wurde eine gesetzliche Anpassung notwendig, um die Fernsehinformation und -propaganda, die bei einigen großen Privatsendern besonders rege und aggressiv war, zu regeln. So kam das sogenannte «par condicio»-Gesetz (Nr. 28 vom 24. Februar 2000) zustande, das jeder Partei bzw. politischen Strömung nach Gleichbehandlungskriterien eine streng definierte Sendezeit und -dauer zuwies. Eine vielleicht unerwünschte, jedenfalls unvorhergesehene Folge dieser Maßnahme hat dem Fernsehjournalismus den Todesstoß versetzt: In der Sorge, diese Norm ja nicht zu verletzen, verhalten sich Journalisten in ihren Berichten über politische Diskussionen und parlamentarische Debatten, über Gesetze und Gesetzesentwürfe äußerst vorsichtig, und anstatt zum Kern der Sache zu kommen, überlassen sie lieber das Wort für 20 oder 30 Sekunden den verschiedenen Politikern, die sich billigend oder missbilligend zeigen, je nachdem ob sie Regierung oder Opposition vertreten; mit der Folge, dass der Zuschauer nie mit sachlichen Inhalten konfrontiert wird. Der paradoxe Gipfel dieses regelrechten Verzichts auf journalistisches Berufsethos wurde anlässlich der hitzigen Polemik um die Nutzung des Europäischen Stabilitätsmechanismus während der Coronakrise erreicht. Vertreter der Regierung warfen der Lega vor, 2012 für den Beitritt Italiens zum ESM gestimmt zu haben, während der Lega-Chef das bestritt. Da es um eine Tatsache ging, wäre die Wahrheit leicht festzustellen gewesen; jedoch zogen die Fernsehjournalisten es auch in diesem Fall vor, sich nicht zu äußern.

Man kann freilich nicht die ganze Schuld auf diese allzu furchtsamen Journalisten abwälzen, wenn man bedenkt, mit welcher Verbissenheit Regierungsparteien in der Vergangenheit unerbittliche Kämpfe gegen hochangesehene Journalisten ausgetragen und oft gewonnen haben. Es muss allerdings gesagt werden, dass die «par condicio» die Wirkung einer Präventivzensur hat, ohne deren hässliches Gesicht zu zeigen und ohne verfassungswidrig zu sein. Die Kontrolle über das Fernsehen liegt sowieso in den Händen der parlamentarischen Überwachungskommission (commissione parlamentare di vigilanza), und der Aufsichtsrat, von dessen sieben Mitgliedern vier vom Parlament ernannt werden, bewegt sich unvermeidlich auch im Einflussbereich der Parteien. Die anti-elitäre Revolte hat daran nichts geändert.

Die herbeigewünschte «Überwindung» der liberalen Demokratie besteht natürlich nicht allein in der Einschränkung der unabhängigen Information, wodurch der Einfluss der parlamentarischen Minderheiten beträchtlich eingeschränkt und die Vormachtstellung der Mehrheit gefestigt wird; es müssen vor allem auch die konstitutionellen Kontrollformen reduziert werden, die als inakzeptable Einmischung in politische Entscheidungen empfunden und immer offener angeprangert werden. Schon wurden Proteste seitens einiger Abgeordneter gegenüber dem Verfassungsgericht laut, das «mit gestrecktem Bein» gegen das Parlament interveniert habe. Die Wahl der Fußballmetapher gehört ohnehin zur ‹Demokratisierung› der politischen Sprache, der ‹Demokratisierung›, die unter anderem von jenem Mann heraufbeschworen wurde, der behauptet hat, es sei «möglich, einer Politik unverständlichen Geschwätzes, dummen Gezankes und stümperhafter Politikaster ein Ende zu setzen»16. Viel besorgniserregender ist die solchen Äußerungen zugrunde liegende Auffassung, dass die Tätigkeit des Parlaments als Ausdruck des Volkswillens keine andere Einschränkung als durch das Volk selbst dulden kann. Sollten der Präsident der Republik, der Rechnungshof, das Verfassungsgericht es versuchen, würden sie sich eine Übertretung der Parlamentsrechte zuschulden kommen lassen.

In der demokratisch-populistischen Vorstellung ist das Parlament nämlich nicht eines von vielen Staatsorganen, sondern das einzige; und da Parlament de facto parlamentarische Regierungsmehrheit bedeutet, so wird, nachdem diese durch das Ritual der allgemeinen Wahlen die Salbung des Volkes erhalten hat, die Regierung unbegrenzt ermächtigt, zu entscheiden und zu handeln. Im Namen der Effizienz und Schnelligkeit wird es dann auch noch möglich werden, die Formalien der parlamentarischen Stimmabgabe zu vereinfachen, indem letztere nur von den Fraktionsvorsitzenden ausgeführt wird. Um fraktionsabtrünnigem Verhalten vorzubeugen, wird dann noch das imperative Mandat eingeführt werden; um ähnliche Risiken bei der Stimmabgabe im Senat zu vermeiden, wird man dem Präsidenten der Republik seine Prärogative entziehen, die fünf Senatoren auf Lebenszeit zu ernennen17, die sich als denkende Köpfe schwerlich den populistischen Stimmen anschließen würden. Vor einiger Zeit wurde außerdem vorsichtshalber die Direktwahl des Präsidenten der Republik vorgeschlagen: ein unvergleichlicher Einfall, der in Anbetracht der Eigenschaften und mentalen Interessen des Durchschnittswählers im besten Fall die Wahl eines Fußballspielers oder eines Schlagersängers herbeiführen würde, und es ist leicht vorstellbar, wie geeignet diese wären, das korrekte Funktionieren der Staatsorgane zu garantieren; allerdings hätte eine solche Präsidentengestalt den Vorteil, viel zahmer zu sein als ein Verfassungsrechtler, der die Nase in jede Ernennung und jeden Gesetzesentwurf steckt.

Wie man sieht, kann sich eine plebiszitäre Demokratie nicht etablieren ohne schwerwiegende Eingriffe in die Verfassung vorzunehmen. Offen bleibt dabei, was der Zweck von all dem ist? Die eigene Macht festigen, aber um was zu tun? Bei Forza Italia konnte kein Zweifel bestehen, dass sie sich rechts im politischen Spektrum positionierte (was ihre verspätete Polemik gegen den inzwischen völlig entkräfteten Kommunismus bewies), wenn auch mit einigen Abweichungen, die wahrscheinlich den sie unterstützenden Interessensverbänden zuzuschreiben waren. Die Fünf-Sterne-Politiker bezeichnen sich als «postideologisch», und tatsächlich scheint es genauso willkürlich, sie (wie einige zu tun pflegen) als Faschisten abzustempeln wie als Linkspopulisten (was zahlreiche deutsche Politikwissenschaftler nach wie vor tun). Anders als bei Forza Italia ist ihre wichtigste Zielgruppe nicht nur die Mittelschicht, sondern es sind auch Antipolitiker, echte oder angebliche Umweltschützer, Gegner infrastruktureller Großprojekte und Impfgegner, dazu noch diejenigen, die nicht nur in Süditalien von Armut bedroht oder schon in die Armut abgerutscht sind. Politische Vorschläge der Bewegung sind oft improvisiert und widersprüchlich, manchmal launenhaft wie ihr Begründer: Sie schwanken zwischen fundamentalistischem Demokratismus (ihre Onlineplattform ist nach Rousseau benannt) und der Idealvorstellung eines Losverfahrens bei der Regierungsbildung wie im alten Athen, wobei nicht klar ist, ob für die Ausgelosten eine Dokimasie vorgesehen ist, d. h. «die Prüfung, der der Ausgewählte vor seiner Bestätigung unterzogen wurde, um seine Fähigkeit festzustellen, das Amt zu bekleiden»18. Aber vielleicht reichen die Kenntnisse des Initiators dieses Vorschlags nicht bis zu solchen Einzelheiten, umso mehr weil er sich dann auch genötigt sähe, geeignete Prüfer zu finden.

Die Unbestimmtheit des Programms der Fünf-Sterne-Bewegung macht es also sehr schwer, sie innerhalb des politischen Spektrums zu verorten, ohne die Denkmuster zu sprengen, die uns die Vergangenheit hinterlassen hat, die uns aber nunmehr als konzeptuell unzureichend und überholt erscheinen. Die einzig eindeutige und gleichzeitig besorgniserregende Tatsache ist die starke umstürzlerische und verfassungswidrige Kraft dieser Bewegung, deren plebiszitärer Demokratismus mit internem Monolithismus bolschewistischer Prägung gepaart ist. In der Ausübung der Macht wird sie also dazu neigen, Ausgleichs- und Kontrollinstanzen (checks and balances) einzuschränken, einer Tendenz folgend, die sich in einigen osteuropäischen Ländern schon abgezeichnet hat. Was die konkrete Politik betrifft, wenn man vom sogenannten Grundeinkommen absieht, das in Wirklichkeit eine Langzeitarbeitslosenhilfe ist (wie etwa das deutsche Hartz IV, abgesehen davon, dass seine Finanzierung viel problematischer ist als in Deutschland), so ist die Fünf-Sterne-Bewegung mit erheblichen internen Problemen konfrontiert, vor allem wegen ihrer vordergründig negativen Ausrichtung: Es ist nicht einfach, eine Einigung über irgendeine Maßnahme unter Menschen zu erzielen, die zu fast allem Nein sagen. Daher die große Angst vor parlamentarischer Abtrünnigkeit und das Bestehen auf dem imperativen Mandat. Da letzteres aber von der italienischen Verfassung (Art. 67) ausdrücklich ausgeschlossen ist, wurde es durch einen (rechtlich fragwürdigen) Privatvertrag zwischen der Bewegung und dem einzelnen Abgeordneten, den dieser bei der Amtsübernahme unterschreibt, ersetzt.

Das von Rousseau aufgestellte und von der Sowjetregierung anfänglich angewandte Prinzip eines jederzeit widerrufbaren politischen Mandats darf in einer repräsentativen Demokratie nicht bestehen, weil in dieser der Gewählte für eine ganze Legislaturperiode im Amt bleiben muss. Ein Widerrufsrecht seitens des Wählers setzt in der Tat eine permanente Versammlung aller Bürger voraus, die nur in sehr kleinen Gemeinden oder aber in den kurzen Zeitspannen revolutionären Aufflammens möglich ist. Das von der Fünf-Sterne-Bewegung befürwortete (und von Forza Italia schon 2009 vorgeschlagene19) imperative Mandat will das widerrufbare Mandat dadurch ersetzen, dass der Abgeordnete an die politischen Entscheidungen seiner Bewegung bzw. Partei gebunden wird. Wohlgemerkt besteht die Bindung nicht zu den Wählern, die die Gewählten gesalbt haben, und kann das auch nicht, sondern zu der Partei bzw. Bewegung – in Wirklichkeit, nach Roberto Michels’ Ehernem Gesetz20, zu den sie anführenden Oligarchien. Es ist also klar, dass hier eine genau umgekehrte Bindung zustande kommt, aufgrund derer es nicht der Abgeordnete ist, der an den Volkswillen gebunden ist, sondern das Volk an den Willen der Parteiführung. Nachdem sie gewählt worden sind, müssen die Abgeordneten der führenden Oligarchie gehorchen, während das Volk, ständiger Gegenstand populistischer Beschwörungen, nichts mehr zu sagen hat.

Das imperative Mandat wird mit dem Argument untermauert, das Volk habe seine Vertreter beauftragt, das Programm der Bewegung bzw. Partei umzusetzen. Doch statistisch gesehen setzt eine Regierung durchschnittlich 30–40% ihres Programms um (mit Spitzenwerten von 70% im Falle Deutschlands); der Prozentsatz sinkt bei immer unvermeidlicher werdenden Regierungskoalitionen, die den Verzicht auf einen Teil des eigenen Programms und die Aufnahme von einem Teil des Programms der anderen Regierungspartei oder -parteien erfordert. Hinzu kommt, dass die Regierungstätigkeit sich keineswegs auf die Umsetzung eines Wahlprogramms beschränkt, da die meisten Gesetzes- und Verwaltungsmaßnahmen auf aktuelle, im Wahlprogramm nicht berücksichtigte Umstände reagieren: Letztendlich ist selbst die Steuererhebung von der Wirtschaftslage abhängig (Inflations- bzw. Deflationsrate, Beschäftigungs- und Investitionsniveau).21 In diesem Fall hat es offensichtlich keinen Sinn, sich auf den Willen der Wähler zu berufen. Im Übrigen, wie ähnlich Wahlmandat und privatrechtliches Mandat auch immer sein mögen22, die zustande kommende Bindung ist unterschiedlicher Natur. Beim Wahlmandat erteilt der Mandant, d. h. die Gesamtheit der Wähler, dem Gewählten das Mandat, in Vertretung des Mandanten und nach eigener Einschätzung der jeweiligen Probleme und Situationen im Parlament zu agieren. Dieser nach eigenem Gewissen getroffenen, also freien Einschätzung steht die Entscheidung der Parteiführung entgegen, der sich der Gewählte unterzuordnen hat. Ist das Mandat imperativ, so ist eine solche Unterordnung vollständig: jedoch nicht vom Mandanten zum Mandatar, sondern vom Mandanten zu einem Mittler (die Parteiführung), der das Mandat erhält und es durch ein eigenes Mandat ersetzt, dessen Inhalt durchzuführen er dem Mandatar auferlegt. So wird der Mittler zum tatsächlichen Mandanten, an den der scheinbare Mandant die eigene Funktion gänzlich abgetreten hat. Die Wähler, weit davon entfernt, ein wirkliches Mandat übergeben zu haben, haben sich folglich darauf beschränkt, aus einer Liste die Mandatare auszuwählen; diese werden dann ihr Mandat vom realen Mandanten erhalten, der politischen Führung, die strengstens überwachen wird, dass ihre Anweisungen ausgeführt werden. Mit anderen Worten ist das imperative Mandat eine Investitur, durch die das Volk die von ihm gewählten Vertreter – also indirekt sich selbst – der bedingungslosen Herrschaft ihrer Parteiführer ausliefert. (Wenn es so ist, ist es völlig egal, ob die Wahlkandidaten durch Vorwahlen oder von der Parteioligarchie bestimmt werden, da sie nach den Parlamentswahlen dieser gegenüber zu blindem Gehorsam verdammt sind.)

Scheinbar können die durch ‹digitale Demokratie› eröffneten Perspektiven eine direkte Demokratie möglich machen. In Wahrheit sind sie enorm überbewertet, sowohl faktisch als auch prinzipiell. Prinzipiell, weil die penibelsten und kompliziertesten Identifikations- und Legitimierungsverfahren notwendig wären, um Millionen von Menschen das Abstimmen zu erlauben; außerdem würden sie höchstwahrscheinlich die Privatsphäre der Wähler verletzen. Faktisch, weil allein schon die direkte Demokratie innerhalb der Fünf-Sterne-Bewegung diesbezüglich keinen Grund zur Hoffnung gibt, denn die Zahl der Teilnehmer an den Vorwahlen ist sehr niedrig, weit unter der der Mitglieder;23 darüber hinaus sind für die einfachen Mitglieder die Möglichkeiten, Ausrichtung und politische Entscheidungen der Bewegung zu beeinflussen, sehr gering, da nur «die zwei Vorschläge», die im Netz «die meisten Stimmen bekommen, in Gesetzesentwürfe umgewandelt werden»; außerdem müssen dieselben Vorschläge die Überprüfung einer «Bewertungskommission» durchlaufen, von der wir nichts wissen.24 Aber selbst wenn eine direkte Demokratie des digitalen Netzes (eine Demokratie von Millionen isolierter Individuen, die einander nicht ins Gesicht schauen können und nur einen Computerbildschirm vor sich haben) realisierbar wäre, würde sie sich lohnen? Allein die große Zahl ersetzt keine Kenntnisse, die ungeordnete Äußerung von Wünschen und Hoffnungen macht das Unmögliche nicht möglich. Aber vor allem würde man auf diese Weise jener Tyrannei der Mehrheit Tür und Tor öffnen, vor der schon Alexis de Tocqueville in seinem Hauptwerk gewarnt hat.

(deutsche Übersetzung: Cesare De Marchi und Benedikt Fäßler)

  1. Schumpeter, Joseph Alois: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München: Leo Lehnen Verlag ²1950, S. 431 (Capitalism, Socialism and Democracy, New York and London: Harper & Brothers Publishers ²1942, p. 271).
  2. Bekannterweise handelt es sich dabei um eine rein journalistische Bezeichnung, da es in Wirklichkeit eine zweite Republik nie gegeben hat; noch hat es Änderungen in der Verfassung gegeben, die nach wie vor in ihrer ursprünglichen Form erhalten bleibt.
  3. Galli, Giorgio: Il bipartitismo imperfetto. Comunisti e democristiani in Italia, Bologna: Il Mulino 1966. Ronchey beschrieb dieselbe Tatsache als «fattore K» («Corriere della sera», versch. Artikel von 1979, und dann in Buchform: Chi vincerà in Italia? La democrazia bloccata, i comunisti e il fattore K., Milano: Mondadori 1982.)
  4. Dahrendorf, Ralf: Class and Class Conflict in Industrial Society, Stanford, California: Stanford University Press 1959, p. 273–74. (Die deutsche Ausgabe Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart: Enke Verlag 1957, in der die hier zitierte Stelle sich nur teilweise auf S. 240–41 befindet, wurde vom Autor selbst ins Englische übersetzt und erweitert.)
  5. Ortega y Gasset, José: La rebelión de las masas, in Obras completas, tomo iv, Madrid: Revista de Occidente ³1955, p. 143–4. (Hier zitiert aus der deutschen Übersetzung von Helene Weyl, Der Aufstand der Massen, DVA: Stuttgart-Berlin 1931, S. 8.) Der Leser wird bemerkt haben, dass ich für das spanische ‹Rebelión› das Wort ‹Auflehnung› als angemessener betrachte.
  6. Ibidem, p. 147; dt. Übers., S. 13.
  7. Ibidem, p. 196; dt. Übers., S. 86–87.
  8. De Marchi, Cesare: Il talento, Milano: Feltrinelli 1997, p. 32–33. (Niemand, meine ich, wird abstreiten wollen, dass der Mensch zuallererst Rechte hat, und dass, bevor diese geltend gemacht worden sind, Pflicht für ihn ein sinnloser Begriff ist. [...] Gebt mir, was mir zusteht, dann könnt ihr von meiner Pflicht reden!)
  9. Von Beppe Grillo am 08.09.2007 angeregte Demonstration für ein «sauberes Parlament», in voller Länge zu sehen unter https://www.youtube.com/watch?v=n7VWr4-Kpcw%20 («V-Day: un parlamento pulito») .
  10. Aron, Raymond: Demokratie und Totalitarismus, Hamburg: Wegener Verlag 1970, S. 101 (Démocratie et totalitarisme, Paris: Gallimard 1965, p. 144).
  11. Anfang April 2020 wurden in Norditalien gegen einige Altersheimleiter Ermittlungen eingeleitet mit der etwas kuriosen Begründung der «fahrlässigen Epidemie» (epidemia colposa). Auch sollte erwähnt werden, dass anlässlich des Brückeneinsturzes in Genua 2018 der Lega-Chef, damals Innenminister, sofort die Identifizierung des Täters verlangte («voglio il colpevole»). In beiden Fällen hat es sich wohl eher um Unterlassungsdelikte gehandelt.
  12. Popper, Karl: Versuch einer rationalen Theorie der Tradition, in Vermutungen und Widerlegungen, Tübingen: Mohr Siebeck ²2000, S. 181–82 (Towards a Rational Theory of Tradition, in Conjectures and Refutations [1963], London: Routledge and Kegan Paul: 2002, p. 167).
  13. Gemeint ist hier die italienische Ragioneria generale dello Stato, eine Abteilung des Wirtschafts- und Finanzministeriums. Sie muss die Bilanzdeckung dieses und anderer Ministerien überprüfen sowie die korrekte Verwendung öffentlicher Ressourcen garantieren.
  14. Vgl. etwa das Interview von Beppe Grillo mit Ian Bremmer: https://www.beppegrillo.it/la-democrazia-e-superata/
  15. Über entsprechende mündliche Äußerungen von Silvio Berlusconi berichteten das italienische Fernsehen sowie u. a. «la Repubblica» und «Corriere della Sera».
  16. I discorsi che hanno cambiato l’Italia, hrsg. von Antonello Capurso, Milano: Mondadori 2008, p. 306. (Die zitierten Worte stammen aus der Fernsehansprache Berlusconis vom 26.01.1994.)
  17. Jeder Präsident der italienischen Republik darf (gemäß Art. 59 der Verfassung) bis zu fünf Senatoren auf Lebenszeit ernennen. Diese wurden und werden wegen besonderer Verdienste aus Wissenschaftlern, Künstlern, Dichtern ausgewählt.
  18. De Sanctis, Gaetano: Storia dei Greci dalle origini alla fine del secolo V, Firenze: La Nuova Italia 1940, vol. ii, p. 218.
  19. In Form einer einzigen vom Fraktionsvorsitzenden stellvertretend für die ganze Fraktion abgegebenen Stimme.
  20. Vgl. Roberto Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens (1911).
  21. Vgl. Aron, Raymond: Démocratie et totalitarisme, a. a. O., p. 62 (dt. Übers., S. 44–45).
  22. Vgl. zu diesem Problem Sartori, Giovanni: Elementi di teoria politica, Bologna: Il Mulino ³1995, p. 307–308 und 323–327.
  23. Casalini, Simona u. Custodero, Alberto: M5s, Di Maio eletto candidato premier e nuovo capo politico, in «la Repubblica», 23.09.2017.
  24. «Bevor dein Gesetzesvorschlag veröffentlicht und der Abstimmung der anderen Mitglieder unterbreitet wird, muss er zuerst gebilligt bzw. abgelehnt werden von der Bewertungskommission des Rousseau-Teams, die überprüfen wird, ob der Vorschlag geeignet ist» (Rousseau. Sistema operativo del MoVimento 5 Stelle, «Lex Iscritti», Introduzione: aufgerufen am 29.9.2018).