Die Peripherie im Kino Pasolinis: Accattone (1961) und Mamma Roma (1962)

· Pascal Oswald1 ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-F446-7

1 Einleitung

Roma città aperta, das neorealistische Meisterwerk Roberto Rossellinis aus dem Jahr 1945, endet mit einer Panoramaansicht der Ewigen Stadt: Nach der Erschießung des Priesters Don Pietro kehren die Kinder, die ihm die letzte Ehre erwiesen haben, ins Stadtzentrum zurück. Im letzten Bild des Films dominiert die übermächtige Kuppel von San Pietro die Ansicht Roms. Die sich vom Betrachter entfernenden Kinder, die sich unter ihrem Anführer Romoletto aktiv an der Resistenza gegen die deutsche Besatzung beteiligt haben, stehen für den Neuanfang des Landes in einer besseren Zukunft nach Kriegsende.2

Abb. 1: Schlussszene von Roma città aperta

Mamma Roma, der zweite Film Pier Paolo Pasolinis, endet ebenfalls mit einer Panoramaansicht Roms, aber eines völlig anderen Roms: Was hier in der Schlussszene zu sehen ist, ist das Rom der östlichen Peripherie, das Cecafumo-Viertel mit der Kuppel der Basilika San Giovanni Bosco.3 Statt des Blicks in Richtung des belebten Stadtzentrums von Roma città aperta stellt Pasolini hier eine anonyme, seelenlose, unbewegte und menschenleere Ansicht einiger weiß-grauer Wohnblöcke der Peripherie hinter ödem Brachland.

Abb. 2: Schlussszene von Mamma Roma

Im Gegensatz zu Roma città aperta wird hier Hoffnungslosigkeit markiert: Die Protagonistin des Films, Mamma Roma, verkörpert durch die Ikone des Neorealismus Anna Magnani, erblickt die Skyline von Cecafumo bei ihrem Versuch, sich durch einen Sturz aus dem Fenster umzubringen, nachdem sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes Ettore erhalten hat. Während in Rossellinis Film die von Magnani gespielte Pina durch die Schüsse der Deutschen stirbt und von ihrem Sohn betrauert wird, stirbt bei Pasolini der einzige Sohn der Protagonistin.

Die Skyline von Cecafumo erscheint in Mamma Roma insgesamt acht Mal: Zum Schluss scheint es, als ob die Peripherie Mamma Roma ‹betrogen› habe.4 Ihr Wunsch, sozial ins Kleinbürgertum aufzusteigen und ihrem Sohn eine bessere Zukunft zu ermöglichen, hat sich als Illusion erwiesen.5 Das verheißene Ziel einer kleinbürgerlichen Existenz, verkörpert durch die Panoramaansicht von Cecafumo, bleibt ein unerreichbares Bild in der Ferne: «Sotto la sua finestra, la distesa di Roma, palazzoni e prati fumiganti, si apre immensa e indifferente sotto il sole»6 heißt es im Drehbuch.

Bereits in Pasolinis erstem Film Accattone aus dem Jahr 1961 stehen die römische Peripherie und das dortige Subproletariat (sottoproletariato) im Zentrum der Darstellung: Die von dem Zuhälter Vittorio Cataldi, genannt Accattone, zurückgelegten Wege beschränken sich fast ausschließlich auf die borgate, die in der Zeit des Faschismus entstandenen und oft mit billigstem Material erbauten Vorstadtviertel Roms. Als Accattone am Schluss des Films versucht, aus den borgate auszubrechen, findet er bei einem Motorradunfall den Tod. Der Film erregte durch seine Darstellung dieser marginalisierten sozialen Realität derartiges Aufsehen, dass er als erste italienische Produktion für Zuschauer unter 18 Jahren verboten wurde.7

Zu Pasolinis Leben und Werk ist bereits sehr viel geschrieben worden. In den letzten beiden Jahrzehnten sind auch Studien zu Pasolinis Rom und zu dessen filmischen Frühwerken Accattone und Mamma Roma erschienen.8 Dennoch fehlt bislang eine Arbeit, welche speziell die Darstellung der Peripherie mit ihren vielfältigen soziologischen wie architektonischen Facetten in diesen beiden Filmen untersucht. Eben dazu sollen hier im Folgenden einige Überlegungen präsentiert werden.

2 Historische und biographische Hintergründe

2.1 Kurze Geschichte der borgate

Das Konzept der Peripherie (von griech. Περιφέρω, ‹herumtragen›) bezieht sich im engen Sinne auf eine spezielle historische Periode, das 20. Jahrhundert, und auf ein spezifisches Gesellschaftsmodell, das der abendländischen ‹fordistischen› Gesellschaften.9 In Rom, das seit der Erklärung zur Hauptstadt des italienischen Nationalstaats im Jahr 1871 ein kontinuierliches demographisches Wachstum erfuhr,10 entstand die eigentliche Peripherie während des Faschismus mit der Errichtung der borgate und dehnte sich in der Nachkriegszeit mit oft illegalen Bauprojekten aus.

Der Begriff borgata kommt von borgo und ist pejorativ gefärbt. Inoffizielle borgate entstanden bereits im Zuge der Bauprojekte im römischen Stadtzentrum nach 1871, als die dadurch von dort vertriebenen Menschen direkt hinter der Aurelianischen Mauer Baracken errichteten.11 Die insgesamt zwölf borgate ufficiali wurden erst während der Zeit des Faschismus erbaut. Die Qualität der dortigen Bauten war nie besonders gut, es wurde billiges Material verwendet und für die Auswahl der Grundstücke, auf denen gebaut wurde, war die Höhe der Kosten ausschlaggebend.12

Abb. 3: Gebäude der borgata Val Melaina in Ladri di biciclette

Die frühen borgate, die regelrechte Skandalbauten waren, wurden vom Governatore di Roma und noch nicht, wie fälschlicherweise oft behauptet, vom Istituto Fascista Autonomo Case Popolari geplant. Prenestino, der erste Kern von Primavalle, Teano, Gordiani, Tor Marancia, Sette Chiese, Appio und der erste Kern von Pietralata entstanden im Laufe weniger Monate. Diese prime borgate, wegen der kurzen Bauzeit auch borgate ‹rapidissime› genannt, prägten das Stadtbild bis in die 1970er-Jahre negativ, als die letzten Baracken der borgate Pietralata und Gordiani abgerissen wurden. Die Entscheidung zur Errichtung der ersten borgate traf 1929 – unabhängig von der faschistischen Regierung – der governatore Boncompagni Ludovisi. Erst die späteren borgate ‹popolarissime› wie Primavalle, Trullo, Val Melaina, Quarticciolo, Tufello, Donna Olimpia und San Basilio wurden vom Institut realisiert. Den borgate von Val Melaina hat Vittorio De Sica in seinem 1948 erschienenen neorealistischen Film Ladri di biciclette, in dem gleich zu Beginn die unverkennbaren Wohnblöcke dieser borgata erscheinen, ein Denkmal gesetzt.13 Um das Rom der großen – antiken wie faschistischen – Monumente sichtbar zu machen, ließ Mussolini im Zentrum Roms Bauten aus anderen Epochen abreißen, etwa in den Vierteln Borgo Pio, Trastevere und San Lorenzo; insgesamt fielen diesen sventramenti mehr als 5.500 Wohnungen zum Opfer.14 Nach einer invention of tradition stammten die neuen Bewohner der borgate direkt aus den zerstörten Gebäuden des Zentrums, doch ist diese Behauptung nur zum Teil wahr, wie Luciano Villani 2012 nachweisen konnte: Zum Teil zogen auch Menschen aus anderen Regionen Italiens zu.

2.2 Pasolini und die römische Peripherie 1950–1960

Als Pasolini 1960 mit den Dreharbeiten für Accattone begann, lebte er bereits seit zehn Jahren in der Ewigen Stadt und kannte die römischen borgate aus eigener Anschauung. Vor seinem Umzug nach Rom hatte Pasolini in Bologna Literaturwissenschaft studiert und war als Schriftsteller durch seine Volksgedichte in Furlan (Friulanisch) in Erscheinung getreten. Das bäuerliche Umfeld in Casarsa della Delizia im Friaul, wo er 1928 für kurze Zeit mit der Familie hinzog, wiederholt Ferien verbrachte und mit seiner Mutter die Kriegsjahre erlebte, prägte seine Kindheit. In einem Brief an den Schriftstellerkollegen Italo Calvino legt er dar, wie sehr er, der Intellektuelle, sich der Welt der Bauern zugehörig fühlt:

Es ist diese grenzenlose, vornationale und frühindustrielle bäuerliche Welt, die bis vor wenigen Jahren überlebt hat, der ich nachtrauere (nicht umsonst weile ich so lange wie möglich in den Ländern der Dritten Welt, in denen sie noch überlebt …)
Die Menschen dieses Universums erlebten weder ein «Goldenes Zeitalter», noch hatten sie etwas mit dem «guten alten Italien» zu tun. Sie lebten das Zeitalter, das Chilanti das Zeitalter des Brots genannt hat. Sie waren Konsumenten von unbedingt notwendigen Gütern.15

Im Januar 1950 flüchtete der 28-Jährige gemeinsam mit seiner Mutter nach Rom, nachdem er im Friaul infolge eines Skandals wegen Unzucht mit Minderjährigen seine Stelle als Dorfschullehrer verloren hatte und aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen worden war.16

Abb. 4: Pasolini beim Fußballspielen in den borgate

Die erste Zeit in der Hauptstadt war schwierig: Rom sei göttlich, bekannte Pasolini zwar gegenüber seinen Briefpartnern; ohne feste Anstellung und geplagt von Geldnöten, dachte der junge Schriftsteller zeitweise jedoch an Selbstmord.17 Gleichzeitig genoss er seine «vollständige erotische Freiheit»: «Die homosexuellen Begegnungen in Rom sind einfach, die Jungen aus dem Volk sind willig. Man brauchte nur ein wenig Kleingeld.»18 Pasolinis erstes Domizil war ein Untermietzimmer an der Piazza Costaguti im jüdischen Ghetto; im Sommer 1951 zog er in das Arbeiterviertel Ponte Mammola um, bevor er sich in Monteverde niederließ.19 Von den «fiebernden Tiberstraßen» aus unternahm er Streifzüge in andere Stadtteile, in das «sagenhafte San Paolo», nach Testaccio und Primavalle, «verdreckt mit Schwindsüchtigen, Dieben und Nutten».20 Aus diesem Milieu bezog Pasolini den Stoff für seine ersten beiden, in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielenden Romane Ragazzi di vita (1955), eine Wortschöpfung Pasolinis21, zu übersetzen etwa mit «Lebejungen», und Una vita violenta (1959), mit denen er ein «Diptichon der römischen Slums»22 schuf: Die Streuner, Kriminellen und Strichjungen der römischen Vororte sind Pasolinis Helden, ihre vormoderne Vitalität und Urtümlichkeit begeisterten ihn nicht nur in emotionaler oder erotischer Hinsicht. Im Subproletariat sieht er vielmehr eine der vorindustriell-bäuerlichen Welt verwandte Lebensform mit dem Potential einer «revolutionären Gegengesellschaft» zum «hedonistischen Nihilismus der Bourgeoisie».23 «In many ways, Pasolini transferred his love of the Friulian peasantry and its strange regional tongue directly to the subproletariat of peripheral Rome and its linguistic specifity.»24 In den römischen borgate lernte Pasolini 1951 auch Sergio Citti kennen, der bald sein «lebendes Lexikon» wurde, indem er ihm die Gaunersprache und den Bandenjargon des Subproletariats, eine Art ‹Dialekt im Dialekt›, nahebrachte.25 Wie Pasolini selbst erklärte, begann er damals, ähnlich wie schon Gadda, den Dialekt, den er zuvor «als rein poetische Sprache» verwendet hatte, «gerade umgekehrt in objektiver Weise zu benutzen, um eine möglichst exakte Beschreibung der Welt zu erreichen», die er vor sich hatte.26 Die Protagonisten seiner Romane sind für das Italien «del ‹benessere›»27 unbequeme Figuren; Pasolini bildet hier eine Wirklichkeit ab, die auf die kleinbürgerliche und moralistische Kultur skandalös wirkte: Ragazzi di vita war so Gegenstand des zweiten von insgesamt 33 Prozessen, die sich aus Leben und Werk Pasolinis ergaben.28 Mit den borgatari spielte Pasolini häufig Fußball, mit einigen von ihnen schloss er feste Freundschaften und sie spielten später als Laienschauspieler in seinen Filmen mit, so Sergio Cittis Bruder Franco als Accattone im gleichnamigen Film.29

In Bezug auf den Wechsel vom literarischen Schreiben zum Filmemachen hat Pasolini selbst stets die Kontinuität betont:30

In realtà non c’è mai stato un passaggio …, ho sempre pensato di fare del cinema. Prima della guerra pensavo che sarei venuto a Roma a fare il Centro Sperimentale, se avessi potuto. Questa idea di fare del cinema, vecchissima, poi si è arenata, si è sperduta. Infine ho avuto l’occasione di fare un film e l’ho fatto. Se prendete, ad esempio, certe pagine di Ragazzi di vita, vi rendete conto che sono già visive. Cioè, nella mia letteratura esiste una forte dose di elementi cinematografici. Avvicinarsi al cinema è stato quindi avvicinarsi a una tecnica nuova che già da tempo avevo elaborato.31

Bereits vor Accattone schrieb Pasolini an zahlreichen Drehbüchern mit, so unter anderem für mehrere Filme Mauro Bologninis, von denen La notte brava (1959) als Geschichte der römischen malavita eine der eigenständigsten Filmschriften Pasolinis darstellt.32 1957 engagierte ihn Fellini, um am Drehbuch von Le notti di Cabiria (1957) mitzuarbeiten, insbesondere um die Dialoge in romanesco zu bearbeiten.33 Doch von den Ergebnissen scheint Pasolini enttäuscht gewesen zu sein und im Medium des Films fand er eine neue Sprache, weshalb er beschloss, selbst als Regisseur tätig zu werden und seine eigenen Filme zu drehen.34

3 Die soziale Dimension der Peripherie: Die Darstellung des Subproletariats

3.1 Archaik, Hunger, Brutalität und Passion: Accattone

Pasolini arbeitet bei seinem Filmdebüt ausschließlich mit Laiendarstellern, um das Leben in der Peripherie authentisch darzustellen. Alle wichtigen Figuren der Handlung sind dem Milieu des Subproletariats zuzuordnen – ein Begriff, den Pasolini selbst geprägt hat, um die kulturell und wirtschaftlich ärmsten Mitglieder der Gesellschaft zu bezeichnen:

Es handelt sich um seine Adaption des deutschen «Lumpenproletariats» [von Marx geprägter Begriff]. Während das «Proletariat» in der traditionellen marxistischen Terminologie eine mit dem industriellen Prozeß verbundene Gesellschaftsschicht bezeichnet, steht dieses Subproletariat außerhalb jedes Produktionsprozesses und bedarf daher eines neuen Begriffs.35

Für Pasolini gehören zum Subproletariat Menschen, die durch Industrialisierung und Landflucht aus ihren traditionellen sozialen Lebenszusammenhängen gerissen wurden und sich in der städtischen Zivilisation nicht integrieren konnten. Selbstverständlich blieben sie vom boom economico der 1950er- und 1960er-Jahre zunächst ausgeschlossen. Dieses Problem war in Rom, dessen Bevölkerung unmittelbar nach dem Krieg sehr schnell zunahm, besonders virulent. Wie der Ort, an dem sie leben, räumlich eine Randstellung in der Stadt Rom einnimmt, nehmen seine Bewohner eine Randstellung in der Gesellschaft ein: Sie müssen tagtäglich um ihr Überleben kämpfen und sind als ‹Abschaum› aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßen.36 Das Subproletariat war für Pasolini

als Träger der antiken Eigenschaften des anthropologischen Menschen, des Menschen der religiös-bäuerlichen Zivilisation, […] der Gegenpol zur Bourgeoisie, die unheilvollerweise der Zerstörung zustrebt, in einer umgekehrten Palingenesis sozusagen, die mit der Verbreitung der Technologie und des Maschinenzeitalters einsetzt.37

Die Welt der männlichen Protagonisten besteht mit Ausnahme von Accattones Bruder Sabino, der einer geregelten Arbeit nachgeht, aus Zuhältern, Kleinkriminellen, Dieben, notorischen Nichtstuern und Tagelöhnern. Die handelnden weiblichen Figuren sind meistens Prostituierte oder verdingen sich wie Stella und Accattones Frau Ascensa in primitiver, schlecht bezahlter und mühevoller Arbeit.38 Einsam spielende oder umherstreunende Kinder unterstreichen die Trostlosigkeit der Szenerie: Accattones Sohn Iaio spielt mangels Spielzeug mit Flaschen, die er mit Steinen umwirft39; ein anderer Junge hat einen Eimer zur Trommel umfunktioniert40. Die Kinder werden getreten, geschubst41 und angesichts ihrer ausweglosen Situation bemitleidet und mit guten Ratschlägen bedacht, wie sie dem Verhungern entgehen können.

Accattone spiegelt diese ärmliche Welt jenseits des touristischen Roms der Monumente in der Sprache und den Verhaltensweisen der handelnden Figuren wider. Diese sprechen im römischen Dialekt, der an sich schon Kraftausdrücke enthält, die im Standarditalienischen nicht gebraucht werden; «der hier gezeigte Dialekt ist aber zusätzlich durch die ihn sprechenden Schichten gekennzeichnet und daher mit Ausdrücken aus dem Verbrecher- und Zuhältermilieu gespickt.»42 Die männlichen Figuren zeichnen sich auf den ersten Blick durch ihr grobschlächtiges Verhalten aus: Sie verbringen ihre Tage mit Trinken, Kartenspielen und sinnlosen Wetten; sie fluchen, spucken sich an, reißen derbe Witze, prügeln sich, sitzen und liegen auf der staubigen Straße. Ihre Gewaltbereitschaft zeigt sich sowohl an den Jugendlichen, die Maddalena nachts anpöbeln und die Tasche eines alten Obdachlosen anzünden, als auch an den neapolitanischen Zuhältern, die Accattones Prostituierte unter grellem Scheinwerferlicht brutal misshandeln. Auch Accattone agiert skrupellos und ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Als Maddalena mit einem verletzten Bein zu Hause liegt und somit seine Einkünfte wegbrechen, droht er damit, ihr auch das zweite Bein zu brechen, und zwingt sie, humpelnd und bandagiert auf den Strich zu gehen. Gewalt ist die einzige Möglichkeit für ihn, seine Ehre zu verteidigen: Er beginnt eine Schlägerei mit seinem Schwager, als dieser ihn des Hauses verweist, und blindwütig stürzt er sich in den Kampf mit seinen Freunden, als diese sich nach seinem ersten Arbeitstag über ihn lustig machen.

Arbeit ist für Accattone wie seine Kumpane ein schlechtes Wort: «m’hanno detto che il lavoro l’ammazza la gente!»43 heißt es gleich in der Anfangsszene. Sie genießen ihr Nichtstun und sind stolz auf ihre vermeintliche Freiheit. Accattones Bruder ist aufgrund seines Arbeitsverhältnisses eine ständige Zielscheibe für den Hohn und Spott der Clique: «Per noi c’è sempre festa, per te c’è solo il primo maggio!»44 Arbeit wird gleichgesetzt mit Selbstaufgabe und kompletter Fremdbestimmung. Diese Sichtweise offenbart sich in Accattones Aussage, dass Arbeit für ihn bedeute, anderen sein Blut zum Trinken zu geben.45 Selbst sein kleiner Bruder bemerkt ironisch, er stamme wohl von einem Märtyrer, dem Heiligen Sebastian ab, da er die tägliche Arbeit stoisch ertrage.46 Seinen Chef bezeichnet er als knausrig, die Auszahlung am Monatsende als unsicher. Zwar scheint Accattone wirkliche Gefühle für Stella zu haben und sich nach dem gescheiterten Versuch, sie als Prostituierte für sich arbeiten zu lassen, vorzunehmen, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, doch hält er die ‹ehrliche Arbeit›, die ihm sein Bruder vermittelt, nicht länger als einen Tag aus: Unter den Lasten des Alteisens, das er auf einen Kleinlaster aufladen soll, bricht er mehrmals zusammen; «Ma che, stamo a Buchenwald, qua!»47 ist sein vernichtender Kommentar zu dieser Arbeit. So bleibt es letztlich bei einem gescheiterten und nur halbherzig unternommenen Versuch, «ein anderer zu werden – nämlich ein kleinbürgerlicher Sieger (Vittorio), der nach den Sternen (Stella) greift»48. Für 1000 Lire, so sagt Accattone, habe er sich umgebracht.49 Arbeit wird keineswegs als selbstbestimmte Existenzform angesehen, sondern als Veräußerung des Ichs, als Entpersönlichung («le bestie lavorano»50) und Versklavung. In einem Gespräch mit Stella meint Accattone lakonisch: «Eppure Lincoln l’ha liberati li schiavi! Invece qua manca proprio che ce mettono la palla ar piede!»51

In diesen Aussagen fließt Pasolinis Kritik an der modernen Arbeits- und Konsumgesellschaft ein, in der die Entindividualisierung voranschreitet. Vor dem Hintergrund der staubigen, armseligen und anonymen Vorstadt, einer Justiz, die nur verfolgt und bestraft52, einer Kirche, die sich nur für den Tod zuständig zeigt, und Arbeitsbedingungen, die den Menschen zum wirtschaftlichen Objekt machen53, bleiben die Figuren auf sich alleine gestellt. Die Technik der Großaufnahme, die Kameraführung stets nah an den Personen, betont die Vitalität, Lebensfreude und Freiheitsliebe der Protagonisten angesichts der sie umgebenden Aura von Tristesse und Hoffnungslosigkeit. Trotz ihrer aufgezeigten Gewaltbereitschaft, Rohheit und Skrupellosigkeit verleiht ihnen der durch die äußeren Bedingungen aufgezwungene Kampf um ihre persönliche Freiheit und das tägliche Überleben einen Rest Würde und fügt dem Leiden eine anthropologische Dimension hinzu: Er wird zum Kampf des archaischen Menschen im industriellen Zeitalter. Die Überhöhung des Individuellen zum Exemplarischen betont auch die musikalische Untermalung. Bereits im Vorspann erklingt mit dem Schlusschor der Matthäuspassion die Melodie «Wir setzen uns mit Tränen nieder», an den der deutsche Filmuntertitel «Wer nie sein Brot mit Tränen aß» anknüpft.54 Diese Melodie begleitet die Szenen, in denen das Leid und die Hoffnungslosigkeit besonders groß sind und rückt den Subproletarier Accattone damit in die Nähe der Leidensfigur Christi.

Die existenzielle Dimension des Films wird auch bei einem der dominanten Motive, dem Hunger, deutlich. Gehetzt und getrieben wie ein Tier auf Nahrungssuche geht und rennt Accattone mit herabhängenden Schultern durch die heruntergekommenen Vororte Roms. Auf der Straße spielenden Kindern wird an verschiedener Stelle geraten, etwas zu tun, um nicht zu verhungern, und auch Stellas Arbeit wirft nach ihrer eigenen Aussage gerade genug ab, um sie vor dem Verhungern zu bewahren55. Accattone selbst begibt sich zu Beginn des Films bei einer Wette um einen Teller Kartoffeln in Lebensgefahr, als er von einer Brücke in den Tiber springt. An anderer Stelle wird kolportiert, er habe seit zwei Tagen nichts gegessen. Die Darstellung dieses Motivs kulminiert in der Szene, in der die Bande um Accattone eine Packung Pasta beschafft hat und ihre Zubereitung bei der Mutter eines Freundes wie eine Theatervorführung zelebriert.56 Als Vorspiel beißt einer der Freunde in einen Blumenstrauß, den Höhepunkt stellt der sprudelnde Kochtopf in Großaufnahme dar, auf den sich alle Blicke der Beteiligten in sehnsüchtiger Erwartung richten: die fehlende Soße wird «sugo alla famata» genannt, die Mahlzeit zum letzten Abendmahl stilisiert, nachdem bereits zuvor die Frage aufgeworfen wurde, ob es für Hungernde nicht einen Heiligen gebe. Eine Antwort darauf scheint die Kameraführung zu geben, die in einem Vertikalschwenk ein hässliches, fensterloses Gebäude in den Fokus nimmt und den Blick auf den Himmel verwehrt. Accattone und seine Freunde haben in der Vergangenheit bereits einmal einen Blinden bestohlen, ein andermal das Gebiss von Accattones Vater verkauft, um sich eine Mahlzeit leisten zu können, wie sie sich erzählen.57 Bei aller Situationskomik und dem begleitenden Gelächter der handelnden Personen eröffnet Pasolini hier durch die biblischen Anklänge und Selbstoffenbarungen seiner Figuren den Blick auf deren existenzielle Not: Der Überlebenswunsch des Einzelnen ist stärker als Solidarität. Im weiteren Verlauf der «sacra operazione»58 versucht Accattone dann auch tatsächlich, seine Freunde als unliebsame Mitesser loszuwerden, um selbst satt zu werden. Diese archaische, auf das eigene Überleben fixierte Lebenshaltung klagt nicht nur die Lebensbedingungen in der römischen Peripherie an, sondern widerspricht gleichzeitig den Vorbildern des neorealistischen Films. Gaben dort Freundschaft und Familie noch Halt und Zuversicht in einer prekären Welt, gilt in Pasolinis Armutsviertel nur der Kampf des Einzelnen ums Überleben. Pasolini unterläuft durch das unkommentierte Nebeneinander von Komik und Gesetzesbrüchen (Verrat, Diebstahl, Gewalttaten) die Sehgewohnheiten eines bourgeoisen Publikums, das ohne moralische Bewertungen des Regisseurs selbst Stellung zum Geschilderten und Erzählten beziehen und bei seinen Schuldzuweisungen auch die Rolle der modernen Gesellschaft (Justiz, Kirche, Wohnungsbau) mit bedenken muss.

Einige neorealistische Filme (Lucchino Viscontis Bellissima von 1951, Pietro Germis Il ferroviere von 1953), insbesondere die Werke Vittorio De Sicas (neben Ladri di biciclette etwa Il tetto aus dem Jahr 1956 und Umberto D. von 1952), hatten zuvor bereits die römische Peripherie und ihre Bewohner in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Thema. Doch diese Filme hatten meist kleinbürgerliche Protagonisten und endeten in der Regel ‹nur› mit deren wirtschaftlichem Ruin; für Accattone hingegen gilt:

Hope and struggle have no place in the world of Accattone because everything has been determined from the beginning. And the fate so implacably reserved for his characters is not – as in neorealist melodrama – merely economic or social ruin. Rather, as in high tragedy, it is nothing less than death.59

Accattone ist sozusagen «Verzweiflung in reiner Form»60. «Quando sarai grande, morirai di fame pure te»,61 sagt ein Subproletarier einmal zu einem kleinen Kind am Straßenrand, was den Fatalismus der Situation unterstreicht. Das Verhältnis von Accattone zum Protagonisten von Una vita violenta hat Pasolini selbst wie folgt charakterisiert: «Accattone è molto più indietro di Tommasino. Il suo destino molto più tragico.»62 Während sich Tommaso Puzzili durchaus die Aussicht auf ein ‹anständiges Leben› eröffnet, er in ein soziales Wohnbauprojekt umzieht und durch seinen Eintritt in die kommunistische Partei auch noch politisch aktiv wird, jedoch seiner Tuberkulose erliegt, besteht für Accattone keine Aussicht auf einen Ausweg aus der Misere.63 Es scheint am Ende so, als ob nur der Tod Accattone und den Subproletariern Erlösung bringen kann:64 «Aaaah… Mo’ sto bene»65 sind die letzten Worte Accattones am Ende seiner in einen tödlichen Unfall mündenden Flucht auf dem Motorrad. Seine Gefährten Balilla und Cartagine eilen ihm hinterher, Balilla schlägt mit den gefesselten Händen ein Kreuz. Pasolini selbst nannte Accattone «una tragedia senza speranza» und fügte hinzu, er wünsche sich daher, «che pochi saranno gli spettatori che vedranno un significato di speranza nel segno della croce con cui il flim si conclude»66. Obwohl er nach klassischen Moralvorstellungen völlig unmoralisch handelt – so stiehlt er seinem eigenen Sohn Iaio die Taufkette, um seiner Geliebten ein Geschenk zu machen: Accattone in seinem weißen Hemd erscheint als Märtyrer; Pasolini erklärte, seine Filmfigur komme in den Himmel67; die Passionssymbole sind von Anfang des Films an präsent und der Tod ist «il tema conduttore»68, ein Motiv, das von Accattones Wette zu Beginn69 bis zum tragischen Ende geführt wird. Ein Kritiker nannte Accattone gar einen «Cristo anarchico»70.

3.2 Gescheiterter Aufstiegsversuch ins Kleinbürgertum: Mamma Roma

Die religiöse Sphäre, die in Pasolinis späteren Filmen La ricotta (1963) und Il vangelo secondo Matteo (1964) noch stärker zutage tritt, ist auch in Pasolinis zweitem, dem Kunsthistoriker Roberto Longhi gewidmeten Film Mamma Roma präsent, wie nicht zuletzt seine Bildzitate zeigen: Die Anordnung der Tische in der Eingangsszene, in der Mamma Romas Zuhälter Carmine erneut heiratet und sie dadurch aus der Prostitution befreit, erinnert an eine Ultima cena. Ebenso hat die Kritik angesichts des Todes von Ettore auf dem Fixierbett auf den Cristo morto Andrea Mantegnas verwiesen.

Abb. 5/6: Ultima cena Leonardo da Vincis (links) und Hochzeitsszene zu Beginn von Mamma Roma (rechts)

Auch wenn Pasolini selbst den Vergleich mit Mantegna entschieden ablehnte und vielmehr Massaccio zu seinem Vorbild erklärte71, leugnete er nicht die grundsätzliche Ähnlichkeit der Darstellung mit der eines toten Christus. Der Szene liegt eine wahre Begebenheit zugrunde, der Tod des jungen Marcello Elisei im Herbst 1959 auf dem Fixierbett im römischen Gefängnis Regina Coeli.72

Abb. 7/8: Cristo morto von Andrea Mantegna (links) und Sterbeszene Ettores am Schluss von Mamma Roma (rechts)

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden hier untersuchten Filmen besteht darin, dass die Hauptfigur des einen, Mamma Roma, im Gegensatz zu der des anderen, Accattone, ernsthaft versucht, aus dem Subproletariat auszubrechen und ins Kleinbürgertum aufzusteigen. Die Wechselwirkung von Lebenswirklichkeit und Verhalten lässt sich in beiden Filmen in unterschiedlicher Ausprägung ablesen. Die Wertvorstellungen der Figuren und die daraus resultierenden Handlungen sind entscheidend durch ihr Umfeld geprägt. Pasolini selbst erklärte dazu:

Die kleinbürgerlichen Ideale, von denen in «Mamma Roma» die Rede ist, sind durchweg belanglos und irdisch: Heim, Arbeit, die Wahrung des Scheins, das Radio, der sonntägliche Gang zur Messe. In «Accattone» gibt es keine kleinbürgerlichen Vorstellungen dieser Art, denke ich. Dem Katholizismus in «Accattone» haften noch vorbürgerliche, vorindustrielle und daher mythische Züge an, die nur für das Volk charakteristisch sind.73

Accattones Umgebung lässt eine landwirtschaftliche Nutzung nicht zu und bietet weder im Dienstleistungssektor noch im industriellen Bereich Arbeit. Die in diesem Mikrokosmos verbleibende Möglichkeit, sich in anstrengender, vorindustrieller Arbeit zu verdingen, wird mit Ausnahme von Accattones Bruder von den männlichen Bewohnern unisono als Versklavung und Aufgabe der Selbstbestimmtheit aufgefasst. Ohne Arbeit und durch die nur gelegentliche Geldbeschaffung mittels illegaler Aktivitäten erhalten sich die Figuren ihre selbstbestimmte Würde um den Preis der Perspektivlosigkeit und des täglichen Kampfes um die nackte Existenz. In Mamma Roma sind das Verständnis von Arbeit und die damit verbundenen Handlungsstrategien wesentlich differenzierter dargestellt: Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor und der Verwaltung sind in diesem Teil der Peripherie bereits näher gerückt: Ettores Anstellung als Kellner in einer Trattoria in Trastevere bedeutet für die Hauptfigur die Verwirklichung ihres Traums vom Leben einer anständigen Familie. In ihrem kleinbürgerlichen Arbeitsethos verurteilt sie zuvor das Herumstreunen ihres Sohnes, nennt die im Treppenhaus vor ihrer ersten Wohnung herumsitzenden Jugendlichen «belle pezze»74 und verflucht ihren Sohn, als sie ihn bei einem Diebstahl auf dem Jahrmarkt ertappt. Im Gegenzug ist sie stolz, als er seinen ersten Arbeitstag antritt, und fragt ihn: «Nun sei contento che diventi un lavoratore?»75 Dabei ist sie weit davon entfernt, ihrem Sohn irgendwelche Arbeit zuzumuten. Harte Arbeit auf dem Land oder auf dem Bau schließt sie kategorisch aus: «Allora io ho messo ar mondo un fijo pe’ mandallo a fà er manovale? No, no, io vojo pe’ lui un lavoro decente, un lavoro che je possa dà n’avvenire…»76, antwortet sie entsetzt dem Priester auf dessen Vorschlag hin, Ettore eine Stelle als Bauarbeiter zu besorgen. Angemessene Arbeit und die damit geregelte Versorgung mit Geld ist für Mamma Roma Voraussetzung für ein gelungenes Leben. Gleich in der Anfangsszene feiert sie ausgelassen, dass sie nun von ihrem Zuhälter befreit ist.77 Für sich selbst erfüllt sie den Wunsch nach Bürgerlichkeit durch den Kauf einer Wohnung in einem kleinbürgerlichen Wohnviertel und den Erwerb einer Marktlizenz.

Mamma Roma will mithilfe von Geld und zusammen mit ihrem Sohn die soziale Leiter emporklettern, gleichzeitig wird sie von ihrem Zuhälter finanziell erpresst, sodass ihr Ziel gefährdet ist. Die ausbeuterische und manipulative Seite des Geldes wird immer wieder betont, denn als Gegenleistung für eine Geldzuwendung werden stets Liebe und Kooperation gefordert. Dies gilt nicht nur für das in beiden Filmen durchgängige Motiv der Prostitution, sondern ebenso für die zahlreichen Geschenke Mamma Romas an Ettore78 die dazu dienen, die Liebe zur Mutter einzufordern, und ihn zu nötigen, ihr auf dem eingeschlagenen Weg in ein vermeintlich besseres Leben zu folgen. Auf diesem Weg schreckt sie, die sonst als Verfechterin kleinbürgerlicher Moral auftritt, paradoxerweise vor einer Erpressung nicht zurück, als es darum geht, Ettore einen Arbeitsplatz zu besorgen. Auch Ettores – durch einen Diebstahl an seiner Mutter finanziertes – Goldkettchen für die geliebte Bruna ist weniger der Ausdruck eines Liebesbeweises als der Kauf von sexuellen Dienstleistungen. Durch die Betonung des Ökonomischen arbeitet Pasolini deutlich die Kehrseite der Aufstiegsambitionen seiner Protagonistin heraus. In zugespitzter Form bedeutet dies, dass der Mensch in der modernen Gesellschaft als ökonomisches Gut benutzt und zum Besitz des Geldgebers degradiert wird. Im Gegensatz zur existenziellen, schicksalhaften Sichtweise in der vorbürgerlichen Welt von Accattone bestimmen damit in Mamma Roma Themen der Schuld und Moral den Film, wie Pasolini selbst betont:

Praticamente l’elemento che differenzia questo film da Accattone, è una problematica morale che in Accattone non c’è, perché Accattone è completamente solo in un mondo completamente solo. E questa tematica della responsabilità […] ha questi tre momenti: la responsabilità individuale, la responsabilità ambientale, la responsabilità della società.79

Mamma Roma selbst bekennt diesbezüglich in einer nicht verwirklichten Filmszene:

Se io fossi nata in un mondo diverso, se mio padre fosse stato diverso, mia madre diversa, il mio ambiente diverso, probabilmente sarei stata diversa anch’io.80

Ist also die Umwelt Mamma Romas für ihr Scheitern verantwortlich? Eine eindeutige Antwort auf die zentrale und von der Protagonistin selbst aufgeworfene Frage «Di chi è la colpa?»81 bleibt letztlich aus. Mamma Romas unbedingter Wunsch nach dem Eintritt in die kleinbürgerliche Welt ist jedenfalls nicht nur ein wichtiger Faktor für den tragischen Verlauf der weiteren Handlung, sondern ein Vorstellungsmuster, das Pasolini einer kritischen Beleuchtung unterzieht. Die Hauptperson ist dabei eine frühe Vertreterin des von Pasolini angeprangerten consumismo, der nivellierenden Herrschaft des Konsums, die laut Pasolini die gesamte italienische Gesellschaft erfasst und Werte, die über alle Klassenschranken hinweg gültig waren, aufgehoben hat:

Die nationalisierten und damit verfälschten Werte der alten bäuerlichen und frühkapitalistischen Welt sind mit einem Schlag unwichtig geworden. Kirche, Vaterland, Familie, Gehorsam, Ordnung, Sparsamkeit, Moral zählen nicht mehr.82

Diese tatsächlich erst 1975 im Corriere della Sera veröffentlichte Konsumkritik, die sich vornehmlich auf die Massenmedien bezog, findet ein frühes Pendant in Pasolinis soziologischem Vergleich beider Filme und soll an späterer Stelle durch die Analyse der Schauplätze vertieft werden:

Man könnte ihr [= Bruna] Stella in Accattone gegenüberstellen. Stella geht vollkommen in ihrer Welt der Armut, des Elends und des Hungers auf. Sie lebt in einem echten Slum. […] Und in den Wohnungen [in Mamma Roma] gibt es offensichtlich Fernsehen und Radio und diese Dinge […] Es handelt sich sozusagen um ein oberes Subproletariat, das im Begriff ist, kleinbürgerlich und daher vielleicht faschistisch, konformistisch usw. zu werden, ein Subproletariat, das nicht länger in Slums eingesperrt ist, sondern offen daliegt und über Fernsehen, Mode usw. dem Einfluß der kleinbürgerlichen und der herrschenden Klasse ausgesetzt ist. Bruna ist beides: subproletarisch und bereits durch kleinbürgerliche Einflüsse verdorben.83

Mamma Romas Schuld scheint damit nicht individuell oder wie in Accattone vom Schicksal bestimmt zu sein; vielmehr sind es die nivellierenden gesellschaftlichen Versprechungen von Wohlstand und Konsum, die entscheidenden Einfluss auf das Individuum und sein Handeln haben. Dies zeigt sich auch in Mamma Romas Verhältnis zur Kirche. Ist in Accattone noch eine Volksfrömmigkeit zu spüren, die – ohne Kirchgang – in Bibellegenden und einer Ehrfurcht vor dem Tod fortlebt, so ist für Mamma Roma die Kirche kein säkularer Ort, sondern ein Weg zum sozialen Aufstieg: Beim Kirchgang im neuen Viertel stellt sie ihrem Sohn die gut situierten Nachbarn anhand ihrer ehrenwerten Berufe vor.84 Die Bandbreite reicht dabei von der Besitzerin eines Friseursalons, über «’n capoccia d’a monarchia», bis zum Inhaber eines erfolgreichen Restaurants in Trastevere. All diese Figuren werden in keiner Weise individualisiert, sondern stellen für Mamma Roma allein aufgrund ihrer beruflichen Stellung und ihrer pekuniären Potenz Vorbilder dar. Diesen Repräsentanten der Bürgerlichkeit soll ihr Sohn nacheifern. Sie ist sich sicher, dass Ettore in der neuen Umgebung und mithilfe ihrer mütterlichen Unterstützung der Aufstieg in eine andere soziale Klasse gelingen wird. Mamma Roma missbraucht das Gespräch mit dem Priester, um für ihren Sohn eine Anstellung zu erlangen. Dabei durchschaut sie weder die repressiven Mechanismen der Gesellschaft, welche die soziale Differenzierung erhalten will85, noch ist sie sich der Tatsache bewusst, dass sie ihrem Sohn ihren Traum vom Aufstieg aufzwingt, ohne auf seine eigenen Wünsche und Fähigkeiten einzugehen. So versucht sie, ihn in der Kirche mit der Tochter des Restaurantbesitzers zu verkuppeln, eine Idee, die Ettore alles andere als begeistert:

La figlia de quello che te faccio sposa’ a te.
Chi? Quella basetta là?
Perché? Quella è una come se deve. Una de quelle te devi sposa’ te. …
Sì, col cavolo me la sposo.86

Ettore, der wohl nicht zufällig den Namen des trojanischen Helden trägt, welcher im Kampf gegen Achill unterliegt87, gelingt es nicht, den Anforderungen seiner Mutter zu entsprechen. Er ist nicht fähig zu lernen, wie er gegenüber Bruna gesteht, und als er vom wahren Beruf seiner Mutter erfährt, zerbricht er. Angesichts von Mamma Romas Versuch, eine kleinbürgerliche Existenz in der Peripherie aufzubauen, muss der in der Provinz aufgewachsene Sohn scheitern: Nicht grundlos erklärt er kurz vor seinem Tod: «Riportatemi a Guidonia»88. Ettore wird auf den «Altären der Vorstadt» geopfert89 und Mamma Roma scheitert bei ihrem Aufstiegsversuch am ‹System›90.

4 Die Bedeutung der Schauplätze und die architektonische Darstellung der Peripherie

4.1 In der Welt der borgate: Accattone

Mit wenigen Ausnahmen sind die Szenen von Accattone in den römischen borgate gedreht.91

Abb. 9: Accattone und seine Kumpane vor der Bar im Pigneto

Die Bar, in der Accattone seine Tage mit seinen subproletarischen Freunden verbringt, befindet sich in der Via Fanfulla da Lodi im Pigneto im ehemaligen Stadtviertel Prenestino. Pasolini erinnerte sich an die dortigen Dreharbeiten wie folgt:

Via Fanfulla da Lodi, in mezzo al Pigneto, con le casupole basse, i muretti screpolati, era di una granulosa grandiosità, nella sua estrema piccolezza; una povera, umile, sconosciuta stradetta, perduta sotto il sole, in una Roma che non era Roma. L’abbiamo riempita: una dozzina di attori, l’operatore, i macchinisti, i fonici.92

In dieser engen Straße befindet sich Accattones Lebensmittelpunkt. Zwischen primitiven Häusern und mit Rollläden verbarrikadierten Backsteinhütten tauschen sich die Freunde aus und beweisen sich mit Männlichkeitsritualen wie Trinken, Wetten und derben Scherzen. Trotz der Umgebung, deren Enge und Abgeschlossenheit suggeriert, dass die Personen keine Entfaltungsmöglichkeiten haben, ist die Bar ein positiver Ort, in dem die Authentizität und Vitalität seiner Besucher in zahlreichen Nahaufnahmen gezeigt wird.

Die am Anfang des Films geschlossene Wette, er könne mit vollem Magen ins Wasser springen und komme dabei nicht wie ein anderer, Santo Barbarone genannter Subproletarier um, führt Accattone von der Engelsbrücke aus. Deutlich ist links neben ihm der Engel Berninis zu erkennen.93

Abb. 10: Accattone auf der Engelsbrücke vor seinem Sprung in den Tiber

Spätestens an dieser Stelle erkennen Zuschauer*innen, dass der Film in Rom spielt. Dies ist zugleich fast die einzige Szene, die außerhalb der borgate spielt und durch die Betonung der Untersicht die räumliche Enge der Slums durch Weite ersetzt. Bezeichnenderweise ist dies der Ort des größten Triumphes des Protagonisten, der mit seinem mutigen Sprung das Leben riskiert.

Einen wichtigen und wiederkehrenden Schauplatz stellt Accattones Wohngegend im Pigneto dar.94 Im Unterschied zu Mamma Roma lebt Accattone in ärmlichen, geradezu archaischen Verhältnissen. Sein kleines Haus, das er über staubige Straßen voller Müll und einen größeren Hof erreicht, umranken Weinreben. Vor den niedrigen, einstöckigen Steinhütten trotzen notdürftig umzäunte Gärtchen dem Staub der Straße.

Abb. 11: Accattones Haus

Fast erscheinen diese Bilder wie die Ansicht eines Dorfes – wäre da nicht der Kameraschwenk auf die etwas höheren Wohnhäuser im Hintergrund: Dabei handelt es sich um teils durchaus mehrstöckige Betonbauten, die jedoch erheblich kleiner als die andernorts im Film gezeigten hohen palazzoni sind. Die Kameraeinstellung scheint dabei nicht der subjektiven Perspektive Accattones zu folgen, da dieser auf den Boden schaut, als die Kamera ihn wieder in den Fokus nimmt. Mit dieser filmischen Technik zeigt Pasolini in einem Überraschungsmoment das dieses Viertel prägende Nebeneinander von alter Bausubstanz und neueren Betonbauten: ein filmischer Hinweis darauf, wie sich die Moderne in die ursprüngliche Welt hineinschiebt und den Menschen entwurzelt. Die Innenansicht der Behausung Accattones offenbart die prekären Lebensverhältnisse der Bewohner: Der Raum, den er sich mit seiner Prostituierten Maddalena sowie Nannina und ihren fünf Kindern teilt, verfügt gerade einmal über eine Herdstelle, einen Stuhl und zwei Betten, die allen als Nachtlager dienen. An den schmucklosen weißen Wänden zeigen sich Risse, der Fußboden ist kahl. Im Drehbuch lautet die Beschreibung: «È una sola stanza, con delle misere pareti scrostate, è quasi interamente occupata da un solo lettone, miserabile. Intorno indumenti sporchi, due seggiolette, un quadro con la madonna, fastoso.»95 Auch der Verhörraum, in dem Accattone nach seiner willkürlichen Verhaftung sitzt, ist kahl und bedrohlich. Seinem verzweifelten Ausruf «Non ho fatto niente» stehen die Ordnungskräfte gegenüber, die den Protagonisten zu fünft überwältigen und ihn in den Würgegriff nehmen. Dem Freiheitsbestreben der Hauptfigur, die in Großaufnahme und um ihre Würde ringend dargestellt wird, stellt Pasolini eine Justiz entgegen, die keine sozialen Hilfestellungen gibt, sondern als überfordertes Überwachungsorgan Macht und Kontrolle über die Menschen in der Peripherie ausübt. Nach der Anklage durch Maddalena ist Accattone permanent der Verfolgung durch die Augen des Gesetzes ausgesetzt. Die Bedrohung der individuellen Freiheit setzt Pasolini filmisch durch das Close-Up des Augenpaars des Beschatters in Szene.

Die trostlose Gegend, in der Accattones Frau wohnt und in die er sich als wahrhaftiger Accattone (Bettler) begibt96, nachdem seine Einkünfte durch die Inhaftierung Maddalenas weggefallen sind, gehört zur borgata Gordiani, einer der elendsten der borgate ‹rapidissime›. Pasolini bezeichnete diese borgata 1958 auf den Seiten der kommunistischen Zeitschrift Vie Nuove gar als ein Konzentrationslager, wobei er betonte, dass auch die neuen Gebäude nicht besser seien als das ehemalige faschistische Bauprojekt – dies enthält unverkennbar eine scharfe Kritik an den neorealistischen Sozialbauprojekten der Nachkriegszeit:

Siamo ritornati in questi giorni alla Borgata Gordiani: la stanno distruggendo. Là dove si stendevano le fila di casette atrocemente tristi, sporche, disumane – ora c’è una distesa di breccia rossiccia dietro vi biancheggia, allucinante, il fronte di Centocelle […] La maggior parte degli abitanti di queste casette sono stati sfrattati, dopo un decennio di lotte e di speranze, alla Villa Gordiani e alla Villa Lancelotti, sulla Prenestina, non lontano dall’antica borgata.
Ci siamo andati. Nulla, in realtà, è cambiato. Anziché le misere casette a un piano, con davanti il misero cortiletto, ci sono ora questi palazzoni nuovi di zecca, appena costruiti tra distese di sterri, prati abbandonati e immondizia. Ma qual è il criterio stilistico, sociologico e umano di queste nuove abitazioni? Lo stesso. Siamo sempre alla nozione di campo di concentramento.97

Diese Kritik ist auch in dem erstmals 1957 in Il Contemporaneo und im selben Jahr als Teil der Sammlung Le ceneri di Gramsci veröffentlichten Gedicht Il pianto della scavatrice spürbar.98 Der Abriss der borgata Gordiani war zu Beginn der Dreharbeiten von Accattone noch nicht abgeschlossen. In den Baracken der borgata gab es weder fließendes Wasser noch elektrischen Strom.

Abb. 12: Balilla und Accattone in der borgata Gordiani

Die Aufnahmen Pasolinis gehören zu den letzten dieser borgata, die ca. 30 Jahre lang existierte. Die Wellblechdächer sind notdürftig mit Steinen beschwert, die Fenster mit Lumpen abgedeckt. Ein 180°-Panoramaschwenk der Kamera beim Weg Accattones in dieses Viertel intensiviert ebenfalls den Eindruck der Hoffnungslosigkeit und fängt die staubige Wirklichkeit der Slums ein:99 menschenleere Straßen, von Baracken und einzelnen Wohnblocks durchbrochenes Brachland. Als Accattone neben Balilla herläuft, sieht man im Hintergrund die brandneuen weißen palazzoni, die mit dem Schmutz und Elend der umstehenden Baracken kontrastieren.100 Auf einem Haus, an dem Accattone vorbeiläuft, ist eine Graffiti-Aufschrift «Vogliamo una casa civile» zu lesen.101 In einer Szene ist deutlich eine improvisierte Wasserstelle im Hof zu sehen, die den Stand der sanitären Ausstattung dokumentiert. Der long take, der Accattone hinter seiner Ex-Frau Ascensa herlaufend zeigt, bringt die soziale und räumliche Ödnis und Verzweiflung der borgata bestens zum Ausdruck:102 eine nicht enden wollende Straße, die ins Nirgendwo führt und von Hütten und Baracken gesäumt wird. Ob man wie John Rhodes die borgate als eine Vorhölle deuten sollte103, da Pasolini dem Film ein Zitat aus Dantes Purgatorio voranstellt, kann man jedoch bezweifeln: Die Textstelle lässt eher vermuten, dass sie sich auf die Figur Accattones bezieht.104 Überzeugender ist Rhodes, wenn er darauf hinweist, dass die Szene mit dem Beerdigungszug (ebenso wie die Szene in Mamma Roma, in der Mutter und Sohn auf das neue Haus zugehen) als subjektive Kameraeinstellung (die für den Neorealismus typisch ist) «impossible» sei, und dies als Argument für seine These heranzieht, dass die beiden Filme eine Kritik am neorealistischen Kino darstellen.105 Dieser Trauerzug nimmt einerseits das Accattone begleitende Todesmotiv auf106 und ist zudem als filmischer Kommentar auf die lebensfeindliche Umgebung der borgate zu interpretieren.

Der Spaziergang, den Accattone mit Stella unternimmt und bei dem sie ihm offenbart, dass ihre Mutter eine Prostituierte war, spielt in Prenestino:107 Die Szenerie ist einerseits von dem Brachland im Vordergrund und andererseits von den hohen mehrstöckigen weißen palazzoni im Hintergrund geprägt.

Die Musik, die an den Schauplätzen der borgata Gordiani und im Haus Accattones verstärkt zum Einsatz kommt, ist ein bewusst eingesetztes Stilmittel zur Betonung der Tragik des Dargestellten: Mit Bachs Matthäus-Passion wird das individuelle Leid überhöht und dem Raum-Zeit-Kontinuum des Films enthoben. Auch die düsteren Nachtszenen der Prostitution, die in der Via Portuense spielen, sind von Bachs Musik untermalt. Hier und in der Szene, in der die Neapolitaner Maddalena verprügeln, ist der Kontrast zwischen trostspendender Musik der Hochkultur einerseits und der schäbigen Umgebung sowie der dargestellten Brutalität andererseits besonders ausgeprägt. Trotz des biblischen Namens der Figur scheint die Diskrepanz zwischen dem Thema der Passionsmusik und der gezeigten Wirklichkeit unüberwindbar: Inmitten von Ausfallstraßen, verlassenen Unterführungen, Schutthalden und Müll wirkt die Musik Bachs zusätzlich schockierend.108

Der Friedhof, auf dem Accattone im Traum an seiner eigenen Begräbnisfeier teilnimmt, liegt im östlichen Latium zwischen dem borgo Subiaco und Olevano. Diese über-hell dargestellte Szene ist nur eine weitere Station auf dem mit Todessymbolen angefüllten Leidensweg des Protagonisten. In Accattones im Traum geäußerten Wunsch, an einem Platz in der Sonne und dem in der Ferne erkennbaren Dorf zugewandt begraben zu werden, zeigt Pasolini die Entwurzelung seines Protagonisten, der stellvertretend für das in der Peripherie gefangene Subproletariat steht. Darauf verweist auch die Sequenz, in der sich Accattone betrunken in die sandige Erde wirft: Sein in Großaufnahme grotesk zu einer Sandmaske entstelltes Gesicht zeigt ihn als Außenseiter in einer lebensfeindlichen Umgebung, die ihn seiner ursprünglichen Existenzform entrissen hat. Mit diesen subtilen Mitteln visualisiert Pasolini in Ansätzen bereits seine spätere Vorstellung vom «Völkermord» der «Bourgeoisie an bestimmten Schichten der unterdrückten Klassen, insbesondere am Subproletariat»109. Die dokumentierte Armut und die seelenlosen Betonbauten verweisen ebenso wie die durchgängige Begrenztheit des Raums (enge Häuserzeilen, Zäune, Mauern, Gitter, Straßenbegrenzungen) auf das Gefangensein der Protagonisten in einer fremden Peripherie. Die anfänglichen Hoffnungen auf die revolutionäre Kraft des Subproletariats, die sich in Una vita violenta noch manifestiert, ist in Accattone einem Pessimismus gewichen. Der Tod als Leitmotiv versinnbildlicht die Ausweglosigkeit subproletarischen Lebens in einer von den Normen der Bourgeoisie bestimmten Umwelt.

Die Schlussszene spielt in Trastevere und im rione Testaccio, dem 1872 erstmals geplanten und ab 1883 erbauten Arbeiterviertel im Südwesten des Stadtzentrums. Accattone stirbt 400 m außerhalb des rione. Im Hintergrund kann man links den Monte Testaccio mit dem darauf befindlichen Kreuz erkennen, der im 4. Jahrhundert als Halde aus Scherben entstand.

4.2 In der modernen Peripherie: Mamma Roma

Im Unterschied zu Accattone spielt Mamma Roma nicht in den borgate im engen Sinne, sondern vorwiegend in der modernen östlichen Peripherie, wie Pasolini selbst erklärte:

Mentre la vicenda di Accattone si svolgeva nelle borgate, Mamma Roma vive la sua vita nella Roma piccolo-borghese, nel mondo dell’Ina-Casa, in un mondo cioè che per forza è meno epico e quindi meno impressionante visivamente. Il personaggio interpretato dalla Magnani infatti va subito ad abitare in una casa della periferia moderna, in uno di quei palazzoni bianchi che in realtà sono meno fotogenici, direi, delle catapecchie della Borgata Gordiani.110

Als sie beschließt, ihr Leben zu ändern, holt Mamma Roma ihren Sohn Ettore in Guidonia ab, um ihn mit sich nach Rom zu nehmen.111 Guidonia Montecelio war 1962 noch eine eher ländlich geprägte Provinzstadt des Latiums. Die im Drehbuch vorgesehene derbe Eingangsszene mit der Kuh wurde im Film zwar nicht realisiert, unterstreicht aber den Unterschied der ländlichen Kleinstadt, in der Ettore aufwächst, zur Stadt Rom besonders deutlich: «Il deretano di una vacca che alza la coda, e lascia cadere sulla terra la sua placida pappa.»112 Die Bewohner werden ebenda auch als «burini», als «Bauern», bezeichnet. Und im Film flucht Mamma Roma: «Mannaggia la campagna co’ tutti ’sti sassi».113 Die ländliche Provinz, in der Ettore aufwächst, erscheint so neben dem Stadtzentrum und der Peripherie als dritte Form der Urbanistik. Von der Idee, nach Rom zu ziehen, scheint Ettore indessen anfangs nicht begeistert zu sein – wiederholt fragt er: «E che vengo a fà a Roma?»114

Abb. 13: Die erste Wohnung Mamma Romas in Casal Bertone

Die nächste Szene zeigt Mutter und Sohn bereits in Rom. Die erste Wohnung Mamma Romas befindet sich in dem Palazzo dei Ferrovieri genannten Jugendstilhaus an der Piazza Tommaso de Cristoforis in Casal Bertone, einem Arbeiterviertel östlich von San Lorenzo fuori le mura. Im Drehbuch heißt es in Anspielung auf den sechsten Höllenkreis, in dem die Häretiker, also diejenigen, die die Unsterblichkeit der Seele leugnen, verweilen: «Casal Bertone si erge giallastro contro il cielo, come la città di Dite.»115 Dies ist – ebenso wie der Gang der beiden durch den Hauseingang, in dessen Schatten sie verschwinden116, – ein erster Hinweis darauf, dass Mutter und Sohn nicht sozial aufsteigen, sondern tatsächlich absteigen werden ad inferos.117 Der Torbogen – auch vor dem zweiten Umzug durchschreiten Mutter und Sohn einen Hauseingang, diesmal den des Tuscolano II mit einem großen Betonkreuz118 in der Mitte – macht ebenso den Übergang vom Land in die abgeschlossene Welt der modernen Peripherie deutlich. Noch während Mutter und Sohn auf den Palazzo dei Ferrovieri zugehen, erklärt Mamma Roma, dass sie bald in ein besseres Viertel umziehen werden:

Ahò, ma guarda che qua stamo solo ’n ’altro po’ de giorni! Poi vedrai in che casa te porta tu’ madre! Vedrai quant’è bella! Proprio ’na casa de signori, de gente perbene! In un quartiere de ’n’altro rango119

Das schmutzige Treppenhaus mit seinem abblätternden Putz und den herumhängenden Jugendlichen weist auf das prekäre soziale Umfeld in Roms Außenbezirken hin. Den Ausblick aus dem Fenster bezeichnet Mamma Roma als «brutto»: «Capirai, si vede er cimitero…»120 Handelt es sich in dieser Szene noch um reale Gräber des Cimitero del Verano, der hinter einer mit unzähligen Telegraphenmasten gesäumten Hauptverkehrsstraße liegt, so schwingt hier die Metaphorik einer toten Architektur, welche die Kamera in Szene setzt, bereits mit. Als «’na distesa lunga lunga tutta de catafalchi»121 bezeichnet Mamma Roma bei ihrem letzten Arbeitstag als Prostituierte die seelenlosen Häuserblocks, denen sie zu entkommen versucht. Unter dem Nachthimmel der Ewigen Stadt macht die Hauptperson sich über das gigantische Sozialwohnbauprojekt lustig: Während das erste erbaute Haus, das auch den Beifall Mussolinis fand, noch gelungen sei, so Mamma Roma, sei nach dessen Sturz nur noch der Bau von «cessi» gefolgt, weshalb das Viertel Pietrarancio nur «Cessonia» genannt werde.122 In diesem direkten ironischen Kommentar manifestiert sich abermals Pasolinis Kritik an der ungeregelten, rasanten und monotonen Bebauung der Peripherie in der Nachkriegszeit.123

Entgegen dieser eingestreuten Anekdote ist die filmische Darstellung der Wohnsiedlung und der Innenräume weniger anklagend und weit von der Armseligkeit und Trostlosigkeit in Accattone entfernt. Hinter den Wänden eines funktionalen Wohnblocks weist das Interieur von Mamma Romas Wohnung eine gediegene Ausstattung auf: Die Wände sind ordentlich tapeziert, gepflegte Gardinen hängen an den Fenstern und neben zahlreichen Sitzgelegenheiten, Kommoden, Schränken und Spiegeln finden sich selbst Gegenstände wie Radio und Plattenspieler. Accessoires wie Bilder, Bücher, Blumen und dekorative Puppen runden die inszenierte Kleinbürgerlichkeit der Wohnung ab.

Der lang geplante Umzug in das Cecafumo-Viertel ist daher weniger der Ästhetik als der Sehnsucht nach einem besseren sozialen Umfeld geschuldet. Umzug und Ortswechsel stehen so allegorisch für den Versuch Mamma Romas, aus der Prostitution auszubrechen.124 Als wiederkehrendes Motiv erscheint von nun an die Panoramaansicht von Cecafumo, die gleichsam als visuelle Anapher insgesamt acht Mal gezeigt wird.125 Die Panoramaansicht verweist auf die soziale Stellung Mamma Romas und Ettores:126 Pasolini nutzt sie so zum ersten Mal vor dem Kirchgang der beiden im neuen Viertel, zum zweiten Mal bevor Mamma Roma mit dem Priester über Ettore spricht, zum dritten Mal vor dem zweiten Kirchgang, bei dem Mamma Roma die Erpressung des Restaurantbesitzers Pellisier organisiert, und zum vierten Mal am ersten Arbeitstag Ettores vor der gemeinsamen Motorradfahrt.

Bezeichnenderweise unterscheidet sich laut Drehbuch die neue Wohnung äußerlich nur geringfügig von der alten:

La casa nuova non è molto diversa da quella vecchia: solo che invece di essere perduta in un palazzone liberty è perduta in un palazzone novecento color vinaccia, pieno di abbaini, nuovo di zecca, tanto è vero che anche lì sotto c’è il prato, fresco e verde come ai tempi di Augusto.127

Die neue Wohnung liegt in dem wegen seiner Form als Boomerang bezeichneten Gebäude des 1950–54 erbauten Tuscolano II, das zum Ina-Casa-Projekt gehört128. Das Ina-Casa-Projekt des italienischen Staates stellte in den Jahren 1949–63 zu günstigen Preisen Wohnungen für die mittleren und unteren Schichten zur Verfügung; Ina Case gab es nicht nur in Rom, sondern beispielsweise auch in der Peripherie Mailands.129 Die tatsächliche Adresse der neuen Wohnung Ettores und seiner Mutter lautet nicht Via Calpurnio Fiamma 47, wie Ettore gegenüber Carmine preisgibt, als dieser nach Mamma Roma fragt, sondern Via dei Treviri 47.130

Abb. 14: Hauseingang am Tuscolano II, dem zweiten Wohnhaus Mamma Romas

Beim Umzug in die neue Wohnung zeigt sich der Ortswechsel nicht nur in der Darstellung des Außen- (saubere Fassaden, Gehsteige und akkurat umzäunte Vorgärten) und Innenraums (helle, großzügige Wohnung mit moderner Heizung), sondern insbesondere in der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Bewohner. Gleich bei ihrem Einzug kommen Mutter und Sohn gut gekleidete Jugendliche entgegen. Sie sind nach Mamma Romas Einschätzung der geeignete Umgang für Ettore, da er von ihren Umgangsformen und ihrem Wissen profitieren kann. Während sie die Gleichaltrigen an ihrem alten Wohnort noch als nichtsnutzige Bande beschimpfte, fordert sie ihren Sohn nun auf, die Jungen zu grüßen und Kontakt aufzunehmen, da sie, ohne sie näher zu kennen, in ihnen den richtigen Umgang für eine gelingende Sozialisation ihres Sohnes sieht. Tatsächlich sind die jugendlichen Bewohner des neuen Wohnhauses jedoch nach Maßstäben der bürgerlichen Moral keineswegs besser als die der alten Wohnung: Wie sich zeigen wird, gehören sie einer Diebesbande an.

Mamma Romas Aktivität und zielgerichtetes Handeln unterscheidet sich deutlich von Accattones passivem Verhalten, das durch Zufälle und Planlosigkeit geprägt ist. Der Umzug in ein neues Viertel bietet ihr persönlich die Möglichkeit zur Verwirklichung ihrer Ideale. Der Markt, ein weiterer zentraler Schauplatz des Films, ist ein Ort der Geschäftigkeit und Begegnung. Marktgeschrei, Ausgelassenheit, Klatsch und Tratsch prägen die Szene. Im Gegensatz zu den staubigen, menschenleeren Straßen in Accattone herrscht hier reges Treiben. Gleichzeitig ist der Markt auch ein Ort des Warentauschs, womit Pasolini das Prinzip der Ökonomisierung in den Vordergrund rückt. War in Accattone Geld nur ein Mittel zur Nahrungsbeschaffung und damit zum täglichen Überleben, werden in Mamma Roma die sozialen Auswirkungen einer auf Finanzielles, auf Kauf und Verkauf fixierten Gesellschaft betont, die das Individuum auf seinen ökonomischen Wert reduzieren.131

Einen Gegenentwurf zur materialistischen Welt der Protagonistin stellt ein anderer zentraler Handlungsort dar. Das an die neuen Wohngebäude angrenzende Brachland, das durch Grasflächen, Schutt- und Erdhügel sowie Ruinen geprägt ist, stellt einen Rückzugsort für die Jugend des Viertels dar. Das Brachland mit den Ruinen aus der römischen Antike, in denen sich Ettore, Bruna und ihre jugendlichen Freunde herumtreiben, gehört heute zu dem 1988 gegründeten Parco degli Acquedotti, der sich zwischen dem Stadtbezirk Appio Claudio im Nordosten, der Via delle Capannelle im Südosten und der Eisenbahnlinie Rom—Cassino—Neapel im Westen befindet. Nach eigener Aussage gefielen Pasolini diese Ruinen, wie sie einem manieristischen Maler des Cinquecento gefallen hätten.132 Die Überreste der antiken Aquädukte stehen in augenfälligem Kontrast zu den modernen, mehrstöckigen Wohnblöcken, die im Hintergrund zu sehen sind: «the too new and the too old, side by side.»133 Sie stellen Überreste einer Vergangenheit dar, in der Jugendliche noch nicht dem «Verhaltensmuster eines klassenübergreifenden Hedonismus», ausgesetzt waren, der sie zwingt, «sich in ihrem ganzen Verhalten, ihrer Kleidung, […] ihrem Handeln dem anzupassen, […] was sich auf den kleinbürgerlichen Lebensstil bezieht.»134 Diese Umgebung entzieht sich den sozialen Kontrollmechanismen und bietet den Jugendlichen, allen voran Ettore, einen Freiraum zur persönlichen Entfaltung. Ettore macht hier seine ersten sexuellen Erfahrungen, er entdeckt naiv die Welt, er spielt mit Freunden Karten und prügelt sich mit ihnen. Diese archaische Lebensform erinnert ein wenig an Accattones Lebenswelt. Darüber hinaus wird auf diesem Terrain der bereits angesprochene Stadt—Land-Kontrast verhandelt. Die Kameraeinstellungen zeigen Ettore fast verwachsen mit dem hohen Gras und den Disteln, durch die er sich seinen Weg bahnt. In mehreren Großaufnahmen wird eingefangen, wie er Gesicht und Körper an die von der Sonne gewärmten Steine schmiegt. Die filmische Darstellung eines unschuldigen und entwurzelten Naturkindes findet ihr Pendant in Ettores Kenntnissen über Flora und Fauna, die er in einem der Gespräche mit Bruna einstreut,135 da er seine gesamte Kindheit auf dem Land verbracht hat und unvermittelt in die römische Peripherie gebracht wurde. In diesen Szenen verweist Pasolini auf die Prägung des Menschen durch seine Umwelt; der bisweilen poetische filmische Blick auf die Überbleibsel der Natur findet jedoch keine Entsprechung im Wertekanon der kleinbürgerlichen Gesellschaft.136

Ettores wahres Ich öffnet sich im Niemandsland zwischen Vorstadt und Land. Hier gesteht er Bruna, dass er nicht zur Schule gehen möchte: «Ma io nun ce capivo niente! Me intontivano! Io non possa studià, perché me viè sempre mal de testa…»137 Die durch Gesellschaft geforderte Leistung und Bildungsbereitschaft widerspricht seiner eigenen Natur und wird nur um des Geldes willen akzeptiert. Die Zwänge einer ökonomisierten Gesellschaft beschränken seinen natürlichen Handlungsspielraum und zwingen ihn zur Assimilierung in Sprache, Denken und Handeln. Die eigenständige Welt des Brachlands, abgekoppelt von der Kontrolle und Manipulation der Mutter, bietet Ettore nur einen kleinen Bereich der Freiheit und Hoffnung. Sie ist Zeichen des Transitorischen und Unfertigen des Peripherieprojekts im räumlichen wie zeitlichen Kontext. Die Peripherie, Übergangszone von Stadt und Land, hat einerseits die bäuerlich-archaische Lebenswelt verdrängt, aber die Zukunft einer kapitalistischen und konsumorientierten Gesellschaft ist noch nicht überall angekommen. Ettore bleibt in der modernen Peripherie ein linkischer Außenseiter, der an den an ihn gestellten Ansprüchen scheitert.

Das Krankenhaus, in dem Ettore und seine Freunde Diebstähle begehen, liegt im faschistisch geprägten EUR-Viertel am Piazzale dei Navigatori; bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass nur der Diebstahl im Krankenhaus dort gedreht wurde, als Außenansicht diente der Istituto Romano di San Michele im Stadtteil Tor Marancia. Ebenfalls im EUR-Viertel – genauer im Palazzo della Civiltà italiana und vielleicht nicht zufällig dort – ist das Gespräch Mamma Romas mit dem Priester gedreht. In Mamma Roma spielt nur eine Szene im Stadtzentrum: Die Osteria, in der Ettore arbeitet und wo ihn Mamma Roma und Biancofiore besuchen, befindet sich in Trastevere. Dies verweist auf die sozialräumliche Segregation im Rom der Nachkriegszeit; die Bewohner der modernen Peripherie scheinen nur aus zwei Gründen ins Stadtzentrum zu kommen: als Arbeiter oder als Touristen. «The irony of a character called Mamma Roma … being reduced to a mere tourist in the city whose name she bears should not escape our attention.»138

5 Schlussbetrachtung

In Accattone dokumentiert Pasolini einerseits schonungslos die von Armut, Trostlosigkeit und Hunger geprägte Peripherie, andererseits lässt er sein Konzept vom Subproletariat in den Film mit einfließen. Pasolinis wahre Liebe gehörte, wie aus seinen eigenen Aussagen hervorgeht, den borgate und ihren Bewohnern. Die borgate verkörperten für ihn eine vorindustrielle Lebenswelt, fern jeglicher Moral und bürgerlicher Verhaltensmuster. Die ursprüngliche Hoffnung auf die revolutionäre Kraft der in der Peripherie lebenden Menschen lebt nur noch in Bildern ihrer Vitalität und dem verzweifelten Kampf um persönliche Freiheit fort und wird von einer Ausweglosigkeit überlagert, die sich im Leitmotiv des Todes zeigt. Die begleitende Musik Bachs dient dabei zur Überhöhung des individuellen Schicksals. Während die Schauplätze in Accattone noch Reste einer «bäuerlichen Welt» aufweisen und die Assimilation des Subproletariats noch nicht abgeschlossen ist – ein wesentliches Merkmal dafür ist die durchgängige Arbeitsverweigerung –, spielen in Mamma Roma bereits kleinbürgerliche Einflüsse eine wesentliche Rolle. Die Welt Accattones ist fast ausschließlich auf die borgate im Osten Roms begrenzt; Mamma Roma dagegen bezieht mit ihrem Sohn eine ordentliche Wohnung in der modernen östlichen Peripherie, die auch als Verkörperung der neorealistischen Architektur der Nachkriegszeit gesehen werden kann139. Während Accattone in ärmlichsten Verhältnissen lebt und Hunger leidet, verfügen Mamma Roma und Ettore bereits über gewisse Konsumgüter. Mamma Roma ist in Pasolinis Darstellung weniger eine Vertreterin des Subproletariats als des Kleinbürgertums, dessen nivellierendes Konsumdenken sie adaptiert hat. Durch das Scheitern der Hauptfigur kritisiert der Filmemacher den «consumismo»: Ihr sprechender Name suggeriert gar, dass «nicht nur eine Frau ihren Sohn, sondern die Mutter Rom ihre subproletarischen Kinder»140 verliert. Da Pasolini dem Subproletariat eine ideologische Bedeutung zuschreibt, ist seine Kritik an den anonymen Sozialwohnbauprojekten der Nachkriegszeit, die zu der von ihm bemängelten Nivellierung beitragen, nur folgerichtig. In einem Zeitungsartikel vom 8. Oktober 1975 schreibt er:

Se io oggi volessi rigirare Accattone, non potrei più farlo. Non troverei più un giovane che fosse nel suo «corpo» neanche lontanamente simile ai giovani che hanno rappresentato se stessi in Accattone. Non troverei più un solo giovane che sapesse dire, con quella voce, quelle battute. Non soltanto egli non avrebbe lo spirito e la mentalità per dirle, ma addirittura non le capirebbe nemmeno.141

Pier Paolo Pasolini starb 1975 unter mysteriösen Umständen am Strand von Ostia und teilte damit gewissermaßen das Schicksal seiner Roman- und Filmfiguren142; auch wenn es die ragazzi di vita in ihrer ursprünglichen Art bereits 1975 nicht mehr gab, haben doch Pasolinis Figuren bis heute überlebt und seine Darstellung der Peripherie und des Subproletariats bleibt aktuell: Neuere Filme über die römische Peripherie, die durch Korruption, Kriminalität und Drogenhandel eine soziale Problemzone bildet, haben nicht selten Pasolini als explizites Vorbild. So sieht etwa der Regisseur Claudio Caligari Accattone als den ersten Teil einer Trilogie, die er mit Amore tossico (1983) und Non essere cattivo (2015) fortsetzte.

6 Bildnachweise

Abb. 1: Rosselini, Roberto (Regie): Roma città aperta, Italien 1945, Excelsa Film, ca. 1:41.

Abb. 2: Pasolini, Pier Paolo (Regie): Mamma Roma, Italien 1962, Arco Film, ca. 1:46.

Abb. 3: De Sica, Vittorio (Regie): Ladri di biciclette, Italien 1948, Produzioni de Sica, ca. 0:04.

Abb. 4: https://storiedicalcio.altervista.org/blog/pasolini_calcio.html (5.2.2021).

Abb. 5: Da Vinci, Leonardo: L’ultima cena, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b4/Last_Supper_by_Leonardo_da_Vinci.jpg (22.2.2021).

Abb. 6: Pasolini: Mamma Roma, ca. 0:03.

Abb. 7: Mantegna, Andrea: Lamento sul Cristo morto, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f4/The_dead_Christ_and_three_mourners%2C_by_Andrea_Mantegna.jpg (22.02.2021).

Abb. 8: Pasolini: Mamma Roma, ca. 1:44.

Abb. 9: Pasolini, Pier Paolo (Regie): Accattone, Italien 1961, Arco Film / Cino del Duca, ca. 0:02.

Abb. 10: Pasolini: Accattone, ca. 0:05.

Abb. 11: Pasolini: Accattone, ca. 0:15.

Abb. 12: Pasolini: Accattone, ca. 0:35.

Abb. 13: Pasolini: Mamma Roma, ca. 0:12.

Abb. 14: Pasolini: Mamma Roma, ca. 0:28.

  1. Dieser Aufsatz beruht auf einer Arbeit, die im Rahmen des von Frau Dr. Tatiana Bisanti geleiteten Seminars Le periferie al cinema an der Universität des Saarlandes im Wintersemester 2020/21 entstanden ist. Für wertvolle Anregungen habe ich der Dozentin und den Seminarteilnehmer*innen zu danken.
  2. Vgl. auch Marcus, Millicent: Italian Film in the Light of Neorealism, Princeton: Princeton University Press 1986, S. 52: «a symbol of regeneration».
  3. Vgl. auch Rhodes, John David: Stupendous, Miserable City. Pasolini’s Rome, Minneapolis-London: University of Minnesota Press 2005, S. 120: «a corrosive allusion to Rome Open City’s last image».
  4. Vgl. auch ebd., S. 110.
  5. Vgl. auch Siciliano, Enzo: Pasolini. Leben und Werk, München: Heyne 1996 (ital. Original 1978), S. 322.
  6. Pasolini, Pier Paolo: Per il cinema, Milano: Mondadori 2001, S. 263. Die Drehbücher von Accattone und Mamma Roma veröffentlichte Pasolini fast zeitgleich zu den Filmen, ohne sie nochmals zu überarbeiten, was die teils erheblichen Unterschiede zwischen Film und Drehbuch erklärt.
  7. Vgl. Parigi, Stefania: Pier Paolo Pasolini, Accattone, Torino: Lindau 2008, S. 5.
  8. Vgl. Rhodes: Pasolini’s Rome; Parigi: Accattone; Capoferri, Federica: La Roma di Mamma Roma, Roma: Palombi editori 2017.
  9. Vgl. für diesen Absatz Capoferri: Mamma Roma, S. 58 f.
  10. 1871 ergab die Volkszählung 212.000 Einwohner, 1881 273.000, 1901 422.000, 1951 1.650.000 und 1961 2.187.000. Vgl. ebd., S. 37.
  11. Vgl. Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 2.
  12. Vgl. für diesen Absatz Villani, Luciano: Le borgate del fascismo. Storia urbana, politica e sociale della periferia romana, Milano: Ledizioni 2012, S. 11–20. Grundlegend zur Baugeschichte des modernen Roms ist außerdem Insolera, Italo: Roma moderna: un secolo di storia urbanistica 1870–1970, Torino: Einaudi 1993.
  13. Vgl. etwa Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 7.
  14. Vgl. dazu Cederna, Antonio: Mussolini urbanista: lo sventramento di Roma negli anni del consenso, Roma-Bari: Laterza 1980.
  15. Pasolini, Pier Paolo: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin: Wagenbach 2011 (ital. Original 1975), S. 55. Unter dem Eindruck der Landarbeiterkämpfe entdeckte Pasolini 1947/48 Marx und Gramsci, die seiner Sympathie für das einfache Volk eine politische und anthropologische Dimension hinzufügen. Vgl. auch Kammerer, Peter: «Der Traum vom Volk. Pasolinis mythischer Marxismus», in: Pier Paolo Pasolini, München / Wien: Hanser, 1985 (1. Aufl. 1977), S. 13–34, hier S. 13.
  16. Vgl. Naldini, Nico: Pier Paolo Pasolini. Eine Biographie, Berlin: Wagenbach 1991 (ital. Original 1986), S. 116–119.
  17. Vgl. ebd., S. 123.
  18. Siciliano: Pasolini, S. 203 f.
  19. Vgl. ebd., S. 209.
  20. Zit. n. Naldini: Pasolini, S. 124.
  21. Vgl. Schweitzer, Otto: Pier Paolo Pasolini. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg: Rowohlt 1986, S. 48.
  22. Kleiner, Barbara / Strauß, Manfred: «Una vita violenta», in: Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 12, S. 1004 f. Das Projekt für einen dritten Roman mit dem Titel Il rio della grana blieb mit wenigen Seiten im Entwurfsstadium stecken. Vgl. Naldini: Pasolini, S. 175.
  23. Moravia, Alberto: «Der Dichter und das Subproletariat», in: Pier Paolo Pasolini, München / Wien: Hanser, 1985 (1. Aufl. 1977), S. 7–12, hier S. 7.
  24. Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 22. Ähnlich auch schon Lill, Bruno: Der römische Dialekt im italienischen Film der Nachkriegszeit, Genève: Librairie Droz 1994, S. 104 f.
  25. Vgl. Pasolini, Pier Paolo / Halliday, Jon: Pasolini über Pasolini. Im Gespräch mit Jon Halliday, Wien-Bozen: Folio 1995 (engl. Original 1969), S. 48; Naldini: Pasolini, S. 129; Siciliano: Pasolini, S. 238 f.
  26. Zit. n. Naldini: Pasolini, S. 128.
  27. Pasolini: Per il cinema, S. 2806.
  28. Vgl. Giancarlo, Nicoli: «L’opera di Pier Paolo Pasolini tra denuncia e mitizzazione», in: Studii Europene, 2 (2013), S. 106–110, hier S. 108.
  29. Vgl. Siciliano: Pasolini, S. 243.
  30. Vgl. auch Ferrero, Adelio: Il cinema di Pier Paolo Pasolini, Venezia: Marsilio 2005 (1. Aufl. 1977), S. 20.
  31. Zit. n. ebd.
  32. Vgl. etwa Naldini: Pasolini, S. 175, 188.
  33. Vgl. ebd., S. 165. Ein Überblick über die Drehbücher, an denen Pasolini, beteiligt war, bietet Bellavita, Andrea: «Pasolini regista: né corsaro, né eretico», in: Redaelli, Enrico: La lezione di Pasolini, Milano-Udine: Mimesis 2020, S. 49–64, hier S. 51 f.
  34. Vgl. Schweitzer: Pasolini, S. 71.
  35. Vgl. auch Lill: Dialekt, S. 101, Anm. 275.
  36. Vgl. Bertelli, Pino: Pier Paolo Pasolini. Il cinema in corpo. Atti impuri di un eretico, Roma: Libreria Croce 2001, S. 32.
  37. Pasolini, Pier Paolo: Lichter der Vorstädte, hrsg. v. Franca Faldini, Hofheim: Wolke 1986, S. 31.
  38. Sie sammeln Glasflaschen und säubern diese auf primitiven offenen Feuerstellen. In der dargestellten Welt existieren keine Arbeitsplätze in Industrie oder Fabriken.
  39. Vgl. Pasolini, Pier Paolo (Regie): Accattone, Italien 1961, Arco Film / Cino del Duca, ca. 1:01–1:02.
  40. Vgl. ebd., ca. 1:06–1:07.
  41. Vgl. ebd., ca. 0:16.
  42. Lill: Dialekt, S. 111. Ebd. heißt es weiter, dass Stella die Einzige sei, die kaum Schimpfwörter gebrauche, was zu ihrer engelhaften Erscheinung beitrage.
  43. Pasolini: Per il cinema, S. 7.
  44. Pasolini: Accattone, ca. 1:10.
  45. Vgl. Pasolini: Per il cinema, S. 104: «Er sangue mio nun se lo beve nessuno!».
  46. Vgl. Pasolini: Accattone, ca. 1:32.
  47. Pasolini: Per il cinema, S. 127.
  48. Schütte, Wolfram: «Kommentierte Filmografie», in: Pier Paolo Pasolini, München / Wien: Hanser, 1985 (1. Aufl. 1977), S. 103–214, hier S. 108.
  49. Pasolini: Per il cinema, S. 129: «Me so’ ito a ammazzà, pe’ mille lire!»
  50. Pasolini: Accattone, ca. 1:18; Pasolini: Per il cinema, S. 104.
  51. Pasolini: Per il cinema, S. 50.
  52. Unter dem Einfluss des Weines erklärt Accattone: «Pure in galera nun ce ponno vede, a noi!». Ebd., S. 20. Vgl. auch die Kameraeinstellungen am Schluss des Films, wo vom ermittelnden Beamten mehrmals nur die Augenpartie gezeigt und damit die durchgehende Überwachung des Individuums durch die Justiz visualisiert wird. Siehe auch unten Kap. 4.1.
  53. Vgl. die Aussage Accattones: «Noi valemo giusto se ciavemo mille lire in saccoccia, se no nun semo niente.» Ebd.
  54. Vgl. Jungheinrich, Hans-Klaus: «Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen Pasolinis», in: Pier Paolo Pasolini, München / Wien: Hanser, 1985 (1. Aufl. 1977), S. 35–48, hier S. 35. Der deutsche Filmtitel ist im Übrigen ein Zitat aus Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre von 1796/96.
  55. Vgl. Pasolini: Per il cinema, S. 50: «Eh, tanto pe’ non facce morì de fame!»
  56. Vgl. Pasolini: Accattone, ca. 0:49–0:56.
  57. Vgl. Pasolini: Per il cinema, S. 62.
  58. Ebd.
  59. Greene, Naomi: Pier Paolo Pasolini. Cinema as heresy, Princeton: Princeton University Press 1990, S. 25.
  60. Siciliano: Pasolini, S. 296.
  61. Pasolini: Accattone, ca. 0:26.
  62. Zit. n. Ferrero: Cinema, S. 27.
  63. Vgl. auch Pasolini: Per il cinema, S. 2806: «In Una vita violenta oltreché la denuncia, la denuncia di un mondo, di un modo di vivere, di una piaga spaventosa che lacera l’Italia del ‹benessere› c’era anche una indicazione non soltanto implicita ma esplicita di una prospettiva nella speranza.» Die Kritik hat daher zu Recht darauf verwiesen, dass Accattone den Ragazzi di vita nähersteht, wohingegen Mamma Roma eher Una vita violenta ähnelt. Vgl. Vighi, Fabio: Le ragioni dell’«altro». La formazione intellettuale di Pasolini tra saggistica, letteratura e cinema, Ravenna: Longo 2001, S. 226. Vgl. auch schon Pasolini: Per il cinema, S. 2819: «Mamma Roma in un certo senso somiglia molto di più al Tommaso Puzzili di Una vita violenta che non ad Accattone»; ebd., S. 2809: «considero Accattone, da un punto di vista ideologico, […] un passo indietro, quindi un leggero ritorno verso Ragazzi di vita, un romanzo cioè di pura denuncia, senza una soluzione affrontata esplicitamente.»
  64. Vgl. auch Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 66: «Only death brings succor to the underclass, the film seems to say.»
  65. Pasolini: Per il cinema, S. 142.
  66. Pasolini, Pier Paolo: «Il paradiso di Accattone», in: Vie Nuove, 1.7.1961.
  67. Zit. bei Naldini: Pasolini, S. 208.
  68. Magaletta, Giuseppe: Pier Paolo Pasolini: le opere, la musica, la cultura, t. 2: cinema, Foggia: Diana Galiana 2010, S. 374.
  69. Vor der Bar sitzen anfangs insgesamt 13 Subproletarier, womöglich eine Anspielung auf Jesu und die Apostel. Accattone malt sich vor seinem Sprung sein Begräbnis aus, im Hintergrund ist einer der zehn Passionsengel Berninis zu sehen und Accattone bekreuzigt sich. Auch sein Körper mit den ausgestreckten Armen bildet ein Kreuz. Das Motiv des Kreuzes durchzieht weiter den gesamten Film.
  70. Sandro Petraglia zit. bei Bertelli: Cinema, S. 30.
  71. Vgl. Pasolini: Per il cinema, S. 3051.
  72. Vgl. Capoferri: Mamma Roma, S. 80.
  73. Pasolini / Halliday: Pasolini über Pasolini, S. 54 f.
  74. Pasolini: Per il cinema, S. 166.
  75. Ebd., S. 223.
  76. Ebd., S. 201.
  77. Auf der Hochzeit ihres Zuhälters präsentiert sie sich als eigenständige Person, die nur Spott für den Bräutigam übrighat. Ihr Gesang «Fiore de merda, io me so’ lliberata da ’na corda, adesso tocca a ’n’altra a fa la serva!» zeigt deutlich ihren Willen nach Unabhängigkeit. Vgl. ebd., S. 158.
  78. Mamma Roma steckt ihrem Sohn wiederholt Geldscheine zu und schenkt ihm ein Motorrad; bei einer gemeinsamen Probefahrt zeigt sich ihr manipulativer Impetus: «Te fà vede chi te fà diventà tu madre! Te fà invidià da tutti! … ’A carognè, che sei di sinistra? Guarda che mica annamo d’accordo, sa’, se te metti a fà er compagno!», was so viel heißt wie: Hör auf Deine Mutter, dann wird etwas aus Dir. Vgl. ebd., S. 226.
  79. Zit. n. Ferrero: Cinema, S. 39.
  80. Zit. n. Pasolini: Per il cinema, Bd. 2, S. 2821.
  81. Pasolini: Per il cinema, S. 239.
  82. Pasolini: Freibeuterschriften, S. 107.
  83. Vgl. Pasolini / Halliday: Pasolini über Pasolini, S. 62.
  84. Vgl. Pasolini: Mamma Roma, Italien 1962, Arco Film, ca. 0:28–0:29.
  85. Bei ihrem Versuch, den Priester zur Mithilfe bei der Arbeitssuche für Ettore zu bewegen, empfiehlt dieser, mit Demut von vorne anzufangen, d.h. den Sohn als einfachen Arbeiter auf die Baustelle zu schicken oder sich den Aufstieg durch die Aneignung von Wissen und Bildung zu erarbeiten: «Sul niente non si costruisce niente … cominciare con umiltà da dove dovete cominciare, da zero. Mandarlo a scuola, insegnargli un mestiere …». Ebd., ca. 0:54–0:55. Pasolini selbst bezeichnete die Figur als einen Priester des «periodo del benessere, un prete ‹neo-capitalista› … un prete abbastanza moderno, aggiornato». Pasolini, Pier Paolo / Magrelli, Enrico: Con Pier Paolo Pasolini, Roma: Bulzoni 1977, S. 47.
  86. Vgl. Pasolini: Mamma Roma, ca. 0:29.
  87. Vgl. Witte, Karsten: Die Körper des Ketzers. Pier Paolo Pasolini, Berlin: Vorwerk 8 1998, S. 93: «Ettore erinnert aber auch an die mythologische Dimension: denn Hektor, von Achill erschlagen, um Trojas Mauern geschleift, war ein exemplarischer Verlierer.»
  88. Pasolini: Mamma Roma, ca. 1:41–1:42.
  89. Der zitierte Begriff stammt aus den Poesie mondane aus dem Band Poesie in forma di rosa von 1964. Vgl. auch Groß, Bernhard: Pier Paolo Pasolini. Figurationen des Sprechens, Berlin: Vorwerk 8 2008, S. 210.
  90. Vgl. auch Schwartz, Barth David: Pasolini Requiem, Pantheon Books: New York 1992, S. 397: «Accattone never imagines a way out; for Mamma Roma, that road exists but has been mined by ‹the system›.»
  91. Eine Übersicht über sämtliche Drehorte von Accattone bietet Parigi: Accattone, S. 64.
  92. Pasolini, Pier Paolo: «Il 4 ottobre», in: Il Giorno, 16.10.1960.
  93. Vgl. Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 42.
  94. Vgl. insb. Pasolini: Accattone, ca. 0:07–0:09; 0:15–0:17.
  95. Pasolini: Per il cinema, S. 15.
  96. Vgl. Pasolini: Per il cinema, S. 44: «È proprio un Accattone, in canottiera – senza maglietta – coi calzoni impolverati. Nel collo, non c’è più la grossa catenella d’oro. Alle dita non c’è più neanche un anello. Al polso non c’è più né bracciale né orologio.»
  97. Zit. n. Capoferri: Mamma Roma, S. 67 f.
  98. Vgl. Pasolini, Pier Paolo: Gramsci’s Asche. Gedichte Italienisch / Deutsch, München / Zürich: Piper 1984 (ital. Original 1957), S. 120–149, hier S. 148 f. Vgl. auch die Interpretation bei Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 85.
  99. Vgl. Pasolini: Accattone, ca. 0:34–0:35. Vgl. auch Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 49.
  100. Vgl. Pasolini: Accattone, ca. 0:35–0:36. Vgl. auch Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 50.
  101. Pasolini: Accattone, ca. 0:36. Vgl. auch Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 50 f.
  102. Vgl. auch Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 72.
  103. Vgl. ebd., S. 53.
  104. Die zitierten Verse lauten: «l’angel di Dio mi prese, e quel d’inferno // gridava: ‹O tu del ciel, perché mi privi? // Tu te ne porti di costui l’etterno per una lagrimetta che ’l mi toglie» (V. 104–107). Die Textstelle handelt von Bonconte da Montefeltro, den eine einzige Träne vor der Hölle rettete, die er kurz vor seinem Tod über sein schlechtes Leben vergießt. Vergeblich suchen Zuschauer*innen von Accattone eine aus Reue vergossene Träne auf dessen Gesicht während des Films.
  105. Vgl. Rhodes: Pasolini’s Rome, passim. Zunächst ist der Beerdigungszug weit entfernt. Dann ist die Kamera auf Accattone gerichtet und bereits nach wenigen Sekunden sieht man die Teilnehmer der Beerdigung an ihm vorbeiziehen. Das ist unmöglich, wenn man annimmt, dass der Beerdigungszug aus seiner Perspektive gesehen wird. Neben den Anspielungen auf Rossellinis Roma città aperta ist auch die Szene, in welcher der von Ettore bestohlene Alte im Krankenhaus «ladro, ladro» ruft, ein offensichtlich ironisches Zitat aus De Sicas Ladri di biciclette. Denn der Alte, dem das Radio gestohlen wird, wird vom selben Schauspieler verkörpert wie Antonio Ricci, der Protagonist von De Sicas Film, dem sein Fahrrad gestohlen wird: von Lamberto Maggiorani. Vgl. auch ebd., S. 124.
  106. Die am Straßenrand stehenden Kinder bekreuzigen sich in dem Moment, in dem Accattone an ihnen vorbeigeht.
  107. Vgl. Parigi: Accattone, S. 64.
  108. Vgl. auch Pasolini / Halliday: Pasolini über Pasolini, S. 59: «Ich denke, was sie [= die Kritiker] bei ‹Accattone› so schockiert hat, war die Verbindung der Brutalität des römischen Subproletariats mit der Musik Bachs. Bei ‹Mamma Roma› war das anders, und das hat weniger Anstoß erregt: Leute aus dem Volk, die Kleinbürger sein wollen, und die Musik Vivaldis, die viel italienischer ist und auf Motiven der Volksmusik beruht, diese Art der Beschmutzung ist weit weniger brutal und schockierend.» Für eine ausführliche Analyse der Musik in den Filmen Pasolinis vgl. Magaletta: Pasolini.
  109. Pasolini: Freibeuterschriften, S. 161.
  110. Pasolini: Per il cinema, S. 2824.
  111. Vgl. zu den Schauplätzen in Mamma Roma auch die ausführliche Analyse bei Capoferri: Mamma Roma, S. 131–146.
  112. Pasolini: Per il cinema, S. 160.
  113. Pasolini: Mamma Roma, ca. 0:11.
  114. Pasolini: Per il cinema, S. 164 f.
  115. Ebd., S. 165.
  116. Vgl. ebd., S. 166: «Giungono sotto l’enorme androne che introduce dentro la città, un androne liberty, bruciato dalle piogge e dai soli. Vi passano sotto, scompaiono, prima nell’ombra dell’androne, poi nella luce che sfolgora al di là.»
  117. Vgl. Capoferri: Mamma Roma, S. 66. Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 112 f., sieht in der Szene eine ironische Anspielung Pasolinis auf die Renaissance-Darstellungen idealer Städte.
  118. Da die Protagonistin des Films am Schluss abermals durch diesen Hauseingang läuft, interpretiert Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 125, die Szene wie folgt: «The movement toward this architectural crucifix suggets that Ettore and Mamma Roma have been hung on the cross of class segregation and false dreams of class mobility – dreams fostered by the INA Casa Tuscolano project’s masquerade of progress and social mobility.»
  119. Pasolini: Per il cinema, S. 166.
  120. Ebd., S. 173.
  121. Pasolini: Mamma Roma, ca. 0:24–0:25.
  122. Vgl. ebd., S. 175.
  123. Vgl. auch Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 115, der die Szene als «a kind of Rosetta stone for reading the rest of the film» sieht.
  124. Vgl. auch Groß: Pasolini, S. 196.
  125. Vgl. Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 118 und S. 127; Capoferri: Mamma Roma, S. 75.
  126. Micciché, Lino: Pasolini nella città del cinema, Marsilio: Venezia 1999, S. 116, hat als Erster das Motiv der Stadtansicht als nicht-subjektives und nicht-intradiegetisches, sondern ideologisches Bild interpretiert.
  127. Pasolini: Per il cinema, S. 180 f.
  128. Vgl. dazu Sotgia, Alice: Ina Casa Tuscolano. Biografia di un quartiere romano, Milano: Franco Angeli 2010.
  129. Vgl. dazu Zeier Pilat, Stephanie: Ricostruire l’Italia: i quartieri Ina-Casa del dopoguerra, Castel Gandolfo: Castelvecchi 2019.
  130. Vgl. Capoferri: Mamma Roma, S. 70 f., 139.
  131. Auch die Prostitution ist in Mamma Roma völlig anders dargestellt als in Accattone: Waren dort die Prostituierten der Willkür und Gewalt von Freiern und Banden ausgesetzt, dominiert in Mamma Roma die geschäftstüchtige Hauptperson das Geschehen. Sie läuft der Kamera im nächtlichen Rom entgegen, ihre Kunden reihen sich von links und rechts ihrem Voranschreiten an und verschwinden nach wenigen gewechselten Worten wieder im Dunkeln. Statt Bedrohung stehen hier Tausch und Austauschbarkeit im Vordergrund.
  132. Vgl. Pasolini: Per il cinema, S. 2827.
  133. Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 122.
  134. Pasolini: Freibeuterschriften, S. 162 f.
  135. Vgl. Pasolini: Per il cinema, S. 189 f.
  136. Alle erwachsenen Hauptpersonen sprechen von der Landbevölkerung nur herablassend als «burini». Insbesondere Mamma Roma setzt alles daran, Ettores ländliche Herkunft bis in Verhalten und Sprache hinein auszulöschen: «Che, voi passà tutta la vita qua, te piace proprio la zappa? … Che t’ho messo ar mondo pe’ fatte diventà un cafone, io?» Ebd., S. 164 f. An anderer Stelle fordert sie ihn auf, nicht so wie die Bauern zu reden: «Che hai detto? Che hai detto?… Che sarebbero ’ste parolacce! Tu devi parlà come parla tu’ madre, no come quei quattro bigonzi, là!» Ebd., S. 167.
  137. Ebd., S. 203.
  138. Rhodes: Pasolini’s Rome, S. 124.
  139. So die Interpretation von Rhodes: Pasolini’s Rome, der Accattone und Mamma Roma als Kritik am Neorealismus deutet.
  140. Schütte, Wolfram: «Kommentierte Filmografie», in: Pier Paolo Pasolini, München / Wien: Hanser, 1985 (1. Aufl. 1977), S. 114.
  141. Zit. n. Parigi: Accattone, S. 5.
  142. So nannte schon Michelangelo Antonioni Pasolini «das Opfer seiner eigenen Roman- und Filmfiguren». Zit. bei «Pasolinis Tod. Una vita violenta», in: Der Spiegel 46/1975, S. 204–211.