Die Poesie als Bühne und Werkstatt: Rilke als Übersetzer Michelangelos

· Franca Janowski ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-F445-8

I.

Ein Gedicht zu lesen heißt, dieses in die Sprache der eigenen Seele zu übersetzen. Auf der schmalen Brücke zwischen Dichter und Leser spielt sich eine Szene ab, die in ihrer dramatischsten Form eine Umkehrung bedeutet. Hans-Georg Gadamer erläutert dieses Geschehen am Bespiel von Rilkes Duineser Elegien und spricht von einer «mythopoietischen» Umkehrung. Das lyrische Ich vermag im Text keine «Poetisierung der Welt» zu erleben, denn gerade das Unpoetische unserer Welt wird Gegenstand der dichterischen Aussage. Dennoch: «Die Welt wird von der Erfahrung des eigenen Herzens her noch immer voller Wunder» erlebt.1 Auf die Zweideutigkeit der emotionalen Wirkung des Poetischen anspielend, bemerkte Francesco De Sanctis, dass Leopardis Pessimismus die gegenteilige Wirkung erreiche: «Chiama illusioni l’amore, la gloria, la virtù e te ne accende in petto un desiderio inesausto».2 Der Prozess des Übersetzens bringt die Strategien ans Licht.

Rilkes Übertragung des Infinito Leopardis3 belegt die Sinnverschiebung, die durch die berühmten Schlussverse «e il naufragar m’è dolce in questo mare» angedeutet wird. Der Figur des Schiffbruchs, eine Chiffre für Leopardis Verständnis der Poesie als ästhetische Erfahrung, widerfährt eine Umwandlung. Wird im Original ein dramatisches Geschehen in eine beglückende Erfahrung verwandelt, so verändert Rilkes Übersetzung «Untergehen in diesem Meere ist inniger Schiffbruch» die Metaphorik von einer figure du monde in ein inneres Erlebnis. Diese Sinnverschiebung kommt dadurch zustande, dass das Verb «naufragar» durch die substantivische Form in die harte Metapher des Schiffbruchs übersetzt wird. Die phonisch-rhythmische Wiedergabe folgt einer eigenen mythisch-ideologischen Matrix.4

Über die Übersetzung von Dichtung, über ihren Sinn und ihre konkrete Möglichkeit oder Unmöglichkeit ist viel geschrieben worden. Die folgenden Überlegungen wollen einige Verfahren beleuchten, die ihre Grundlagen betreffen. Um diese zu verdeutlichen, möchte ich auf Figuren rekurrieren, die vielleicht Licht ins Dunkel bringen können. Denn ein Übersetzer von Lyrik gleicht in seiner Arbeit einem Schauspieler, einem Träumer, einem Archäologen und einem Liebhaber. Die Tatsache, dass in diesem Kontext die Wahl auf die Rime Michelangelos in der Übersetzung von Rilke gefallen ist, bringt mit sich, dass am Rande auch die Problematik der Subjektivität des Florentiner Künstlers gestreift wird.

Ist es überhaupt möglich, zwischen dem Ich im Gedicht und der historischen Person des Autors Michelangelo zu unterscheiden, ja sie klar auseinander zu halten? Wie Robert J. Clements in seiner umfassenden Studie über Michelangelos Poesie feststellt: «The Rime constitue a Self-portrait of the man, physical, spiritual, temperamental, and moral».5 Liegt also der Wert dieser Gedichte vor allem im Autobiographischen? Sollen sie dazu dienen, mehr über die Entstehung der Skulpturen und der Malerei Buonarrotis zu wissen? Kann man den inneren Drang, der Michelangelo dazu führte, nicht nur zum Meißel, sondern auch zur Feder zu greifen, überhaupt aufklären? Hier kann vielleicht eine Funktion des Übersetzens in der Klärung der Beziehung zwischen dem lyrischen und dem empirischen Ich gesehen werden.6 Denn in der Übersetzung relativiert sich der Unterschied zwischen empirischem und poetisch geschaffenem Ich. Im vielschichtigen Prozess der Begegnung zweier Subjektivitäten kann sich die Matrix der Kreativität erweisen.

Morasso und Rondoni definieren in ihrer Anthologie der Gedichte Michelangelos in der Übersetzung Rilkes diese Arbeit so:

Un duplice viaggio d’autore nel cantiere mentale di due poeti di prima grandezza, che ci aiuta a vedere ciò che nel concreto dell’artigianato poetico sia stato tanto per Rilke quanto per Michelangelo insieme movente (in senso psicologico) e risultato (in senso estetico spirituale).7

II.

Wenn Dichter von Rang Texte übersetzen, sind selten verlegerische oder ökonomische Zwänge bestimmend. Sie übertragen Lyrik aus einem inneren Drang heraus, sie suchen primär sich selbst und meistern dabei die schwierige Aufgabe, ein fremdes Gedicht in eine neue Kultur zu naturalisieren. Nicht selten wirken Lyriker schöpferisch und innovativ in der eigenen Sprache.

In einer Reflexion über den Dichter Clemente Rebora veranschaulicht der Kritiker Roberto Esposito präzis die akrobatische Leistung einer glücklichen Übersetzung:

Di proposito Rebora rende sensazioni e sviluppi e modi d’espressione straniera con procedimenti italiani analoghi, e dove non gli riesce, si crea l’espressione adatta, anche a costo di sforzare la vecchia lingua e la comune stilistica. Egli ha dinanzi un’opera d’arte e vuol farla sentire: il resto non importa e se anche per dare ciò che sente, gli è necessaria una lingua nuova, non se ne sgomenta. Anzi qua e là non nasconde i suoi propositi di rinnovare, conscio che l’artista ha la sua lingua per sé, e che deve crearsela intima e profonda nello sforzo continuo di nuove espressioni e di nuova chiarezza.8

So wie es eine prosa d’arte gibt, gibt es also auch eine traduzione d’arte. Sie unterscheidet sich von der sogenannten traduzione di servizio oder traduzione semantica. Diese bleibt textnah und trifft meistens den Sinn eines Gedichts. Jedoch soll, wie Walter Benjamin gezeigt hat9, nicht der Sinn eines Gedichts, sondern dessen «Aura» transportiert werden.

Von Rilke wissen wir, dass er Dichtung lediglich übersetzte, wenn er es mit kongenialen Texten zu tun hatte. Auch kann man in seinen Übertragungen seinen unverwechselbaren Stil immer erkennen. Rilkes Brieffreund Rolf von Ungern-Sternenberg bemerkt diesbezüglich lobend: «Sie verstehen, wie keiner sonst, auch das eigentümliche einer fremden Seele, ihr spezifisches Kolorit wiederzugeben; sich selbst schildern ist ja verhältnismässig eine leichtere Kunst.»10

Leider wird die Übertragung durch einen Dichter nicht immer zum Kunstwerk. So sagte Karl Kraus mit großer Häme über die Übersetzung eines Sonetts von Shakespeare durch Stefan George: «Er habe es erreicht, durch eine Vergewaltigung zweier Sprachen, der des Originals und derjenigen, die die Übersetzung erraten lässt, eine Einheit des dichterischen wie des philosophischen Misslingens zu erzielen.»11 Auch wenn dieses Urteil höchstwahrscheinlich ungerecht ist, wirft die Aussage ein Licht auf die heikle Frage des Umdichtens. Man kann gewiss Robert J. Clements12 trauen, wenn er Rilkes Übertragungen von Michelangelo als die besten in einer europäischen Sprache betrachtet. Gewiss war der ‹deutsche› Dichter nach Kräften bemüht, eine ‹reine Übersetzung› zu schaffen.

Rilke, der aus vielen europäischen Sprachen übersetzte, hat sich oft und eindringlich die Frage nach Sinn und Technik dieser Kunst gestellt. Eine der interessantesten Thesen, die wir von ihm kennen, geht zurück auf eine Diskussion, die der Dichter kurz vor seinem Tod in Zürich führte. Er behauptete dabei, dass Übersetzungskunst und Schauspielkunst verwandt seien. Die Übersetzung sei Alchemie, Verwandlung von fremden Elementen in Gold.13 Der Vergleich zwischen Übersetzer und Schauspieler scheint mir ins Herz der Problematik zu treffen. Erhellende Reflexionen und Intuitionen über die Arbeit des Schauspielers verdankt man dem russischen Kritiker und Regisseur Konstantin S. Stanislawski.14 Der Schritt von der Bühne zum lyrischen Text lässt sich von dieser Theorie her verstehen. Ein guter Schauspieler muss übersetzen. Die Arbeit findet als Rollenarbeit statt und entwickelt sich in einer doppelten Bewegung. Die erste führt von seiner Persönlichkeit in die Persönlichkeit der Rolle, die zweite von der Persönlichkeit der Rolle in die eigene konkrete Situation. Eine Parallele zwischen Schauspieler und Übersetzer gründet auf einer Analyse der selbst erlebten inneren Einheit der Person, also auf der Identität: Um eine Rolle zu erleben und zu verkörpern, muss der Schauspieler lernen, sein emotionales Gedächtnis anzuregen. Je reicher dieser Erfahrungsschatz ist, desto wirksamer wird seine Kunst sein. Stanislawski verdeutlicht: «So wird also die Seele der auf der Bühne dargestellten Person vom Schauspieler aus den lebendigen menschlichen Elementen der eigenen Seele, aus eigenen emotionalen Erinnerungen und anderen mehr kombiniert und geformt.»15

Voraussetzung dafür ist, dass der Schauspieler weiß, wer er ist. Der lyrische Übersetzer durchlebt einen ähnlichen Prozess der Bewusstwerdung. Ohne reflektiertes Wissen um seine eigene Biographie, also eine volle Bewusstwerdung des eigenen kulturellen Hintergrunds, ist der Dichter nicht imstande zu übersetzen. Seine Entscheidung verdankt sich einer Wahlverwandtschaft oder zuweilen auch einer existentiell kontrastierenden Haltung. Eine Betrachtung von George Steiner über Paul Celan beleuchtet die schwierige Einstellung des Lyrikers zur eigenen Sprache. Steiner spricht von der «extrem paradoxen, ungelösten und letztlich selbst zerstörerischen Koexistenz Celans mit der deutschen Sprache». Er fügt hinzu: «Seine Übersetzungen aus dem Russischen, Italienischen, Englischen haben ihm ermöglicht, das Deutsche an einen Ort heilsamer Fremdheit zu verschieben». «Alle Gedichte Celans sind ins Deutsche übersetzt.» Nur so werde die deutsche Sprache «verwendbar für eine zuinnerst jüdische Stimme nach dem Genozid».16

Rilke hat kein jüdisches Schicksal erleiden müssen und doch erraten wir in seinen Versen seine rastlose Existenz, sein Geschick als Prager in verschiedenen deutschsprachigen Kulturen beheimatet zu sein. In seiner Sprache haben sich die schmerzlichen Spuren dieser Suche eingebrannt: «du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen».17 Der Leser, der den Verlockungen des Persönlichen (de Man) schwer widerstehen kann, ist immer wieder versucht, Metaphern der Verse biographisch zu interpretieren:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
[…]
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang:
ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.18

Der Übersetzer von Gedichten gleicht nicht nur einem Schauspieler, sondern auch einem Archäologen, der mit großer Kunst die Fragmente eines Gefäßes zusammenfügt. Jedes Wort zählt in der Arbeit der Übertragung, jedes Zeichen ist eine winzige Scherbe, die im Korpus des Textes seinen richtigen Platz finden muss:

Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß, anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen.19

Ein Gedicht wörtlich zu übersetzen gleicht dem Versuch eines Puzzle-Spielers, alle Teile mit Gewalt identisch machen zu wollen, um sie dann zusammenzusetzen und daraus ein Ganzes zu bilden. Wörtlichkeit verfälscht den Sinn, denn die poetische Sprache soll nicht mitteilen, sondern den Gefühlston übermitteln. Daher: «Wesentlich ist die Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax, und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers.»20

Was Rilke unter Übersetzung verstand, erfahren wir unter anderem aus dem Briefwechsel mit dem Diplomaten Rolf Ungern-Sternberg, dessen Moréas-Übertragung er korrigierte.21 Es ist der Rhythmus, der dem Gedicht Farbe und Individualität gibt. Aber warum hat Rilke überhaupt übersetzt? Die Herausgeber des Bandes VII der Gesammelten Werke, der seine Übertragungen enthält, nennen dafür drei Gründe:22

  • Widerspruch zu bestehenden Übersetzungen am Beispiel der Sonette Michelangelos;
  • Affinität zum fremden Text am Beispiel der «Portugiesischen Briefe der Marianna Alcofarado» und des Sermons «Die Liebe der Magdalena»;
  • vorbereitende Tätigkeit zu neuem Anfang in Zeiten der Schaffenskrise.

In seiner umfangreichen Korrespondenz nimmt Rilke wiederholt Stellung zu seiner Arbeit an den Rime Michelangelos. Man kann diese Übersetzungsarbeit als einzigartig und einmalig in seiner Biographie bezeichnen, weil sie mit Unterbrechungen 10 Jahre währte, also von 1912 bis 1922.

Die erste Erwähnung einer Michelangelo-Übersetzung findet sich in einem Brief vom 7. Februar 1912 an Lou Andreas-Salomé (es geht dabei um ein Sonett an Giorgio Vasari). Im Februar 1923 schreibt Rilke an Paul Morisse, dass er die Arbeit an Michelangelo zugunsten seiner Übertragungen Paul Valérys aufgegeben habe.23 Der Höhepunkt seiner Arbeit an den Rime lag wohl um 1915, wie ein Brief an seinen Verleger Anton Kippenberg belegt.24 Leider ist eine detaillierte Chronologie über die Entstehung dieser Übertragungen weder in den Handschriften noch in den Briefen vorhanden. Dafür finden sich dort viele und bemerkenswerte Charakterisierungen seines Vorhabens. Eine «tâche témeraire» (kühne Herausforderung) nennt es Rilke in einem Brief an Aurelia Gallarati Scotti.25 Als eine «wesentliche Arbeit» neben den Elegien hatte Rilke die Übersetzungen Michelangelos in einem Brief an André Gide bezeichnet.26 Die vielleicht anmutigste Begründung findet sich in einem Brief an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis vom 2. Februar 1914. Rilke sendet ihr eines seiner Gedichte und fügt hinzu: «Beiliegend ein Michelangelo, ich übersetze jetzt manches pour le salut de mon âme».27 Einen ähnlichen Hinweis auf die Übersetzungsarbeit als Bedürfnis der Seele lesen wir in einem Brief an Rudolf Kassner vom 16. Juni 1911 :«Ich halte mir das Herz mit Übersetzen oben.»28

Am 15. Februar 1916 schreibt Rilke, bedrückt von der Perspektive eingezogen zu werden, an Anton Kippenberg:

Sie fragen nach meinen Arbeiten. Das ist fast das ärgste, nein sicher, dass ich vierzehn Tage vor der hiesigen Musterung, bei der dann das Los fiel, in einem rapiden Arbeitsanstieg war, einem Vorsturm von Arbeit, einzelne merkwürdige Gedichte, die Elegien, alles stieg und strömte, und die Michelangelo-Vorräte vermehrten sich von Tag zu Tag in einer mich selbst unbeschreiblich übertreffenden Art. Ich habe nie vorher so starke und genaue und reine Übertragungen aufgeschrieben. 29

Ein wesentlicher Gedanke, der das Verhältnis zwischen dem Autor des primären Textes und dem Übersetzer berührt, findet sich abschließend in einem Brief vom 4. Januar 1922. Aus seinem Walliser Refugium im Château de Muzot geht Rilke noch einmal auf seine Michelangelo-Übersetzung in einem Brief an Ellen Delp ein:

Die herrlichen Sonette Michelangelos zu übertragen, sie wirklich ins Deutsche zu verwandeln, habe ich mir schon vor vielen Jahren, aus Widerspruch gegen die bestehenden Übersetzungen vorgenommen, die voll Unzulänglichkeiten sind, ein Spiel kindischer Reimereien, mit Ausnahme jener wenigen, in denen Hermann Grimm seine stille Meisterschaft erwies. Nein natürlich spreche ich nicht Meiniges in ihnen aus, wenn ich sie meiner Sprache zu fassen gebe; (wer bin ich, dass ich das dürfte). Auch sind sie ja nicht einmal Zeugnisse vom ganzen Dasein Michelangelos; bedenke, welches Nebenamt sie waren, und was für ein Werk neben ihnen sich erhob ins Ungeheuere (: ab und zu sind sie wie ein Grundriß seiner Verhängnisse –und vielleicht der Verhängnisse künstlerischer Hervorbringung überhaupt!) Nimm sie als dies, halt sie weit von mir fort: nicht von meinen Verhängnissen handeln sie. Und wenn ich die meinen versuchte in Sonette zu ordnen, wärs arg: denn ich hätte sonst kein Werk neben mir, das solches Unternehmen überträfe –, selbst wo es ihm recht gäbe.30

III.

Das lyrische Werk Michelangelo Buonarrotis ist bei weitem nicht so bekannt ist wie sein künstlerisches. Die Rime wurden im Jahr 1623 von seinem Neffen Michelangelo il Giovane zum ersten Mal veröffentlicht. Die ersten Gedichte gehen auf das Jahr 1502–1503 zurück und stehen unter dem Einfluss von Dante, Petrarca sowie von Lorenzo il Magnifico und Pulci. Die bedeutende lyrische Produktion beginnt erst im Jahr 1534. Es entstehen in Rom die Gedichte an Tommaso de’ Cavalieri und Vittoria Colonna. Die religiöse Poesie, in einem intimen und weniger schwierigen Sprachmuster geschrieben, wird nach 1547 verfasst. Gedichtet hat Michelangelo bis an das Ende seines langen Lebens.31

Rilkes Stunden-Buch (1899) verdanken wir eine wichtige Charakterisierung des Florentiner Künstlers. Die folgenden Verse, die den Fokus auf die epochale Bedeutung Michelangelos richten, werden einem Mönch in den Mund gelegt:

Das waren Tage Michelangelos,
von denen ich in fremden Büchern las.
Das war der Mann, der über einem Maß,
gigantengroß,
die Unermesslichkeit vergaß.
Das war der Mann, der immer wiederkehrt,
wenn eine Zeit noch einmal ihren Wert,
da sie sich enden will, zusammenfasst.
Da hebt noch einer ihre ganze Last
und wirft sie in den Abgrund seiner Brust.
Die vor ihm hatten Leid und Lust;
er aber fühlt nur noch des Lebens Masse
und dass er alles wie ein Ding umfasse, –
nur Gott bleibt über seinem Willen weit:
Da liebt er ihn mit seinem hohen Hasse
für diese Unerreichbarkeit.32

Michelangelo ist der Riese, der die ganze Last einer Epoche auf seinen Schultern trägt und mit Gott ein Problem hat, wie Rilke. Nicht einfache menschliche Gefühle wie Lust und Schmerz treiben ihn um, sondern die Aufgabe, die Totalität des Seins zu erfassen und in sich zu tragen. Rilkes poetische Stimme artikuliert sich nach den Brüchen der Moderne in dem Bewusstsein, in einer Welt zu leben, die ihre Antworten nicht in Gott, sondern in der Wissenschaft sucht. Von dieser Welt spürt Rilke vor allem die Negativität, die Nichtigkeit. Seine Erfahrung ist die der Verlassenheit. In einer ihrer frühen Schriften artikuliert Hannah Arendt dieses tragische Gefühl so:

Bei Rilke […] ist Nichtigkeit weder Nichtigkeit des Menschen vor Gott, noch Sinnlosigkeit (ohne Gott), sondern das menschliche Sein, sofern es in dieser Welt nicht zu Hause ist und zu jener keinen Zulass findet. Auch hier hängt zwar das menschliche Leben in der Luft, aber nicht deshalb, weil es keinen Gott gibt, sondern weil der Mensch von ihm abgewiesen und verlassen ist.33

Liebe, Tod, Gott: in diesem Horizont vernimmt man die Stimmen von zwei Dichtern, die über Jahrhunderte hinweg und durch die Brechung der Romantik hindurch einander begegnen. Michelangelo lebte in einer unheilbaren Zerrissenheit zwischen der Sinnlichkeit, die ihn an die Materie fesselte, und einer unerfüllbaren Suche nach der Transzendenz. Er selbst ist das eigentliche Objekt seiner Liebeslyrik. Für Rilke heißt «geliebt sein aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit unerschöpflichem Öle. Geliebt werden ist vergehen, Lieben ist dauern.»34 Man denke an die eigenwillige Interpretation der biblischen Parabel vom verloren Sohn im Malte. Der Sohn flieht, weil er nicht geliebt werden möchte. Nicht der Erwiderung, sondern dem Streben und Verlangen gilt vorzüglich das Interesse beider Dichter. Eindringlich bemerkt Thomas Mann in seinem bekannten Essay über Michelangelo: «Dieser große Liebhaber liebt die Liebe mehr als alles Geliebte.»35

Ist es Rilke gelungen, Größe und Tragik einer unverwechselbaren lyrischen Stimme wahrzunehmen und in seine Übertragungen zu gießen? Gewiss hat er die charakteristische Härte der Verse Buonarrotis gemildert und verflüssigt. Wenn wir die treffende Charakterisierung von Walter Binni zugrunde legen,36 der im Blick auf die Rime von einer «Dichtung ohne Gesang» spricht, die Melodie ablehnt und nach Formen sucht, die sich in Spannung und dynamischem Gegensatz entwickeln, verstehen wir die Herausforderung, die Rilke eingegangen ist. Sie ist besonders groß, weil Rilke den Sonetten den Vorzug gegeben hat gegenüber den Madrigalen und den Kampf mit dem engen Korsett des Reims nicht gescheut hat. Der Reim war für Rilke ein außerordentlich wichtiges stilistisches Element. So schreibt er an Baladine Klossowska:

Sagen Sie nichts gegen den Reim! Er ist eine sehr große Gottheit, die Gottheit der sehr geheimen und sehr alten Koinzidenzen, und man darf das Feuer auf ihren Altären niemals erlöschen lassen. Sie ist äußerst launenhaft, man kann sie weder voraussehen noch herbeizitieren, sie kommt wie das Glück, die Hände voll von blumenreicher Erfüllung […] Der wahre Reim ist nicht ein Mittel der Poesie, er ist ein unendlich zustimmendes „Ja“, das die Götter unseren unschuldigsten Gefühlen einem Siegel gleich aufdrücken.37

IV.

Der Übersetzer, der mit einem lyrische Text konfrontiert wird, suggeriert das Bild eines Träumers, der die Szene, die der Dichter geschaffen hat, noch einmal träumt und in seine Sprache transferiert: traduttore come secondo sognatore. Der Leser wird mit einer Begebenheit konfrontiert und er erlebt sie neu, verdichtet und in anderen Sequenzen. In der Übersetzung hat er nun als Leitfaden den Traum, den der Dichter-Übersetzer für ihn geträumt hat. Der Vergleich mit einem Schauspieler und einem Archäologen sollte den Fokus auf einige allgemeine Voraussetzungen der Arbeit eines Übersetzers richten. Der Traumvergleich möchte nun auf die konkrete Arbeit Rilkes eingehen. Die Figur der mythopoietischen Umkehrung zeigt ihr Profil besonders klar in den Übertragungen von Michelangelos Gedichten über die Nacht.38

Der ‹Michelangelo notturno› mit seinen Reflexionen über Schlaf, Traum und Tod scheint Rilke besonders interessiert zu haben. Denn er übersetzt alle vier in verschiedenen Zeiten verfassten Sonette über die Nacht sowie die berühmte Antwort an Carlo Strozzi auf Michelangelos Darstellung der Notte in den Tombe Medicee (G 247).39 Strozzi dichtete:

La Notte che tu vedi in sì dolci atti
dormir, fu da un Angelo scolpita
in questo sasso, e perché dorme ha vita:
destala, se nol credi, e parleratti
.

Michelangelo antwortete:

Caro m’è ‘l sonno e più l’esser di sasso,
mentre che ‘l danno e la vergogna dura;
non veder, non sentir m’è gran ventura;
però non mi destar, deh, parla basso
.

Rilke übersetzt:

Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise
ich, Stein zu sein. Währt Schande und Zerstören,
nenn ich es Glück: nicht sehen und nicht hören.
Drum wage nicht zu wecken. Ach! sprich leise.

Rilkes Übersetzung folgt strikt der metrischen Form des Originals. Sie verwendet die endecasillabi und den Reim nach dem Schema a b b a. Auch das daktylische Versmaß wird übernommen, sodass der flüssige Rhythmus dem Original ähnelt. Doch hat die Übertragung den Text verändert. Michelangelo hat im ersten Vers die beiden entscheidenden figurativen Elemente des Gedichts zusammengefügt «il sonno» (der Schlaf) und die Eigenschaft des Aus-Stein-Seins («l’esser di sasso»). Rilke verstärkt die menschliche Natur der Statue, die konkrete Gefühle spürt (sie lobt ihren Zustand) und bricht durch das Enjambement die konzentrierte Schönheit des Verses. Die ikastische Kraft des dritten Verses Michelangelos «non veder non sentir m’è gran ventura» wird geschwächt durch die explizit erklärende Formulierung «nenn ich es Glück: nicht sehen und nicht hören». Eigenwillig erscheint die Übersetzung von «ventura» mit «Glück». In den schweren Zeiten, die Florenz erschüttern, spielt die lenkende Macht des Schicksals eine dramatische Rolle. Das Lexem «ventura», eine danteske Reminiszenz, hat eine Konnotation, die von der Bedeutung von Glück abweicht. «Ventura» weist auf eine offene Zukunft hin, die Keime von Hoffnungen und tragischen Umwälzungen in sich trägt. Der Schlaf ist ein sakraler Zustand, der Wege zur göttlichen Inspiration öffnet. Der moderne Dichter hat die starke symbolische Bedeutung der Renaissance-Darstellung subjektiviert und verinnerlicht.

Über Michelangelos Verständnis von Traum, Schlaf und Kreativität gibt eine Zeichnung Auskunft, die auch für das lyrische Werk von eminenter Bedeutung ist. Diese Zeichnung (Il Sogno), die vermutlich 1533 als Geschenk für den jungen Freund Tommaso de’ Cavalieri entstand, stellt ein Kompendium von philosophischen, theologischen und auch ästhetischen Gedanken dar. Sie zeigt einen schlafenden jungen und kräftigen Mann, der von einem Engel oder Genius geweckt wird, der ihm eine Trompete an die Stirn hält. Wie ein Kranz umkreisen Bilder die nackte Figur, die traditionell als Darstellungen von Lastern und Tugenden interpretiert wurden. Der Mann sitzt auf einer Kiste, in der Masken aufbewahrt werden. Wie Maria Ruvoldt gezeigt hat,40 zeigt die imagery von Il Sogno figurative Elemente, die mehrere Bedeutungsschichten miteinander verknüpfen:

  1. Der Traum ist eine Metapher für die Kreativität der Kunst. Die Tradition der Renaissance sieht im Traum eine Quelle der göttlichen Inspiration, eine Reise der Seele, die – vom Leib befreit – imstande ist, im Traum mit Gott zu kommunizieren. Der Traum ist ein Produkt des inneren Auges, eine Wahrnehmung, die spiritueller Natur ist und nur bedingt aus der sinnlichen Erfahrung stammt. Somit weist der Sogno auf die Kraft der göttlichen Inspiration der Kunst hin.
  2. Dennoch ist der Glaube an den Primat der visione interiore gegenüber der äußeren Wahrnehmung und ihre Interpretation als göttliche Inspiration nicht imstande, dem Geschehen seine Ambiguität zu nehmen. Eine ikonologische Lösung wird durch die Präsenz von Theatermasken suggeriert. Sie sollen auf die potenziell trügerische Natur der Träume hinweisen.
  3. Einen wesentlichen Beitrag zur Interpretation und zum Verständnis der literarischen Arbeit Michelangelos liefern die intertextuellen Bezüge im Sogno. Michelangelo, der in dieser Zeit vermutlich am Giudizio Universale arbeitete, befand sich im Bann des Einflusses von Dante. In den nicht deutlich gezeichneten Figuren, die den deutlich konturierten Mann umrahmen, kann man eine Anspielung auf die Divina Commedia sehen. In den Gestalten, die die Versuchungen des Fleisches darstellen sollen, wird Dantes gewaltiger Entwurf suggeriert. Kunsthistoriker haben außerdem im Sogno mehrere Zitate erkannt, die aus Michelangelos eigenen bildnerischen Werken stammen; vielleicht erklären sie sich durch die Absicht, den geliebten Tommaso de’ Cavalieri zeichnerisch zu inspirieren.

Im literarischen Diskurs Michelangelos kommt der Nacht eine wesentliche Funktion zu: Sie ist Sinnbild der Begegnung von Jenseitigem und Diesseitigem. Der Florentiner verwandelt und formt die neuplatonische Lehre Ficinos um, gibt ihr eine humanistische und christliche Färbung und verbindet sie mit seinen originellen ästhetischen Intuitionen. Die Nacht fasziniert den Künstler mit ihren mythischen Eigenschaften als Sinnbild der Mutter Erde, als begehrende und schützende Göttin. Die Nacht ist die Kraft der Dunkelheit, die dem Licht entgegenwirkt, nicht um über es zu siegen, sondern um es zu ergänzen, weil beide in einem mystischen Verständnis wesensgleich sind. Die Nacht vermag schließlich symbolisch ein Fenster zum Ich zu öffnen.

Die vier der Nacht gewidmeten Sonette, die Rilke übersetzt, sind komplexe, dichte Texte. Zu Unrecht nennt sie Hugo Friedrich, vor allem auf die konzeptualistische Ausformung des Ausdrucks hinweisend, «das Abseitigste seiner Dichtung».41 Erschwert wird die Interpretation dadurch, dass die genaue Entstehungszeit der Kompositionen nicht eindeutig belegt ist.42

Das Sonett G 101 ermöglicht eine erste Bestimmung der Nacht. Ihre Wahrnehmung führt zu einem Irrtum: Aus menschlichem Unwissen wird ihr Wesen verkannt. So heißt in der ersten quartina:

Perché Febo non torce e non distende
d’intorn’ a questo globo freddo e molle
le braccia sua lucenti, el vulgo volle
notte chiamar quel sol che non comprende.

Von Rilke kennen wir zwei Übertragungen.43 Nanny Wunderly hatte die in der Druckfassung GW VI später erschienene Version, hier (a), «weniger schön und unrilkisch» gefunden. Hier die beiden Fassungen:

(a)

Weil Phöbus nicht die Arme schränkt und streckt, die leuchtenden, um
dieses Balls Erkalten
so ist das Volk bereit, für Nacht zu halten
die Sonne, die sein Einsehn nicht entdeckt.

(b)

Weil Phöbus nicht die Arme streckt und dreht
den kalten nassen Weltball zu umfassen
nennt der gemeine Mann, vom Lich verlassen,
Nacht jene Sonne, die er nicht versteht.

Der Vergleich verrät einiges über Rilkes Übersetzungsstrategie. Die zweite (b)44, sicher glattere und anmutigere Version, ist nicht unproblematisch. Sie opfert das Prädikat der Sonne «leuchtend» und verzichtet auf die Rilke sonst so wichtige Form der Alliteration. Dafür versäumt der abstrakte Ausdruck «des Balls Erkalten» (a) die Intention, das Bildmaterial der kosmischen Metapher «freddo e molle» in die menschliche Sphäre zu transponieren. Dem Original näher erscheint die Formulierung in (b) «kalter, nasser Erdball». Michelangelos Vers 4 hat die Forschung verschieden interpretiert. Soll gesagt werden, dass das Volk nicht versteht, dass die Nacht, wie es den Mystikern bereits vorschwebte45, auch Licht ist, aber doch unheimliches schwarzes Licht, das unsere Sinne nicht wahrnehmen? Oder einfacher: Nacht ist jene Sonne, welche die Sonne in ihrem Licht nicht umfasst?

Die Zentrum des Gedichts bildet die zweite quartina. Sie beschreibt die Nacht als ein schwaches und gefährdetes Geschöpf. Die Nacht ist «debole» und «folle» (im Sinne von «leggera», dt. «leichtsinnig», «leichtfertig»), nicht nur die Sonne, sondern auch eine Fackel oder ein Schuss können sie um ihr Leben bringen. Sie ist «vedova, scura» und «in tanta gelosia», also verletzlich wie eine empfindliche Pflanze46, sodass ein Glühwurm sie gefährdet. Was sie wirklich ist, lässt sich nicht mit Gewissheit bestimmen.

E s’egli è pur che qualche cosa sia,
cert’è figlia del sol e della terra;
ché l’un tien l’ombra, e l’altro sol la cria.

(a)

Wenn nicht ihr Dasein völlig fraglich wird
muß sie von Phöbus und der Erde stammen;
er zeugt den Schatten, sie hält ihn zusammen.

(b)

Gibt man nun zu, sie sei das, was sie däucht:
So ists ein Kind des Lichtsgotts und der Erde,
die nur den Schatten trägt, den jene zeugt.

Beide Übertragungen der ersten terzina verändern den Sinn des Originals. Denn Michelangelo nennt auch die Erde eine Sonne. Sie vermag den Schatten, den die Sonne gebiert, in sich selbst aufzubewahren. Man versteht das Gedicht, das um das zentrale Thema der Verletzlichkeit der Nacht kreist, besser, wenn man sich ihre symbolische Bestimmung in Erinnerung ruft. Sie ist: «ombra del morir»47. Der Schatten erscheint als das wahre Subjekt des Gedichts, das so eine transzendente Bedeutung erhält, wie sie in den ersten Versen suggeriert wurde.

In seinem bekannten Essay über Rilkes Tropen48 bezeichnet Paul de Man den Chiasmus als durchgängige rhetorische Figur in Rilkes Dichtung. Sie bildet eine Art Grundmodell für de Mans dekonstruktivistische Lektüre, der die poetische Aufwertung der Signifikanten gegenüber den Signifikaten zugrunde liegt.49 Die Welt der Dinge, die aus Objekten besteht, gleiche einer substanzlosen Masse, die durch die Umkehrung strukturiert wird. Diese Umkehrung soll aber zu einer neuen Totalisierung führen.50 Die Lyrik Michelangelos ist von harten Gegensätzen geprägt, deren Metaphorik sich nicht selten des Chiasmus bedient. Es mag verwundern, dass diese Figur in der Übersetzung nicht klar herausgearbeitet wird bzw. dass sie jedenfalls keine strukturelle Funktion zu haben scheint. Rilke klärt und harmonisiert die Texte. Geht dabei die Dramatik auf Kosten des Reims und des Wohlklangs verloren? Im Sonett G 101 tauschen also Tag und Nacht ihre Prädikate. Die glänzende Sonne teilt ihre Natur mit der dunklen Nacht, sie ist selbst dunkles Licht. Die Nacht ist eine mythische, aber gefährdete Größe, ihre göttliche Gestalt («sue specie dive») wird Opfer der Sonne, aber auch niedrige Wesen bedrohen sie.

Der Nacht als trächtigem, bergendem Wesen, das der Sonne in kühner Antithese gegenübertritt, ist das Sonett G 103 gewidmet. Im kosmischen Geschehen erscheinen auch Natur und Mensch als antinomisch.

Quel che resta scoperto al sol, che ferve
per mille vari semi e mille piante,
il fier bifolco con l’aratro assale;

Die Natur, metaphorisch als quel che resta scoperto al sole apostrophiert, blüht wie ein fruchtbarer Frauenleib in tausend Formen, ist aber dem brutalen Angriff des Bauern ausgeliefert. Rilke übersetzt

(a)

Was offen bleibt der Sonne, die den ganzen
Boden entbrennt, daß er gewaltig trage,
das greift der stolze Ackrer pflügend an.

Der Angriff des bifolco, dem das zweideutige Prädikat fiero («stolz», aber auch «roh») zugeordnet wird, wird in der Übersetzung positiv gewertet; sein Handeln dient dazu, Ertrag zu erzielen. Anders im Original, wo er eine Schändung zu vollziehen scheint. Wird die Natur idealisiert und verehrt wie eine heidnische Fruchtbarkeitsgöttin? Die letzte terzina nimmt die Umwertung vor.

ma l’ombra sol a piantar l’uomo serve.
Dunche, le notti più ch’e’ dì son sante,
quanto l’uom più d’ogni altro frutto vale.

Der schwachen Nacht, nicht dem mächtigen Tag gebührt der Sieg, denn in der Nacht wird der Mensch gepflanzt. Doch lässt der kühne Rückgriff auf das Verbum «piantare» für die Zeugung des Menschen aufgrund seiner naturalistischen Valenz aufhorchen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf «ombra». Der Akzent liegt zweifelsohne auf dem Schatten: Er erzeugt den Menschen, der wertvoller ist als jede Frucht. Der Primat des Menschen über die Natur ist fest in der Weltsicht Michelangelos verankert. Sie ist auch durch die gänzliche Abwesenheit der Landschaft in seiner Malerei bezeugt. Zweifellos zählt für Michelangelo der Mensch und nicht die Natur. Die Verwendung von «piantare» als Metapher für den generativen Vorgang bekommt im Sonett einen beunruhigenden Akzent. Der Sinn der Metapher wird in der Schwebe gehalten. Das Verständnis der Nacht ist nicht eindeutig konnotiert: Sie ist als Tochter der Sonne und der Erde gleichzeitig ein aktives und passives Prinzip.

Rilkes Übertragung liegt nah am Text und doch hat die verschiedene Situierung der Lexeme im Kontext die Szene verändert.

Der Mensch ist nur im Schatten gut zu pflanzen.
So sind denn Nächte heiliger als Tage,
weil keine Frucht so viel ist wie ein Mann.

Der Hauptakzent ist vom Schatten, dem nun eine Nebenrolle zukommt, auf den Menschen verlegt worden. Dadurch geht in der Übersetzung die unerhörte Kraft verloren, mit der der Mehrwert des Menschen gegenüber der Natur verkündet wurde. Etwas von der Dramatik, die die humanistische Fixierung des Renaissance-Künstlers auf den Menschen geleitet hat, geht verloren. Die Natur, für eine kurze Weile im Licht der Sonne als Idylle präsentiert, ist lediglich als Schatten wertvoll. In dem komplexen Spiel von terzine und quartine scheint Michelangelo den Chiasmus in der Art zu verwenden, wie ihn de Man definieren wird: als entscheidend strukturierende stilistische Figur. Rilke folgt ihm nur zögerlich auf diesem Weg. Die nicht ganz geglückte chiastische Gegenüberstellung zwischen Mensch und Mann fügt keine semantische Bereicherung hinzu. Auch wirkt sich die erklärende Art störend auf die drastische bildliche Darstellung aus.

Öffnet die Symbolik der Nacht auch ein Fenster zum Ich? Einen Zugang zu dem Thema bietet das Sonett 104, ein Text, bekannt vor allem durch die prägnante Selbstdeutung des lyrischen Ich, das sich als creatura notturna definiert: «E a me consegnaro il tempo bruno / come simil nel parto e nella cuna». Um den Gedanken der Affinität zwischen Mensch und Dunkelheit plastisch auszudrücken, rekurriert der Text auf christliches Gedankengut. Das Spiegelbild bietet ein wichtiges Deutungselement. Das lyrische Ich ist gespalten; und so wie ein Schauspieler, der eine Rolle spielt, projiziert es eine Figur seines Selbst nach außen. Sie ist eine Karikatur jenes sündigen Ich, das, wenn die Nacht dunkler wird, immer tiefer in den Abgrund sinkt.

E come quel che contrafà se stesso,
quando è ben notte, più buio esser suole,
ond’io di far ben mal m’affliggo e lagno.

Und so wie einer, der sich selber äfft,
noch dunkler wird, wenn schon die Nacht genügte,
beklag ich noch mein schwärzliches Geschäft.

Wie ein Mime versucht das Ich sich selbst nachzuahmen: «contrafà» bedeutet sowohl «copiare» als auch «alterare, caricare». Blaise Pascals moi haïssable befindet sich in einer scheinbaren Harmonie mit der Natur, deren Rhythmus es folgt. Wie sie geht sein Weg nach unten. Das Schlussterzett kippt durch eine radikale Umwertung diese Harmonie. Die Sonne ist die Macht, die «l’oscura notte» des lyrischen Ich zu verklären vermag: «far giorno chiar mia oscura notte».

Schwer zu lösen ist die Aufgabe bei «ben notte» und «ben male». Diese Vergrößerungsformen, die nicht zufällig gewählt wurden, um die Begriffe in eine innere Beziehung zu setzen, sind schwer auf Deutsch wiederzugeben; das gilt auch für die beiden auf verschiedene Stimmungen eingehenden Verben «m’affliggo» (ich bin betrübt) und «lagno» (ich klage). Dabei ist viel von der Spannung der kontrastierenden Gefühle und deren Dramatik im Kampf zwischen Tag und Nacht verloren gegangen.

V.

Schauspieler, Archäologe, Träumer? Ein vierter Vergleich drängt sich geradezu auf. Der Übersetzer kann auch mit einem Liebhaber verglichen werden, der von der Furcht bedrängt wird, seine Identität zu verlieren. Michelangelos Madrigale bieten einen leichteren Zugang zum Motiv des Verlustes des Selbst, den die Liebe verschuldet, als das Sonett – eine Form, die Rilke wegen ihrer Strenge, aber auch wegen der thematischen Konzentration auf ein schmerzliches, meist hoffnungsloses Verlangen dennoch bevorzugte. Rilke übersetzte zirka 40 Sonette, aber nur wenige Madrigale.

Berühmt sind diese Verse des Florentiners, die Rilke allerdings nicht in seine Übertragungen aufnimmt (G 8, vv. 1–6):

Come può esser ch’io non sia più mio?
O Dio, o Dio, o Dio,
chi m’ha tolto a me stesso,
c’a me fusse più presso
o più di me potessi che poss’io?
O dio, o Dio, o Dio
[...]

Rilke zieht ein Madrigal Michelangelos für Vittoria Colonna (G 235) vor und übersetzt:

Un uomo in una donna, anzi uno dio
per la sua bocca parla,
ond’io per ascoltarla
son fatto tal che ma’ più sarò mio.
I’ credo ben, po’ ch’io
a me da lei fu’ tolto,
fuor di me stesso aver di me pietate;
sì sopra ’l van desio
mi sprona il suo bel volto,
ch’i’ veggio morte in ogni altra beltate.
O donna che passate
per acqua e foco l’alme a’ lieti giorni,
deh, fate c’a me stesso più non torni.

Ein Mann aus einer Frau, ein Gott sogar
spricht da durch ihren Mund.
Ich höre es und
kann nie mehr wieder mein sein, wie ich’s war.
Ich meine, sonderbar
aus mir hinausgerückt,
von außen Mitleid mit mir selbst zu fassen.
Weit über leerer Lust Gefahr
hat mich ihr Angesicht entzückt
und andrer Schönheit nur den Tod gelassen.
O Herrin, Gassen
ins Frohe öffnende durch Flut und Feuermeere,
gib, daß ich nie mehr in mich selber wiederkehre.

Der Rhythmus des Madrigals, einer Form, die freier als das Sonett ist und durch ihre Nähe zu Gesang und Musik melodiöser wirkt, ist metrisch durch den Wechsel zwischen endecasillabi und settenari charakterisiert. Die Reime wiederholen sich oft. Gewiss entspricht diese Gattung der Musikalität der rilkeschen Poesie besser, dennoch scheint der Dichter die strenge Form des Sonetts zu bevorzugen. Die Übertragung des Madrigals offenbart die Schwierigkeit, welche die Reime «io», «mio», «dio» darstellen. Sie sind im Deutschen schlicht nicht mit einem Reim wiederzugeben.

Die ersten Verse dieses der verehrten Freundin und Dichterin Vittoria Colonna gewidmeten Gedichts, sind wörtlich übersetzt. Der platonischen und christlichen Tradition geschuldet ist die für einen modernen Leser befremdliche Vorstellung eines männlichen oder sogar göttlichen Geistes in einem Frauenkörper.51 Dann entfernt sich die Übersetzung spürbar vom Original. Die Botschaft des Madrigals ist: Die Schönheit der Frau beraubt das lyrische Ich seiner selbst. Es wird sich nicht mehr gehören. Aus sich selbst herausgerückt, hat es Mitleid mit sich selbst und verachtet die tödliche Schönheit anderer Frauen.

Der italienische Text meint: il suo bel volto mi sprona a superare, cioè ad andare oltre i vani desideri, auf Deutsch: Ihr schönes Gesicht spornt mich an, die vani desideri (das eitle Begehren) zu überwinden. Rilke gibt etwas manieristisch diesen Gedanken wieder: das Gesicht «entzückt»; die «vani desideri» werden mit der «Gefahr» einer «leeren Lust» in Verbindung gebracht. Es sind aber die Verse 11 und 12, die sich vom Original am deutlichsten entfernen. Cesare Guasti paraphrasiert (Madrigal 57): «O donna, che per mezzo dell’acqua e del fuoco (cioè del pianto e dell’amore) incamminate le anime alla vita beata».52 Also die Herrin führt die Seelen durch Wasser und Feuer ins Paradies. Bei Rilke öffnet die Herrin Wege ins Frohe durch Flut und Feuermeere. Das pittoreske Bild entbehrt der Intensität und Konzentration des Originals und macht die Metapher des Wassers und des Feuers unverständlich. Auch wenn man diese Figuren nicht als «pianto» und «amore» interpretiert – eine an Dante angelehnte religiöse Konnotation vibriert in den Zeilen. Denn Wasser und Feuer sind in der christlichen Tradition mit virtuellen Bedeutungen befrachtet. Im sehnlichen Wunsch des lyrischen Ich (im Schlußvers), nicht mehr zu sich selbst wiederzukehren, spitzt sich die Erfahrung einer schmerzlich empfundenen offenen Wunde zu.

Auch in einem weiteren Madrigal (G 7), einem Liebesgedicht vermutlich für Tommaso de’ Cavalieri, beklagt das lyrische Ich sein Ausgeliefertsein an die Macht der Liebe, die ihn fesselt, und bittet um Schutz.

Chi è quel che per forza a te mi mena,
oihmé, oihmé, oihmé
legato e stretto, e son libero e sciolto?
Se tu incateni altrui senza catena,
e senza mane o braccia m’hai raccolto,
chi mi difenderà dal tuo bel volto?

Wer ists, der mit Gewalt mich zu dir führt,
o wehe, wehe, wehe,
gefesselt fest; ich bin doch lose nicht?
Wenn deine Macht mich ohne Schnur verschnürt
und ohne Hand und Arme mich umflicht,
wer wird mich schützen, wider dein Gesicht?

Im Madrigal hat Rilke die Zahl der Endreime des Originals strikt behalten. So haben wir bei Michelangelo: «mena»/ «catena» (1, 4) sowie «sciolto»/ «raccolto»/ «volto» (3, 5, 6) und bei Rilke: «führt»/ «verschnürt» (1, 4) sowie «nicht»/ «umflicht»/ «Gesicht» (3, 5, 6). Und doch entfernt sich die Übersetzung gerade durch die Konnotation der Reimworte erheblich. Betrachten wir das erste Paar: «mena» und «catena». «Menare» (im Sinne von «führen») ist ein aus Dante vertrauter Ausdruck. Ich erinnere: «guardai in alto e vidi le sue spalle/ vestite già de’ raggi del pianeta/ che mena dritto altrui per ogne calle» (Inf. I, 16–18). Auffallend auch die Verwendung von «altrui» (allgemein für «Menschen») in Vers 4. Gerade durch die danteske Anspielung suggeriert die italienische Form die Wirkung einer inneren mehr als einer äußeren Kraft, die durch das Lexem «Gewalt» nicht exakt ausgedrückt wird. Rilke versucht zwar durch «Macht» im Vers 4 das metaphorische Bild der Gewalt von Vers 1 wieder aufzunehmen, aber gerade dieser Vers trifft nicht den Gefühlston des Madrigals von Michelangelo. Eine «catena» ist im Italienischen keine Schnur, sondern vielmehr eine eiserne Kette, mit der man Gefangene fesselt. Ein fast obligatorischer Vergleich führt zu den berühmten Statuen der Prigioni, die sich heute in der Galleria dell’Accademia in Florenz befinden. Gewiss sind bei den Sklavengestalten keine Ketten sichtbar, der Kampf der Figuren beim Versuch, sich der Materie zu entledigen, drückt aber die ganze gebannte Kraft einer unendlichen Begierde aus. In den Schlussversen in rima baciata vermisst der Leser mit Befremden die feine Erotik Michelangelos. Die italienischen Verse vermitteln das Bild eines abbraccio amoroso («m’hai raccolto»), wenn auch ohne Hilfe der Glieder. Schmerzlich entbehrt der Leser außerdem das Beiwort «bello» («bel volto»), in dem sich das Echo der platonischen Liebe entfaltet. Und dennoch: Wenn Rilkes Version das Original auch verändert hat, so ist doch Poesie entstanden. Der Vergleich hat den Weg zu dieser Einsicht geebnet. Dies gilt – so glaube ich – für fast alle von Rilke übersetzten Gedichte Michelangelos.

Rilkes Œuvre wird seit je eine existentielle Bedeutung zugeschrieben. Viele haben ihn in der Hoffnung gelesen, in seinen Versen eine rettende Botschaft für die Seele zu finden. So sagt de Man:

Rilke scheint über die Heilkraft jener verfügt zu haben, die einen Zugang zu den verborgenen Schichten unseres Bewusstseins öffnen oder zu einem Feingefühl, die denen, die imstande sind, seinen Schatten wahrzunehmen, das vertrauenerweckende Bild ihrer eigenen Unruhe widerspiegelt.53

Selbst schwer übersetzbar54, hat er vermutlich in der Übersetzungskunst zwar nicht die Spur seiner Verhängnisse verfolgt, aber vielleicht wie ein begnadeter Schauspieler auf der Bühne eine kritisch distanzierte Identifizierung mit sich selbst gesucht. Dafür boten ihm die Rime Michelangelos ein ideales Terrain. Vielleicht war gerade die Dunkelheit einer Dichtung, die antinomisch gekreuzte Bilder mit einer nie zu stillenden Unruhe versahen, die an das non finito seines darstellenden Werks denken lässt, eine immer sprudelnde Quelle für Rilkes kreative Suche.

Schauspieler, Träumer, Archäologe, Liebhaber. Vor allem die erste Figur bringt Dichter und Leser einander näher. Denn das Moment des Selbsterkennens im fremden Werk stellt, wie ich zu zeigen versucht habe, eine wesentliche Etappe im Prozess der Übertragung dar. «Übersetzung ist ein nach innen gerichtetes Gespräch», ein – wie Steiner sagt – «Hinabsteigen auf Montaignes Wendeltreppe des Selbst».55 Gleichzeitig aber führt sie auf eine Bühne, auf der Dichter und Leser in einen kreativen Prozess hineingezogen werden. Der Übersetzer-Dichter vollzieht den Akt der Schöpfung neu und der Leser wird wie im Theater mit zwei verschiedenen Identitäten konfrontiert. In seinem Inneren entsteht das Gedicht in neuer Form, gefiltert durch seine Kultur und seine Emotionalität. Er erfreut sich an Bildern, die in der eigenen Sprache familiär und dennoch fremdartig klingen. Auf dieser Bühne werden Poet und Leser miteinander verbunden, sie sind beide Akteure, Protagonisten im Spiel des Geistes.

Anhang:
Michelangelos Sonette an die Nacht – Rilkes Übersetzung

Sonetto G 101

Perché Febo non torce e non distende
d’intorn’ a questo globo freddo e molle
le braccia sue lucenti, el vulgo volle
notte chiamar quel sol che non comprende.

E tant’è debol, che s’alcun accende
un picciol torchio, in quella parte tolle
la vita dalla notte, e tant’è folle
che l’esca col fucil la squarcia e fende.

E s’egli è pur che qualche cosa sia,
cert’è figlia del sol e della terra;
ché l’un tien l’ombra, e l’altro sol la cria.

Ma sia che vuol, che pur chi la loda erra,
vedova, scura, in tanta gelosia,
c’una lucciola sol gli può far guerra.

Weil Phöbus nicht die Arme schränkt und streckt,
die leuchtenden, um dieses Balls Erkalten,
so ist das Volk bereit, für Nacht zu halten
die Sonne, die sein Einsehn nicht entdeckt.

Doch sie ist schwach, fällt es nur einem bei,
nimmt er an jener Stelle ihr das Leben
mit einem Lichtstumpf; nicht recht klug daneben,
denn Stein und Feuerschwamm reißt sie entzwei.

Wenn nicht ihr Dasein völlig fraglich wird
muß sie von Phöbus und der Erde stammen;
er zeugt den Schatten, sie hält ihn zusammen.

Sei sie wer immer, wer sie lobt, der irrt;
verwitwet, schwarz, in solchen Ängstlichkeiten,
daß schon ein Leuchtwurm reicht, sie anzustreiten.

Sonetto G 102

O notte, o dolce tempo, benché nero,
con pace ogn’ opra sempr’ al fin assalta;
ben vede e ben intende chi t’esalta,
e chi t’onor’ ha l’intelletto intero.

Tu mozzi e tronchi ogni stanco pensiero;
ché l’umid’ ombra ogni quiet’ appalta,
e dall’infima parte alla più alta
in sogno spesso porti, ov’ire spero.

O ombra del morir, per cui si ferma
ogni miseria a l’alma, al cor nemica,
ultimo delli afflitti e buon rimedio;

tu rendi sana nostra carn’ inferma,
rasciughi i pianti e posi ogni fatica,
e furi a chi ben vive ogn’ira e tedio.

O Nacht, zwar schwarze, aber linde Zeit,
mit Frieden überwindend jedes Streben,
wer recht sieht und versteht, muß dich erheben,
und wer dich ehrt ist voll Verständlichkeit.

Du brichst das matte Denken ab, zersägst
und nimmst es ein mit feuchter Ruh und Schwere,
während du mich, wohin ich oft begehre,
in Traum von unten ganz nach oben trägst.

Schatten des Sterbens, nur vor dir macht halt,
was Herz und Seele feind ist, immer wieder;
letzte, Bedrückten, gute Arzenei.

Du heilst die schwache fleischliche Gestalt,
machst Tränen trocknen, legst das Müde nieder,
und Zorn und Ekel geht durch Dich vorbei.

Sonetto G 103

Ogni van chiuso, ogni coperto loco,
quantunque ogni materia circumscrive,
serba la notte, quando il giorno vive,
contro al solar suo luminoso gioco.

E s’ella è vinta pur da fiamma o foco,
da lei dal sol son discacciate e prive
con più vil cosa ancor sue specie dive,
tal c’ogni verme assai ne rompe o poco.

Quel che resta scoperto al sol, che ferve
per mille vari semi e mille piante,
il fier bifolco con l’aratro assale;

ma l’ombra sol a piantar l’uomo serve.
Dunche, le notti più ch’e’ dì son sante,
quanto l’uom più d’gni altro frutto vale.

Ein jeder hohle, eingeschloßne Ort,
woraus auch immer seine Wände seien,
bewahrt die Nacht vor jedem Tag im Freien
und hält von ihr das Spiel der Sonne fort.

Die Sonne freilich dringt als Überwinder
mit Flammen ein; doch selbst dem Mangelhaften
weichen der Nacht göttliche Eigenschaften,
ein Glühwurm schon durchbricht sie mehr und minder.

Was offen bleibt der Sonne, die den ganzen
Boden entbrennt, daß er gewaltig trage,
das greift der stolze Ackrer pflügend an.

Der Mensch ist nur im Schatten gut zu pflanzen.
So sind denn Nächte heiliger als Tage,
weil keine Frucht so viel ist wie ein Mann.

Sonetto G 104

Colui che fece, e non di cosa alcuna,
il tempo, che non era anzi a nessuno
ne fe’ d’un due e diè ’l sol alto all’uno,
all’altro assai più presso diè la luna.

Onde ’l caso, la sorte e la fortuna
in un momento nacquer di ciascuno;
e a me consegnaro il tempo bruno,
come a simil nel parto e nella cuna.

E come quel che contrafà se stesso,
quando è ben notte, più buio esser suole,
ond’io di far ben mal m’affliggo e lagno.

Pur mi consola assai l’esser concesso
far giorno chiar mia oscura notte al sole
che a voi fu dato al nascer per compagno.

Der, welcher, nicht aus irgend einem Dinge,
die Zeit erschuf, die vorher war für keinen,
teilte sie so, daß hier die Sonne ginge,
und nahe neben hat der Mond zu scheinen.

Sofort entstand aus jedem Boden brechend,
Geschick und Zufall auf den beiden Seiten,
und mir bestimmte man die Dunkelheiten,
meiner Geburt und Wiegenzeit entsprechend.

Und so wie einer, der sich selber äfft,
noch dunkler wird, wenn schon die Nacht genügte,
beklag ich noch mein schwärzliches Geschäft.

Doch ward mir Trost gewährt: es tagt mir heiter,
seit sich zu meiner Nacht die Sonne fügte,
die dir gegeben wurde zum Begleiter.

  1. Hans-Georg Gadamer, Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien, in: Kleine Schriften II: «Ich bezeichnete es als die mythopoietische Umkehrung, dass der Ausleger das auf diese Weise dichterisch Hinausgespiegelte zurückübersetzt in die eigenen Begriffe des Verstehens.» Tübingen 1967, S. 208.
  2. Francesco De Sanctis, Leopardi e Schopenhauer, in: Saggi critici, vol. V, pp. 246–299, Napoli 1909, S. 298.
  3. Vgl. Franca Janowski: «Zwiesprache mit der Unendlichkeit: Leopardi und Rilke eine Begegnung», in: Horizonte – Neue Serie IV (2019), https://horizonte-zeitschrift.de/de/article/zwiesprache-mit-der-unendlichkeit-leopardi-und-rilke-eine-begegnung
  4. Tiefgründig und inspirierend die Überlegungen von Marisa Bulgheroni zur Übersetzung eines Sonetts von Shakespeare durch Montale: «Questa singolare congenialità ha conseguenze dirette sulla traduzione di Montale: la resa del tessuto fonico-ritmico dell’originale è subordinata alla ri-produzione delle sue matrici mitiche e ideologiche. Come l’oggetto di un sogno sognato due volte, l’evento centrale della poesia – lo scatenarsi del temporale – viene ri-prodotto dal traduttore – il secondo sognatore nel codice linguistico di cui dispone ed enunciato secondo una diversa sequenzialità che ne altera i caratteri di mitema radicato in una certa epoca e in una certa cultura. Le distorsioni imposte al senso dalla “logica” dei significati della nuova lingua – non l’italiano soltanto, ma la montaliana – agiscono sull’originale come, nel sogno, le dislocazioni e le collocazioni operate dall’inconscio del dormiente agiscono sul materiale onirico. La scena del testo ne risulta diversamente assestata, ed è nel nuovo assestamento che si compie l’atto di appropriazione, e in esso, grazie ad esso, di esecuzione oggettiva che riconsegna il testo al ciclo infinito della significazione.» Vgl.: Marisa Bulgheroni, «Dickinson/Montale: il passo sull’erba», in: Eugenio Montale, a cura di A. Cima e C. Segre, Milano 1996, S. 84.
  5. Robert J. Clements, The Poetry of Michelangelo, London 1965, S. 177.
  6. Dem Problem des Ich im Gedicht hat Susanne Gramatzki eine gründliche Arbeit gewidmet. Ihr strukturalistischer Ansatz untersucht den Zusammenhang zwischen Subjektivität und Fragmentarizität in den Rime Michelangelos. Susanne Gramatzki, Zur lyrischen Subjektivität in den Rime Michelangelos Buonarrotis, Heidelberg 2004.
  7. Massimo Morasso, Rilke feat Michelangelo, introduzione di Davide Rondoni, Forlì 2017 (Cover).
  8. Edoardo Esposito, Con altra voce. La traduzione letteraria tra le due guerre, Roma 2018, S. 55.
  9. Walter Benjamin: «[Die Aufgabe des Übersetzers] besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird.» In: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, hrsg. von S. Unseld, Frankfurt/M. 1961, 56–69, S. 63.
  10. Rolf von Ungern-Sternberg an Rilke, Brief vom 31. Mai 1922, S. 102. In: Rainer Maria Rilke. Briefe, Frankfurt/M., Leipzig 2002.
  11. Zit. nach George Steiner, Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, Frankfurt/M. 2014, S. 372.
  12. So behauptet Robert J. Clements: «Among the German translators, my own preference continues to be Rilke, and it is to be regretted that during the many years he devoted to his Dichtungen des Michelangelo (ca. 1914–23) he was unable to translate the whole corpus available to him in the Frey edition, which he utilised.» Clements, zit., S. 335f.
  13. Vgl. Notizen von Carl J. Burckhardt in: Ein Vormittag beim Buchhändler, München 1986.
  14. Vgl. Stanislawski Reader. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und an der Rolle, ausgewählt und herausgegeben von Bernd Stegemann, Leipzig 2001.
  15. Ebd., S. 90.
  16. Steiner, zit., S. 375.
  17. Rainer Maria Rilke, Das Buch vom mönchischen Leben, in: Gesammelte Werke, Band I, hrsg. von Annemarie Post-Martens und Günther Martens, S. 22 (im Folgenden GW).
  18. Ebd., S. 9.
  19. Benjamin, zit., S. 65.
  20. Ebd., S. 66.
  21. Vgl.: Rainer Maria Rilke, Briefwechsel mit Rolf von Ungern-Sternberg und weitere Dokumente, 2002, S. 8. Im Vorwort heißt es: «Vorgenommen hatte er sich für den Anschub des Arbeitswinters auf Berg die Wiederaufnahme seiner Michelangelo-Übertragungen, die ihn schon einmal zu Elegien geführt hatten. Doch waren es dann nicht diese, sondern Übertragungen aus dem Französischen, auf die er sich konzentrierte. Der briefliche Austausch mit Ungern-Sternberg, in dem Rilke wie sonst nirgendwo das Credo seines eigenen Übersetzens deutlich werden lässt, dürfte dazu beigetragen haben.»
  22. Nachwort der Herausgeber, Band VII der sämtlichen Werke, Tübingen 1997, S. 1355. Die im Beitrag analysierten Übersetzungen der Rime Michelangelos werden zitiert nach: Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, Band VII: Übertragungen, Frankfurt/M. 1997.
  23. Bemerkungen der Herausgeber, zit., S. 1292.
  24. Rilke übersetzte nach den zwei Ausgaben: Le Rime di Michelangelo Buonarroti, pubblicate da Cesare Guasti, Firenze 1865 und Die Dichtungen des Michelagniolo Buonarroti, hrsg. von Karl Frey, Berlin 1897.
  25. Ebd., S. 1292. In einem Brief an Aurelia Gallarati Scotti vom 15. Januar 1923.
  26. «Denn nach der schrecklichen Unterbrechung dieser letzten Jahre bin ich gezwungen, meine ganze Kraft an zwei wesentliche Arbeiten zu wenden – eine davon ist eine Übersetzung, die ich im Jahre 1912(!) begonnen habe.» In: Rainer Maria Rilke / André Gide, Briefwechsel 1909–1926, Wiesbaden 1957, S. 134f. Brief vom 23. Januar 1921.
  27. R. M. Rilke und Marie von Thurn und Taxis, Briefwechsel, Zürich 1951, erster Band, S. 357.
  28. Rainer Maria Rilke, Briefe, hrsg. vom Rilke-Archiv, Wiesbaden 1950, S. 286. Allerdings bezog sich Rilke hier nicht auf Michelangelo, sondern auf Maurice de Guérin.
  29. Ebd., S. 519.
  30. Ebd., S. 725f.
  31. «Der Bildhauer und Maler wusste, dass dem lyrischen Wort Mächte gegeben sind, die ihre eigene Notwendigkeit haben und durch keine andere Kunst zu ersetzen sind. Diesen Mächten vertraute Michelangelo seine inneren Erfahrungen an, die durch Liebe geweckt wurden, aber anwuchsen zur Erfahrung vom ausweglosen Gegensatz zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen.» So Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt/M. 1964, S. 333.
  32. Rainer Maria Rilke, Stunden-Buch, zit., S. 24f.
  33. Hannah Arendt, Günther Stern-Anders, Le Elegie Duinesi di R. M. Rilke. Rilkes Duineser Elegien, a cura di Sante Malette, ohne Ort 2014, S. 74.
  34. Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, GW, zit., S. 685.
  35. Thomas Mann, Die Erotik Michelangelos, in: Michelangelo – Zeichnungen und Dichtungen, Frankfurt/M. 1975, S. 156.
  36. «Donde […] il rifiuto dell’armonia e in più della melodia, e la ricerca di forme in tensione e in contrasto dinamico. Poesia senza esplicito canto, senza appoggio di paesaggio, per cui la volontà di essenzialità conduce al rischio di un’eccessiva fiducia nella forza del concetto da cui a volte Michelangelo cade nel virtuosismo, difficilmente però privo di implicazioni poetiche.» In: Walter Binni, Michelangelo scrittore, Roma 1965, S. 12.
  37. Am 23. März 1921, in Briefe, zit., S. 44.
  38. Die Gedichte Michelangelos werden nach der von Enzo Noè Girardi besorgten Ausgabe zitiert, unter Hinweis auf die entsprechende Gedichtnummer (im Folgenden G): Girardi, Michelangelo Buonarroti: Rime, Bari 1960. Konsultiert wurde auch die online zu findende Ausgabe von Cesare Guasti, Le rime di Michelangelo Buonarroti, cavate da autografi e pubblicate da Cesare Guasti, Firenze 1863. Rilke hat nach der Edition von Carl Frey, Berlin 1897, übersetzt. Vgl. Robert J. Clement in The Peregrine Muse (Chapell Hill), 1959, S. 29.
  39. Strozzi hatte auf die Darstellung der Notte in den Tombe Medicee in der Sakristei der Kirche von San Lorenzo in Florenz mit Lob reagiert. Die Skulptur schien ihm zu leben. Michelangelo arbeitete an diesen Gräbern in der Zeit zwischen 1520 und 1534. Die zwei Statuen des Giorno und der Notte schmücken das Grab von Giuliano de’ Medici.
  40. Maria Ruvoldt, «Michelangelo’s Dream», in: The Art Bulletin, Vol. 85. No 1 (Mar. 2003), S. 86–113 https://doi.org/10.2307/3177328.
  41. Hugo Friedrich, zit, S. 440. Friedrich geht kurz auf die Geschichte der Nacht-Interpretationen von der Antike bis zur Romantik ein.
  42. Vgl. im Anhang die vier Sonette 101, 102, 103 und 104 aus den Rime.
  43. Diese Erkenntnis verdanke ich der genauen Dokumentation in: Sämtliche Werke, Band 7, zit., S. 1293–1307. Vgl. Anm. zu S. 863. Der Brief an Nanny Wunderly ist auf den 24. April 1920 datiert.
  44. Sämtliche Werke, Band 7, Übertragungen, zit., s. a. FN 22.
  45. Es ist anzunehmen, dass Michelangelo das Itinerarium mentis in Deum von Bonaventura gut kannte. In der letzten Stufe des langen Wegs zu Gott, der Extase, wird vom «überleuchtenden Dunkel» und von der «überwesentlichen Klarheit göttlichen Dunkels» gesprochen. Vgl.: Itinerarium – De Reductione, eingeleitet und übersetzt von Julian Kaup, München 1961, S. 155.
  46. Vgl. Guasti, zit.
  47. Sonett G 102. V. 9.
  48. Paul de Man, Tropen (Rilke), in: Ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988, S. 52–90.
  49. «Die durchgängige Figur in Rilkes Dichtung ist die des Chiasmus, das Überkreuzen, die das Attribute von Worten und Dingen umkehrt». Ebd., S. 71.
  50. «Es stellt sich bald heraus, daß alle diese Objekte eine vergleichbare Grundstruktur haben: sie werden in solch einer Weise verstanden, daß sie eine Umkehrung ihrer kategorialen Eigenschaften gestatten, und diese Umkehrung befähigt den Leser, sich Eigenschaften vorzustellen, die normalerweise ebenso miteinander unverträglich (solche wie innen/außen, vorher/nachher, Tod/Leben, Fiktion/Realität, Stille/Ton) wie ergänzungsbedürftig sind.» Ebd., S. 72.
  51. Scharfsinnig bemerkt Frank Fehrenbach, nachdem er auf die semantische Breite des Liebeskonzepts von Michelangelo aufmerksam gemacht hat: «Neu ist dabei Michelangelos Abkehr vom neuplatonischen Ideal einer Gleichheit der Partner. Stattdessen beschreibt sich Michelangelo in erstaunlicher Umkehrung der Geschlechterklischees und in der Übersteigerung liebespoetischer Topoi als passives Objekt einer Macht, deren transformierende Arbeit vom lyrischen Ich als einem verworfenen Bruchstück zugleich mit Sehnsucht und Angst begleitet wird. Liebe und Tod, Läuterung und Selbstverlust erscheinen beinah ununterscheidbar.» Frank Fehrenbach, Quasi vivo. Lebendigkeit in der italienischen Kunst der Frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2001, S. 224.
  52. Guasti, zit.
  53. de Man, zit., S. 52.
  54. Ebd.
  55. Steiner, zit., S. 141.