Die Ironie – ein sizilianisches Instrument des Überlebens

• Santo Piazzese •

(Übersetzung: Monika Lustig)

PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EAA3-9

An einer Stelle in Das Ägyptische Konzil von Leonardo Sciascia verabschiedet sich der Vizekönig Caracciolo nach einer – wir würden heute sagen – mondänen Kirmes von seinem Gesprächspartner, dem jungen palermitanischen Rechtsgelehrten Francesco Paolo Di Blasi mit einer prononcierten, Montesquieu paraphrasierenden Frage und einem geistsprühenden Lächeln: «Wie kann man nur Sizilianer sein?»

Der Roman spielt in Palermo zwischen 1782 und 1795. Di Blasi, ein glühender Aufklärer, ganz und gar den Ideen und Idealen der Französischen Revolution verschrieben, beteiligt sich aktiv an der Organisation eines Aufstandes gegen die übermächtige, repressive sizilianische Aristokratie, die nur auf Selbsterhalt aus und frei von jeder konstruktiven Vision ist, mit dem Ziel, eine sizilianische Republik ins Leben zu rufen.

Der Verschwörung angeklagt, ins Gefängnis geworfen und gefoltert, wie auch andere Patrioten, weigert er sich, die Namen der Mitverschwörer preiszugeben, die sich der Verhaftung hatten entziehen können. Er endet auf dem Schafott.

Wäre der Vizekönig Caracciolo unterdes nicht gestorben, hätte die Geschichte höchstwahrscheinlich ein anderes Ende nehmen können, denn, wie aus den Seiten des Konzils hervorgeht, existierte zwischen den beiden ein zartes Band gegenseitiger Hochachtung und Sympathie, war doch der Vizekönig ebenfalls ein Anhänger der Aufklärung und teilte viele Ideen des jungen Intellektuellen.

Rund zwei Jahrhunderte nach Francesco Paolo di Blasis Tod hat die Stadtverwaltung von Palermo eine wichtige Straße im gutbürgerlichen Stadtviertel Libertà, wenige hundert Meter vom Wohnsitz Leonardo Sciascias entfernt, nach ihm benannt. Ich weiß nicht, ob der Schriftsteller Sciascia zu irgendeiner Zeit mündlich oder schriftlich mit seiner glasklaren Ironie, die wir zu seinen Lebzeiten schätzen lernten und der wir seit seinem Tod schmerzlich nachtrauern, die Entscheidung kommentiert hat, dem Patrioten eine Straße just in dem Stadtviertel zu widmen, das Symbolcharakter für jenes Bürgertum hatte, das im Laufe der Jahre die Macht der Aristokratie zersetzte und dann in ihre Fußstapfen trat, jener Aristokratie, der Di Blasi von seiner Geburt her angehörte. Wer weiß, was der Rechtsgelehrte darüber gedacht hätte, er, der versuchte, die Machtverhältnisse zwischen dem sizilianischen Landbesitzadel und den ärmeren Klassen umzukehren, sie, die ‹letzten› der Gesellschaft, die er von ihrem Joch befreien wollte und in deren Namen er auf dem Schafott geendet ist. Vielleicht hätte er es vorgezogen, dass eine kleine Piazza in einem der historischen volksnahen Märkte Palermos nach ihm benannt werde. Es ist, als ob die Verantwortlichen der städtischen Toponomastik – willentlich oder unbewusst – eine Art status quo ante wiederherstellen wollten, angesichts dessen, dass das Volk, für das Di Blasi gekämpft hat und das seine großherzige Unternehmung hätte mittragen müssen, voller Begeisterung die Nachricht vom Scheitern der Revolte und von der Verhaftung der Verschwörer aufgenommen und sich zugleich de facto auf die Seite der eigenen Patrons gestellt hatte.

Das Studium von Ereignissen wie diesem muss bei Sciascia einen intellektuellen Prozess ausgelöst haben, der am Ende seinen Pessimismus hinsichtlich der Möglichkeit einer Rettung des sizilianischen Volkes bekräftigen sollte, auch weil diese Episode in der langen Geschichte Siziliens nicht allein dasteht. Ereignisse, die in gewissen Fällen beinahe die Antizipation eines ganzen Schicksals sind. Man denke nur an die Geschichte der Sizilianischen Vesper, die von den sizilianischen Baronen ‹gelenkte› Volksrevolte: Durch sie kam es 1282 zur Vertreibung der damaligen Herrscher, der Franzosen unter Karl I. von Anjou, an deren Stelle zuerst die Aragonesen, dann die Spanier traten, die zusammengenommen über vierhundert Jahre die Herrschaft über Sizilien innehatten. So lautet denn auch ein gewisser ironischer Kommentar: Anstatt zu gegebener Zeit die Aufklärung und die Französische Revolution mit ihren jeweiligen Rückschlägen hinsichtlich des Problems des laizistischen Staats zu haben, musste die Insel die Inquisitionen des Heiligen Offiziums und eine Kirchenherrschaft über sich ergehen lassen, die über die Jahrhunderte die Kirche und das Leben der Sizilianer konditionieren sollte.

Stichwort Ironie. Diejenige Sciascias konnte nicht anders als bitter sein, weil bitter sind die wechselhaften Geschichten Siziliens und der Sizilianer. Und die seine ist eine Ironie, die seinen Pessimismus mitnichten abgemildert hat. Die größte Sünde Siziliens – so Sciascia – ist die gewesen und ist es noch immer, nicht an Ideen zu glauben. Und da er die Theorie aufstellte, dass Sizilien eine Metapher der Welt geworden sei, war sein Pessimismus ein kosmischer, oder anders gesagt, ein absolutes Nicht-Vertrauen in die evolutiven Fähigkeiten der Welt – einer Welt, die sich anmaßte, die Existenz der Ideen ignorieren zu können.

Diese Vision erreichte ihren vielfach zitierten Gipfel und vielleicht auch ihren ironischsten in der berühmten Metapher von der «Palmenlinie». Sciascia hatte gelesen, dass sich der Breitengrad, auf dem das für das Wachstum der Palme günstige Klima vorherrscht, aufgrund der Erderwärmung Jahr für Jahr, so die Wissenschaftler, um einige hundert Meter von Süd nach Nord verschiebt. Wehe den Folgen! fügte er hinzu. Damit meinte der Schriftsteller die zunehmende Mafiosität, die fortschreitende Sizilianisierung, im weniger noblen Sinn des Wortes, der italienischen und europäischen Realität. Mehr noch als eine Metapher ist es ein Bloßlegen der Fakten, und ich frage mich, welche Wege sein Denken heute eingeschlagen hätte, wäre er nicht viel zu früh von uns gegangen. Das ging mir vor allem nach Vorkommnissen wie dem Massaker von Duisburg durch den Kopf. Oder als ich zum ersten Mal die schlanken Palmen zu Gesicht bekommen habe, die rund um gewisse mitteleuropäische Seen in die Höhe ragen, in Ländern mit starken Finanzmächten. Denn bekanntlich folgen die Mafien dem Fluss des Gelds. Palmen, die im Laufe der Zeit mir immer größer, immer höher aufragend und immer zahlreicher dünken. Ob Sciascia sie je zu Gesicht bekommen haben wird?

Als Autor historischer Romane war Sciascia sich gewiss des Privilegs bewusst, das dieses Genre den Schriftstellern bietet, die sich ihm widmen – des Privilegs der Prophezeiung. Die Ereignisse zu kennen, die zwischen der Epoche, in der der Roman spielt, und der aktuellen Zeit des Schreibenden aufeinanderfolgten, begünstigt die Analyse der Ursache-Wirkung-Mechanismen, die sie in die eine Richtung und eben nicht in die andere lenken. Im Falle Sciascias verdichtete sich der Gebrauch der Ironie oft zu einer Art literarischer Leitfaden, der nicht im engeren Sinne in die Zeit des Romangeschehens münden muss: Die Ironie des sizilianischen Schriftstellers hatte die Tendenz, mit der Metapher zu verschmelzen. Dazu liefert er just auf der vorletzten Seite des Ägyptischen Konzils ein Beispiel: Wenn Di Blasi, noch aufrecht auf dem Schafott stehend, seinen Blick zu dem Häufchen Zuschauer schweifen lässt, die seiner Hinrichtung beiwohnen, und «unter den wenigen verdreckten, zerlumpten Personen, stach, elegant gekleidet mit rosigem Antlitz und gut frisiert, Doktor Hager ins Auge», ein Fremder, der sich in Palermo aufhielt. «‹Diese Leute wollen alles wissen, alles sehen›, denkt Di Blasi, ‹aber die wesentlichen Dinge, die Dinge, die wirklich zählen, die sehen sie am Ende nicht. Er wird in seinem Tagebuch meine Enthauptung beschreiben, aber er wird kein Wort über die Gründe, weshalb sie mich enthaupten, zu Papier bringen.› Und dann erinnerte er sich an den Tag im Frühling, als sie jenen Goethe nach Monreale begleitet hatten: ein Mann, den wegen einer Tonscherbe von Selinunt, einer Münze aus Siracusa Rührung überkam, der aber angesichts der Pracht von Monreale keinerlei Regung zeigt, ja sich von ihr beinahe belästigt fühlte.»

Im Ägyptischen Konzil gibt es nicht die Spur einer Antwort aus dem Mund des Juristen Di Blasi auf die Frage des Vizekönigs Caracciolo. Sciascia hat sie selbst in seinem Text «Come si può essere siciliani?» in der Sammlung Fatti diversi di storia letteraria e civile geliefert, den Essay von David Herbert Lawrence über Giovanni Verga zitierend:

[…] um auf Verga zu sprechen zu kommen und auf seinen Roman, dessen Protagonist Mastro Don Gesualdo ist, sagt David Herbert Lawrence an einer bestimmten Stelle: «Gesualdo ist ein ganz gewöhnlicher Mann, ausgestattet mit einer außerordentlichen Energie. Solches ist er natürlich in der Intention. Aber er ist Sizilianer. Und hier kommt die Schwierigkeit ans Licht.»

Die Schwierigkeit: Ja, besser hätte man es nicht auf den Punkt bringen können […] Denn auf die Frage Wie kann man nur Sizilianer sein? kann ein Sizilianer antworten «Mit Schwierigkeit nur». Diese Schwierigkeit hat der Sizilianer Giuseppe Antonio Borgese in der Sentenz ‹nec tecum nec sine te vivere possum› des Dichters der Antike [Martialis, Anm. d. Ü.] kondensiert; Historiker wie Michele Amari und Isidoro La Lumia haben diese lebendig werden lassen, indem sie voller Leidenschaft die Vergangenheit der Insel zu ihrem Thema machten; Schriftsteller wie eben Borgese […] haben sie in ihrem Werk ausgebreitet; und so auch Dichter und Maler. Und auch wir sind hier, um sie zu leben, diese schmerzliche und freudvolle Schwierigkeit.

Mir gefällt der Gedanke, dass Sciascia im Geiste hinzugefügt haben mochte: «Und mit Ironie». Denn als Sizilianer konnte er nicht leugnen, dass die Ironie für uns Sizilianer ein Instrument des Überlebens ist.

Juni 20201

  1. Dieser Essay von Santo Piazzese erscheint in der Edition Converso Ende Januar 2021 als Begleittext nebst einem Essay von Maike Albath in der so genannten Festschrift zum 100. Geburtstag von Leonardo Sciascia (8.1.1921, Racalmuto – 20.11.1989, Palermo): Ein Sizilianer von festen Prinzipien, aus dem Italienischen von Monika Lustig unter Verwendung einer Übersetzung von Michael Kraus, ISBN 978-3-9819763-9-7; darin: erstmals auf Deutsch «Tod des Inquisitors» und «Der Mann mit der Sturmmaske». Premiere mit Diskussionsveranstaltung am 26. Februar 2021 in Karlsruhe, mit Prof. Aldo Venturelli, Prof. Michael Schwarze (Uni Konstanz), Dr. Maike Albath, Santo Piazzese, Monika Lustig. Weitere Veranstaltungen an mehreren Orten mit akademischen Referenten, auch mit Filmvorführungen sind in Planung; (https://www.edition-converso.com/).