Die ratio im Dämmerlicht – Giudicis Spiel mit dem Phantastischen in seinem Spätwerk Eresia della sera

• Felicitas Böshagen •


PID: http://hdl.handle.net/0000-0007-F990-D

Trotz des beachtlichen Umfangs seines Gesamtwerkes1 ist Giovanni Giudici als zeitgenössischer Dichter und Publizist zwar in der Fachwelt viel beachtet, teils gar als einer der letzten seiner Art beschrieben worden,2 in der italienischen Bevölkerung scheint er aber weitgehend unbekannt zu sein – ein Umstand, den man wohl als Symptom einer insgesamt immer weniger lyrikaffinen Gesellschaft betrachten muss,3 denn stilistisch legt Giudici dem Leser durch eine alltagsnahe Sprache, die auf allzu hermetische Verklausulierungen verzichtet, verhältnismäßig wenig Steine in den Weg.

Die Situationen, die seine Gedichte evozieren, sind zumeist in einem Alltagsleben verortet, das Giudicis eigenes sein könnte. Wie die meisten Lyriker seiner Generation war auch er nur ‹nebenberuflich› Dichter und auf seinen Broterwerb in der Verlagswelt angewiesen. Immer wieder beschäftigen sich seine Gedichte daher mit dem zwischen Arbeit und häuslichem Alltag alternierenden, dem Menschlichen entfremdeten, teils ins Banale abrutschenden Leben des Angestellten, und sind dabei durchzogen von den Konstanten, die Giudicis Gedankenwelt prägten – seinem Katholizismus, seinem Sozialismus, der Beziehung zu den Eltern, der Wahrnehmung von Zeit und Vergessen. All das wird verpackt in eine schnörkellose Sprache, deren Kunst mehr in den Gleichungen besteht, die sie aufstellt, als in einer überformten Ästhetik der Sprache selbst.

Eresia della sera (1999), der letzte Gedichtband, den Giudici vor seinem Tod im Jahr 2011 veröffentlichte, steht bereits im Licht der Konfrontation mit dem Ende und nimmt insofern einen ganz eigenen Blickwinkel ein, der sich immer wieder des Motivs des Schlafes bedient, dieses Zustands zwischen den Welten, der fester Bestandteil eines wachen Lebens und dessen Gesetzen doch gleichzeitig nicht unterworfen ist.

Eben dieser Stimmung des Dazwischen-Seins, der Abendstimmung, die bereits durch den Titel angedeutet wird, soll hier in drei ausgewählten Gedichten aus Eresia della sera nachgegangen werden.4 Als Ausgangspunkt dient die in den Gedichten provozierte Opposition zwischen der Klarheit der ratio einerseits und dem verschwimmenden Phantastischen, Mythischen andererseits, das in den Gedichten drei unterschiedlichen Quellen entspringt: Das Gedicht Miracoli bietet als Gegenentwurf zur Vernunftorientiertheit des erwachsenen Menschen die kindliche Phantasie mit ihren ritualisierten Spielabläufen, deren Formelhaftigkeit das Magische zu berühren scheint. Ebenjenes Magische tritt in Preghiere della sera als Antagonist zur kühlen Vernunft der Moderne auf und wird Teil der historischen Dimension des Gedichtes, das den Leser in eine mittelalterlich-pagane Welt entführt. Unabhängig von einer konkreten historischen Verortung fragt Paese cimmèrio nach der Existenz dieses rein mythischen Landes und bildet dabei das Scheitern des empirisch-wissenschaftlichen Anspruchs auf allgemeine Erklärbarkeit der Welt ab.

«I poeti più chiari sono quelli più difficili» – eine kurze Einleitung in Giudicis Poetologie

Die Aufhebung der Entfremdung mittels der Kunst

Giudici hat neben seinem lyrischen Werk auch ein umfangreiches Korpus an Texten zu Kunst- bzw. Lyriktheorie hinterlassen, das es erlaubt, die Gedichte auf eine Intentionalität des Künstlers hin zu lesen. Stellvertretend für das Gesamtbild seiner Poetologie werden hier die Aufsätze «Lo scrittore di versi come tipico umano» (1961) und «La gestione ironica» (1964) sowie die Aufsatzsammlung Andare in Cina a piedi (1992) berücksichtigt, die Aufschluss über Funktion und Ziele der Poesie sowie die Mittel zur Erreichung derer geben.

Zentraler Begriff für die Funktionsbestimmung von Lyrik bei Giudici ist die Aufhebung der Entfremdung («disalienazione») des Menschen, also dessen Rückführung zu sich selbst. Die Terminologie lässt leicht erkennen, dass Giudici der materialistischen Theorie Marx’ nahestand, er engagierte sich zeitlebens in sozialistischen Bewegungen. Marx zufolge hat die kapitalistische Welt den Menschen von seinem Menschsein, seiner Essenz oder der Summe seiner Potenziale, entfremdet und zu einem blinden Arbeiter und Konsumenten gemacht, der nun Sklave der von ihm selbst produzierten Welt sei.5 Die Tätigkeit des Dichters, so Giudici, sei ein Versuch dieser Entfremdung entgegenzuwirken:

Alienato suo malgrado, ossia catturato e dominato da forze che gli sono estranee, l’individuo che […] continua a scrivere versi, persegue in ogni caso un obiettivo di possesso: possesso soprattutto di se medesimo, attraverso un riconoscimento che da altri sollecita. Un riconoscimento al suo lavoro umano, al suo ‹fare› umano, ridotto o sublimato nello scrivere versi […].6

Das Dichten muss also als ein Kampf um Anerkennung des eigenen Menschseins angesehen werden, das in der kapitalistischen Gesellschaft keine Repräsentation mehr findet. Die Intention des Künstlers geht demnach über den reinen Schaffensprozess der Kunst hinaus. Um das Ziel der ‹Rückeroberung› seiner selbst («il possesso di se medesimo») zu erreichen, bedarf die Kunst auch einer Rezeption durch andere («il riconoscimento da altri») und wird damit zu einer gesellschaftlichen Handlung.7 Derartiges künstlerisches, ‹rückentfremdendes› Schaffen gehört daher in seiner Funktion in dieselbe Kategorie wie politische Tätigkeit (der kämpfenden Klassen), wie sie Marx beschreibt.8 Für Giudici kommt auch noch ein dritter, aus sozialistischer Sicht unorthodoxer Weg gegen die Entfremdung hinzu, nämlich der christlich-religiöse.9 Folgerichtig waren diese drei Faktoren, Kunst, Sozialismus und religiöser Glaube, die Eckpfeiler von Giudicis Leben und Wirken.10

Mittel gelingender Dichtung und das poetische Projekt

Giudicis Kunstbegriff ist also an eine, zumindest potenzielle, soziale Funktion gebunden. Viel Raum schenkt Giudici daher der Frage nach den Bedingungen und den Mitteln gelingender Kunst, um diejenige, die Entfremdung aufheben kann, von derjenigen, die es nicht kann, zu unterscheiden. In seinem Aufsatz «Lo scrittore di versi come tipico umano» nimmt Giudici dazu zunächst eine Bestandsaufnahme des ‹Lyrik-Marktes› vor. Nehme man das Verhältnis von produzierter Lyrik zu tatsächlich rezipierter und von der Kritik beachteter Lyrik in den Blick, stelle man fest, dass das Angebot die Nachfrage weit übertreffe und darüber hinaus hochwertige Lyrik nur einen geringen Teil der Gesamtproduktion ausmache. Die Zahl der Menschen, die sich zum Dichten berufen fühlten, müsse die der tatsächlich begabten Dichter also bei Weitem übertreffen. Für dieses Missverhältnis findet Giudici folgende Begründungen: Das Bedürfnis nach der Produktion von Kunst gehe in der Regel mit dem Gefühl des Anders- und des Unverstanden-Seins einher – ein Unverstanden-Sein, das man in Giudicis Gedankengerüst als eine Symptomatik der kapitalistischen, entfremdeten Gesellschaft deuten muss und das daher jeden Menschen betreffen kann. Dass als Ventil dieses Unverstanden-Seins verhältnismäßig oft die Lyrik gewählt werde, könne man mit den überschaubaren Voraussetzungen begründen: Im Gegensatz zu anderen Kunstformen, die besonderes technisches Know-How erfordern, kann Lyrik prinzipiell jeder produzieren, der schreiben kann. Natürlich könnte als Regulativ für die Güte einer lyrischen Produktion die Rückmeldung der Leser und professioneller Kritiker angenommen werden. Gerade das vorausgesetzte ‹Ausgangsgefühl› des Unverstanden-Seins könne aber – so Giudici – allzu leicht dazu führen, dass auch Produzenten von Lyrik, die schlechte Rückmeldung erhalten, am Glauben festhalten, wahre Kunst zu schaffen, da sie ihr Unverstanden-Sein mit in das Produkt überführen. Dieses soll aber gerade Klarheit und Erkenntnis zum Ziel haben. Der Glaube, ein verkanntes Genie zu sein, treibe viele an, weiter undurchsichtige Gedichte von zweifelhafter Qualität zu schreiben.

Woran es diesen ‹Dichtern› mangelt, ist der bei Giudici als «progetto poetico» bezeichnete Ausgangspunkt, den er ganz lapidar mit «avere qualcosa da dire» gleichsetzt und der sich aus einer Erkenntnis der Realität und dem Willen, auf diese einzuwirken («la trasformazione del mondo»), ergibt:

[…] troviamo la grande istanza della trasformazione del mondo, di cui l’attività poetica certamente partecipa, sia nel caso in cui miri ad una scoperta della realtà sostanziale, attraverso la negazione o il sovvertimento dell’immediato, sia che tende a far scoccare nei primi destinatari la scintilla di una realtà umana; o a cogliere in una personale esperienza il dato comune ed universale; o a liberare la visione del mondo dalle pressioni deformanti che l’impediscono e la falsano; o infine a distinguere, per il poeta stesso e i suoi destinatari, essenziale da non essenziale.11

Am Anfang des gelingenden Gedichtes steht also die Entdeckung einer tieferen Wahrheit der menschlichen Existenz («scoperta della realtà sostanziale»; «scintilla di una realtà umana»), die es über die Kunst zu transportieren gilt. Politisches Handeln und das bei Giudici sogenannte «fare poetico» ähneln sich daher insofern, als sie sich beide erst im Effekt ihrer Bezugnahme auf die Realität verwirklichen – gelingt der Transport der Botschaft nicht, ist das Gedicht kein echtes Kunstwerk.12 Aus diesen Annahmen ergibt sich auch das zwiespältige Verhältnis Giudicis zu den Techniken der lyrischen Produktion. Politische Tätigkeit und dichterisches Handeln haben ihre eigenen Formen der Kommunikation mit der Realität, auf die sie Bezug nehmen. Während das politische Handeln für sein Wirken eines institutionellen Rahmens bedarf, dessen Regeln befolgt werden müssen, bildet diesen Rahmen für die Dichtung das von Giudici sogenannte «conoscere poetico», das sich in vier Kenntnisbereiche aufteilt:

Tra le forme istituzionali del conoscere poetico (ossia dello scrivere poesie) possono considerarsi: 1) naturalmente la lingua nella sua accezione letteraria; 2) la prosodia e la metrica, non necessariamente come sistemi rigorosi di norme, ma certo come convenzioni che contribuiscono a denotare il ‹genere› poetico; 3) l’area di destinazione effettiva o supposta, e complementare a questa; 4) l’area di provenienza culturale, il sistema di riferimenti ai quali lo scrittore di versi implicitamente si richiama e richiama.13

Diese «institutionellen Formen» des «conoscere poetico» haben zwar Teil an der Realisierung des lyrischen Projekts, determinieren es aber nicht in seinem Resultat, woraus z. B. folgt, dass es zwar ein notwendiges, aber lange kein hinreichendes Kriterium für gute Dichtung ist, Stilmittel, Regeln der Grammatik und Metrik technisch zu beherrschen. Besonders gut fassbar wird das an einer dem «Manuale aureo di Lausberg», wie Giudici in seinem Aufsatz schreibt, entnommenen Feststellung zum Verhältnis der Stilmittel zum künstlerischen Gehalt: Wenn der Philologe ein rhetorisches Mittel im zu untersuchenden Text auffinde, heiße das nicht automatisch, dass der Dichter während des Schreibprozesses auch an dieses rhetorische Mittel gedacht habe. Tropen und rhetorische Figuren hätten vielmehr Anteil an der Ordnung der Wahrnehmung in der Sprache selbst.

Non negherò un qualche mio debole per procedimenti retorici […], a patto però che vengan fuori quasi da sé, emergendo dal pozzo di miniera della lingua e non dovendo io dargli che una lieve spinta. La retorica non è un sistema di regole astratte, ma codificazione di procedimenti nati dall’esperienza e riconosciuti di volta in volta come i più efficaci e forse connaturati ai modi del nostro intelletto, spontanei e naturali né più né meno che i modi di certi esercizi fisici quali il nuoto o la danza. […] La retorica non precede, ma segue, la scrittura.14

Der Dichter kann den Einsatz bestimmter rhetorischer Mittel nicht a priori festsetzen, sie entstehen zusammen mit dem gesamten sprachlichen Produkt, das er aus der ‹Mine der Sprache› («pozzo di miniera della lingua») in Wechselwirkung mit seinem lyrischen Projekt abbauen muss, und sind an seine Intuition («procedimenti spontanei e naturali») gebunden. Insofern folgt die Rhetorik der Schrift und nicht umgekehrt.

Hart ins Gericht geht Giudici daher mit Spielarten von Lyrik, die vor lauter formalistischer Perfektion ihre Botschaft bzw. ihr Verhältnis zur Wahrheit aus den Augen verlieren. Diesen Vorwurf macht Giudici sowohl den entsprechenden Dichterinnen und Dichtern als auch der professionellen Kritik. Zu oft verkomme die Lyrik zu einem reinen Spiel mit Formen, das sein Verhältnis zur Welt verloren habe, dem aber auch die Literaturkritiker verfielen.15 Techniken sollen Mittel zur Erreichung des Ziels von Lyrik, also der Darstellung von Wahrheit und Menschlichem, sein, das allein zur Bedingung von ‹gelungener› Dichtung wird. Als Selbstzweck haben diese Techniken für Giudici keinen Wert.

Doch auch für den Dichter mit echter Berufung, Kenntnissen der Technik und mit ‹lyrischem Projekt› wird der Schreibprozess zur schwierigen Aufgabe. In Andare in Cina a piedi führt Giudici seine Perspektive auf den Dichter und die Sprache aus: Sie sind wie zwei eigene Entitäten, zwei Lebewesen, sodass das Dichten als ein «rapporto» zwischen beiden angesehen werden kann.

La lingua è, in poesia, una persona, un soggetto: alla stessa stregua di colui che, parlandola o scrivendola, e sempre più aiutato dall’esperienza, si troverà a rispettarne non soltanto le elementari regole apprese dalle grammatiche, ma le interne armonie e le norme meno appariscenti, più segrete, i suoi indefinibili e tuttavia reali ‹codici di compatibilità›.16

Dieses Verhältnis impliziert also, dass der Dichter den richtigen Umgang mit den komplexen Eigenschaften der Sprache finden muss, die nicht erschöpfend aus grammatischen Regelwerken erlernt werden können. Giudici illustriert diesen Gedanken mit einer, aus der Linguistik bekannten, Umstellprobe des ersten Verses von Leopardis Infinito, von dem er zehn Varianten präsentiert, die die Logik der Aussage nicht verändern. Keine dieser Varianten sei vergleichbar mit der Perfektion des leopardianischen Verses, und in der Tat ist die ‹Inkongruenz› der einzelnen Umstellungen sehr eindrücklich: «Dicono tutte la stessa cosa, ma nessuna di esse è la stessa cosa.»17 Das Dichten wird demnach zum Auseinandersetzungsprozess, dessen Ergebnis der Dichter nicht vorhersehen kann. Dardurch erklärt sich auch Giudicis Aussage, dass man fast nie das Gedicht schreibt, das man schreiben wollte, sondern das, welches zu einem ‹kam›.18

Giudicis Dichtungsbegriff gründet sich auf dem richtigen Verhältnis zwischen einer auf Erkenntnis beruhenden Botschaft und einer Form, die nie überfrachtet sein darf. Das den erläuterten Qualitätskriterien entsprechende Gedicht zeichnet sich aus Giudicis Perspektive daher durch eine «incredibile semplicità» aus, eine Klarheit der Aussage, die sich dennoch facettenreich zeigt und zu tieferer Überlegung anregt. Gerade in einer äußeren Einfachheit kann eine größere semantische Aussagekraft liegen. Diesen Umstand beschreibt Giudici u. a. in seiner Aufsatzsammlung La dama non cercata:

L’incredibile semplicità della poesia comporta (quando è realizzata) un massimo di complessità del messaggio, sicché i poeti più chiari sono quasi sempre anche i più difficili, quelli cioè che obbligano il lettore a pensare, a impegnarsi al massimo dell’esplorazione del non detto.19

Die Relation von der Komplexität der Form und Komplexität der Aussage wirkt paradox, bildet aber den Kern der Dichtung Giudicis, die sich in dieser Hinsicht eng an die Dichtung Umberto Sabas anlehnt. Das gelungene Gedicht eröffnet einen Bedeutungsraum, der Platz für das Nicht-Gesagte («il non detto») schafft. Hier geht es nicht um das Spiel mit den Formen oder gar die Selbstreferentialität des Kunstwerks, sondern um die Suche nach der Darstellung einer tieferen Wahrheit, die es durch den Leser zu erfahren gilt.20

Giudicis Poetik im Kontext der Lyrik des Novecento

Mit seiner Konzentration auf das Alltägliche und der Ablehnung einer lingua aulica teilt Giudici wesentliche Merkmale der Lyrik des Novecento, ohne sich gänzlich einer bestimmten Strömung zuordnen zu lassen. Mit Ungarettis symbolistischem Stil verbindet ihn eine Reduktion der Sprache auf Wesentliches, Weiterentwicklungen dieser Tendenz hin zum Hermetischen eines Salvatore Quasimodo teilt er aber nicht. Die in der Poetik der Neoavanguardia vorausgesetzte Entfremdung des Menschen von sich selbst, deren Anfänge in die 50er-Jahre des Novecento zurückgehen und die sich damit zeitgleich mit dem Beginn der Schaffensphase Giudicis konstituiert, bestimmt zwar auch Giudicis Denken, doch drückt er dies nicht vornehmlich auf der Zeichenebene, etwa mit Collage-Techniken, sondern eher traditionell auf der Ebene des Bezeichneten aus. Große Bewunderung empfand Giudici zeitlebens für die Lyrik Umberto Sabas, mit dem er befreundet war und der ihn zu seiner ersten Veröffentlichung von Lyrik ermunterte. Saba prägte, eher antimodernistisch, einen poetischen Stil, der beispielsweise mit der Verwendung des Sonetts Anschluss an klassische lyrische Formen sucht und trotzdem Alltagsmomente in den Vordergrund rückt.21 Ganz in diesem Geist ist auch Giudicis Werk reich an klassischen Anspielungen, ohne diese zum Selbstzweck zu erheben. Das gilt auch für sein Spätwerk Eresia della sera.

Eresia della sera– das Spätwerk Giudicis

Der letzte Gedichtband Giudicis mit dem Titel Eresia della sera erschien 1999 bei Garzanti und ist formal in fünf Sektionen Lyrik und ein Zwischenstück in Prosa unterteilt, denen als Auftakt das Gedicht Spesso nel dormiveglia di spine vorangeht, das bereits den Bewusstseinszustand des Halbschlafes vorwegnimmt, der sich thematisch durch die Sammlung zieht. Die Sammlung endet nach vier Teilen mit Gedichten aus versi liberi im fünften Teil mit einem Liebes-Canzoniere aus 24 Gedichten in rima alternata.22

Eresia della sera wird in der Sekundärliteratur meist zusammen mit dem vorletzten, drei Jahre früher veröffentlichten Band, Empie stelle (1996), behandelt, weil in beiden bereits eine Art unscharfe Retrospektive auf das Leben vor seinem Ende erkennbar ist. Die Szenen, die Giudicis Gedichte evozieren, sind in beiden Sammlungen «limbali, sospese nel ‹non-mondo› e sugguardanti il vago ‹barluminare› della vita», wie es Simona Morando treffend beschreibt.23 Schon in Empie stelle taucht das Thema des scetticismo gegenüber Wahrheit versprechenden Größen wie dem christlichen Glauben, aber auch der Wissenschaft auf,24 der in Eresia della sera eine Repräsentation in ineinander verschwimmenden Bildern findet. Der Titel gibt für diesen besonderen Blickwinkel auf die Welt die passende Metapher an die Hand:

Metafora di una condizione interiore, o situazione contingente di un soggetto empirico, la ‹sera› rappresenta, entro questo libro, una scenografia simbolica che assume caratteri contrastanti, proprio perché priva di confini precisi.25

Genau dieses Spiel der Bedeutungsgenese aus sich widersprechenden Größen veranschaulichen besonders gut die drei Gedichte Miracoli, Paese cimmèrio und Preghiere della sera, die dem rationalen Geist Facetten einer phantastischen, anti-rationalen Weltsicht gegenüberstellen: Phantasie, Mythos, Religion und (konstruierte) Geschichte. Die hermeneutische Analyse, die eine Sinnhaftigkeit des Kunstwerks annimmt, begründet sich aus einer möglichen Intentionalität im Sinne von Giudicis eigener Poetologie.

Drei unterschiedliche Perspektiven auf das Phantastische in drei ausgewählten Gedichten

Miracoli

Das Gedicht Miracoli gehört zur zweiten Sektion ohne Titel der Gedichtreihe Eresia della sera. Es besteht aus zwei Strophen zu je sieben Versen, die reimlos aufeinander folgen und eine unregelmäßige Silbenzahl aufweisen. Über den beiden Strophen und gleichsam als deren verbindendes Moment scheint die Frage nach der Existenz von Wundern, miracoli, zu stehen. Das evoziert bereits der erste Halbvers, der mit einem Gedankenstrich vom Rest des Gedichts getrennt ist: «Sì, qualche volta» (V. 1). Das klingt wie eine Antwort, deren zugehörige Frage z. B. «Miracoli veramente capitano?» sein könnte. Der Inhalt des Gedichts scheint sich aus der Position der auf diese Frage antwortenden Sprecherinstanz zu entfalten und nimmt dabei zwei Blickwinkel ein, die sich in die beiden Strophen aufgliedern und die man mit einer ‹erwachsenen, entzauberten› und einer ‹kindlichen, träumerischen› Argumentationsweise assoziieren kann. Das ganze Gedicht verbleibt in einem fragenden Modus, im Zentrum steht mehr das, was ein Wunder tendenziell unmöglich macht, und widerspricht daher eben jenem einleitenden Halbvers, der Wunder doch grundsätzlich bejaht.

Diese Ambivalenz bildet bereits der erste Vers in seiner Gesamtheit ab, denn auf das «sì qualche volta –» folgt, nur durch den Gedankenstrich getrennt, «però non esistono» (V. 1). Erst das über ein Enjambement im zweiten Vers ergänzte «instruzioni sul modo» (V. 2) löst die im ersten Vers naheliegende Annahme auf, es handele sich bei dem Subjekt zu «non esistono» um die Überschrift «miracoli» und bei Vers 1 in seiner Aussage daher um ein Paradoxon. Wunder passieren also «qualche volta», aber es gibt keine dazugehörige Anleitung. Auch darin muss der Leser eine Ambivalenz wahrnehmen: Würde die Eigenschaft, vorhersehbaren und daher instruierbaren Prinzipien zu folgen, nicht die eigentümliche Beschaffenheit des (religiösen) Wunders gerade zunichte machen? Hier kündigt sich eine Tendenz der Sprecherposition an, die sich in der kompletten 1. Strophe fortsetzen wird: Das Wunder soll hier in Termini des ganz Alltäglichen, einer lebenspraktischen Vernunft gefasst werden.

Vers 3 führt den Gedanken der fehlenden Anleitung fort, die einen Willensakt steuern könnte: «E per lo più non volendo.» Für die Erreichung eines Wunders gibt es nicht nur keine Anleitung, es darf nicht einmal angestrebt werden, muss «ungewollt» einfach passieren. Diese Eigenschaft könnte noch mit einem religiösen Wunderbegriff konform gehen; was nun folgt, ist aber ein Beispiel für ein ‹Wunder›, das nichts mehr mit biblischer Erhabenheit zu tun hat: «O quasi per assurdo come se / dopo tanto stremarti a prender sonno / chiudi gli occhi conti fino a tre / E ti svegli che adesso è domani mattina –» (V. 4–7). Was hier als Wunder präsentiert wird, ist auf den ersten Blick etwas völlig Profanes, das Einschlafen nach längerem schlaflosen Sich-hin-und-her-Wälzen. Auch wenn der Leidensdruck der Schlaflosigkeit sicher nicht unterschätzt werden darf, handelt es sich bei diesem Ereignis wohl nicht um das, was der Duden als «außergewöhnliches, den Naturgesetzen oder aller Erfahrung widersprechendes und deshalb der unmittelbaren Einwirkung einer göttlichen Macht oder übernatürlichen Kräften zugeschriebenes Geschehen, Ereignis, das Staunen erregt» definiert.26 Und doch liegt in der Situation etwas, das sich der ‹sicheren› Erfahrung entzieht, denn der Schlaf ist ein Seins-Zustand außerhalb der menschlichen Kontrolle – quasi ein passives Sein, dessen Regeln nur bedingt unter unserem ‹wachen› Einfluss stehen. Zu bedenken wäre auch eine Divergenz zwischen äußerer Bewertung und innerer Erfahrung. Der endlich Eingeschlafene selbst wird vielleicht mit einer gewissen zeitlichen Distanz zum Ereignis keinen wundersamen Charakter der Situation mehr unterstellen, obwohl das ersehnte Ende des unruhigen Umherwälzens im Moment selbst den Anschein der Unerreichbarkeit gehabt haben mag.

Eine gewisse übernatürliche Note des Schlafes bringt Giudici besonders schön mit Vers 6 («chiudi gli occhi e conti fino a tre») zum Ausdruck, der auf die kindliche Perspektive im zweiten Teil des Gedichts vorausweist: Das Einschlafen und Wieder-Aufwachen hat durch seinen für das Bewusstsein quasi nahtlosen Übergang ineinander in der Tat Ähnlichkeit mit dem Ergebnis einer Zauberformel, wie sie Kinder aufsagen («conti fino a tre»): Die äußeren Begebenheiten sind vor und nach dem Schlaf andere und doch ist die Zwischenzeit nicht im eigentlichen Sinne ‹erfahren› worden, ganz so als würde der Mensch einen ‹übernatürlichen› Zeitsprung erleben. Auf einmal ist es morgen («adesso è domani mattina », V. 7). Das Augen-Schließen, das hier als ein Teil des ‹Zauberrituals› dargestellt wird, bildet genau diesen Wahrnehmungsbruch des Schlafes ab und lässt das Magische daran erkennen.

Die zweite Strophe beginnt mit der Ankündigung einer neuen Perspektive auf die Fragestellung: «O da bambini». Der Sprecher versetzt sich in die Position von Kindern, schaut jetzt «nach Art der Kinder» auf das Wundersame, dieser Blickwinkel realisiert sich in den Versen 8–12: «O da bambini: dài, facciamo che / siamo in Cina / In Africa e perché no al Polo Nord / Nell’iglò chiotti chiotti / Bel calduccio e cupola di neve.» Dass der Leser jetzt durch Kinderaugen auf die Welt schaut, wird bereits an der Verwendung der umgangssprachlichen Abtönungspartikel «dài» deutlich. Die bisher verwendete unpersönliche Ausdrucksweise der 2. Person Singular ist nun ersetzt durch die 1. Person Plural, ein Hinweis auf eine Spielsituation zwischen mindestens zwei Kindern. Der Adhortativ «facciamo che» verstärkt diesen Eindruck noch, ein Kind fordert das andere oder die anderen zum Phantasieren auf, denn es handelt sich ganz offensichtlich um eine Art von phantastischer Traumreise in entfernte, exotische Länder. Wo liegt nun der Charakter des Wunders? Offenbar ruft die imaginierte Situation im Iglu nicht nur das Bild, sondern auch bestimmte Gefühle hervor («chiotti chiotti / bel calduccio e cupola di neve»). Das sich gegenseitige Wärmen in winterlicher Umgebung evoziert eine Situation von Behaglichkeit, die zwar fingiert ist, aber vielleicht wirklich empfunden wird. Hierin liegt das Übernatürliche der kindlichen Phantasie, sie macht gewissermaßen somatisch real, was nur in der Vorstellung passiert.

Mit den letzten beiden Versen verlässt der Sprecher die kindliche Perspektive wieder: «Desiderando – ma senza sperare / Quanto di grazia pioverci addosso deve» (V. 13f.). Vers 13 nimmt das «non volendo» aus Vers 3 wieder auf. Ein «Verlangen ohne Hoffen» scheint eine annähernde Entsprechung des «Nicht-Beabsichtigens» zu sein, das sich aus dem rational gesehen nicht zu erfüllenden Wunsch nach etwas Wundersamen ergibt. Vers 14 ist wahrscheinlich als Objektsatz zu «sperare» verstehen. Der Wunsch nach einem Wunder beinhaltet das Unmögliche und das heißt hier das Ausmaß der (göttlichen) Gnade («grazia»). Damit wird zum Schluss doch noch einmal ein Bogen zum religiösen Ursprung des Wunderbegriffs geschlagen.

Viele der Gedichte Giudicis – die Analysen der folgenden beiden werden es zeigen – enden mit einem Vers, der noch einmal die gesamte Semantik des Gedichts aufwirbelt und das, was klar erschien, in Frage stellt. In Miracoli ist dieser Effekt nicht so extrem, dennoch nehmen die letzten beiden Verse noch einmal Bezug auf den Sinn des Gedichts als Ganzes, runden es aber eher ab. Der Schlafsuchende wünscht sich den Morgen, die Kinder das ferne Land herbei und ohne wirklich zu glauben, den jeweiligen Wunsch verwirklichen zu können, geschieht ihnen das je eigene Wunderbare, wie alltäglich es dann auch sein mag (Schlaf, Phantasiereise). Beide evozierte Situationen sind nur Annäherungsversuche an eine Wunderbeschreibung und werden deshalb jeweils als Vergleiche eingeleitet («come se», V. 4; «facciamo che», V. 8). Dennoch sollen sie beide einen Anhaltspunkt für das Maß an Gnade («quanto di grazia») an die Hand geben, das ein (echtes) Wunder gewährt. In ihrer jeweiligen Alltäglichkeit werden die beiden beschriebenen Ereignisse also zu Sinnbildern des Wundersamen in der menschlichen Existenz, die eben nicht nur aus Wachheit und Rationalität besteht. Die im letzten Vers verwendete Metapher des Gnaden-Regens verbindet auf elegante Weise die religiöse Komponente des Wunderbegriffs mit den Kräften der Natur, die sich ebenfalls der Kontrolle des Menschen entziehen und doch sein Leben mitbestimmen.

Paese cimmèrio

Auch das aus zwei Strophen zu je sechs Versen bestehende Gedicht Paese cimmèrio gehört zur zweiten Sektion von Eresia della sera. Die Verse haben unterschiedliche Silbenzahlen und weisen kein Reimschema auf. Wie schon Miracoli bildet das Gedicht einen Gedankengang nach, in dessen Zentrum nun jedoch nicht die Existenz des Wunders, sondern die des Mythos steht. Schon im Titel verrät das Gedicht seinen antiken intertextuellen Bezug: Das Land der Kimmerier wird im elften Buch von Homers Odyssee beschrieben. Odysseus passiert dieses Volk auf seinem Weg zum Eingang des Totenreiches, wo er – beauftragt von Kirke – den Seher Teiresias befragen soll. Der Eingang zum Totenreich befindet sich an der Mündung des Weltenstroms Okeanos ins Meer. Die Kimmerier werden als Volk, das im Dunkeln lebt, beschrieben; ihr Land ist von Nebel und Finsternis umhüllt. Sie repräsentieren einen Übergang vom Leben ins Totenreich.27 Odysseus tritt allerdings nicht in Kontakt mit diesen Schattenmännern.

Das mythische Land der Kimmerier wird zum Objekt der Frage und Suche der Sprecherinstanz in Paese cimmèrio: «Di domande m’interrogo alle quali / manca risposta» (V. 1f.). Diese Beschreibung des Zustandes eines wissbegierigen Geistes (es geht nicht etwa um Gefühle, sondern um erfragbares Faktenwissen), der an die Grenzen seiner Erklärungskompetenz stößt (es gibt Fragen, auf die er keine Antwort zu finden vermag), erhält noch größere Tiefe durch seine offensichtliche Allusion an Ungarettis berühmtes Gedicht Mattina («M’illumino / d’immenso»), dessen Struktur aus Reflexivverb und indirektem Objekt28 genau umgekehrt im ersten Halbvers abgebildet wird. Das Verhältnis zur Aussage von Mattina wirkt kontrastiv, der Erfahrung der Vollkommenheit des Seins wird seine letztendliche Unergründlichkeit gegenübergestellt, der Erleuchtung von Mattina also gewissermaßen eine Dunkelheit des Unwissens entgegengehalten, deren Bedingungen im Rest der Strophe entfaltet werden. Für die unbeantworteten Fragen steht beispielhaft Vers 6: «Dove sei paese cimmèrio?» Die Tragweite dieser Frage kann nur vor dem Hintergrund der drei vorangehenden Verse verstanden werden: «Una al mondo non v’è / Luogo che in una danza di ore non possa / Raggiungersi – / Dove sei paese cimmèrio?» (V. 3–6). Für den modernen globalisierten Menschen ist kein Ort mehr unerreichbar, nahezu überallhin kann man innerhalb weniger Stunden gelangen. Die vor dem Hintergrund einer Vergangenheit, in der es keine Flugzeuge gab, relative Mühelosigkeit findet Ausdruck in der Metapher des Tanzes («in una danza di ore»). Mit der Erreichbarkeit geht die weitgehende Erschlossenheit der Welt einher; unberührte, unbekannte Orte gibt es kaum noch. Und doch ist die Lokalisierung dieses einen Ortes, des paese cimmèrio, unmöglich. Nun ist das Land der Kimmerier, wie oben erläutert, Bestandteil einer epischen Erzählung, ein Mythos. Die Frage des Sprechers nach der Verortung dieses Landes in der realen Welt würde also nur Sinn ergeben, wenn er diesem Land eine reale Existenz unterstellen würde. Mythos und reale Existenz stehen aber aus der Perspektive des modernen rational denkenden Menschen in paradoxem Verhältnis zueinander. Was hier verhandelt wird, scheint also eine Ontologie des Mythos zu sein: Ist nur das auch echt, was der Mensch empirisch erfahren kann? Diese quasi erkenntnistheoretische Perspektive auf den Mythos verlässt der Sprecher in der zweiten Strophe. Im Fokus steht jetzt die Erfahrung der mythischen Erzählung. Der Modus der Darstellung wechselt nun in die 1. Person Plural: «Pensavamo le tue miti nebbie» (V. 7). Wer in den Plural eingeschlossen werden soll, wird nicht eindeutig markiert. Eventuell nimmt der Sprecher hier die Perspektive der Menschheit an sich ein. Das Possessivum greift paese cimmèrio wieder auf, die Nebel sind Teil der Beschreibung bei Homer.29 Gleichzeitig leitet es die Apostrophe an das Land der Kimmerier ein, die die ganze zweite Strophe umfasst. Ungewöhnlich ist der transitive Gebrauch des Verbs pensare, normalerweise werden Objekte des Denkens mit der Präposition a eingeleitet oder in einem Objektsatz mit che ausgedrückt. Unter den im Zingarelli aufgelisteten Varianten taucht die transitive Verwendung in der Bedeutung «raffigurarsi nella mente» auf, sodass sich als deutsche Übersetzung das Verb «vorstellen» eignet.30 Ein sehr viel gewöhnlicherer Ausdruck für «vorstellen» wäre immaginare. Warum Giudici sich hier für pensare anstelle von immaginare entschieden hat, lässt sich nur mutmaßen. Ein möglicher Grund für die Bevorzugung des intransitiven Verbs könnte sein, dass im Verb pensare gerade nicht automatisch das bildhafte Vorstellen mitschwingt und als etwas Unerwartetes beim Lesen kurz innehalten lässt. Mit dieser Auflösung und Erweiterung fester grammatischer Strukturen greift Giudici ein für die Lyrik des Espressionismo typisches Verfahren auf, das auch bei Ungaretti oft zu finden ist.31

Vers 8 nimmt eine zeitliche Verortung des Denkprozesses («pensavamo») vor: «Allora che ti descrissero» Der Gebrauch des passato remoto impliziert große zeitliche Distanz, der unpersönliche Ausdruck der 3. Person Plural verschweigt zudem den Urheber der Beschreibung – ein interessanter Zug, denn der Verweis auf Homer ist ja ganz offensichtlich. Worauf hier angespielt wird, könnte die letztlich ungeklärte Identität Homers sein, die durch mythische Erzähltradition in einem kulturellen Kollektiv ersetzt wird: Man erzählte es so in der Vorzeit und Homer verschriftlichte die mündliche Tradition. Auf die zeitliche folgt die räumliche Verortung , die sich selbst widerspricht («In riva al gran fiume senza terre» (V. 9)). Das Land der Kimmerier liegt an einem Ufer, aber der Fluss zu diesem Ufer fließt durch kein Land. Wieder bricht sich die Existenz dieses Ortes an den Gesetzen der erfahrbaren Realität. Giudici spielt hier auf die Eigenschaft des die Erde umschließenden und abgrenzenden mythischen Weltenstroms Okeanos als »Medium zwischen je besonderen Bereichen, als Dimension des Übergangs»32 an.

Die Verse 10–12 führen ein neues Objekt zu «pensavamo» ein: «Se non te, di quel Nulla / Abitanti che mai nessuno sguardo – / Abbarbicati all’esistere.» Die Bewohner des Schattenlandes, die Kimmerier, werden bei Homer als Männer, die «in Wolke und Dunst [gehüllt sind]», beschrieben, auf die «niemals der leuchtende [Helios] mit seinen Strahlen [hinabschaut]».33 Der Vers «Abitanti che mai nessuno sguardo», der so unvermittelt in einem Anakoluth endet, könnte daher Bezug auf den Blick des Sonnengottes nehmen und z. B. durch toccava ergänzt werden. Auch die letzten drei Verse führen das Oszillieren zwischen Existenz und Nicht-Existenz fort, das schon die erste Strophe bestimmte: Protagonisten der mythischen Vorstellung der zweiten Strophe sind die «Abitanti del Nulla», also Bewohner eines Nicht-Ortes, die es daher nicht im eigentlichen Sinne ‹geben› dürfte – genau diesen Gedanken scheint der letzte Vers aufzunehmen: «Abbarbicati all’esistere.» Diese imaginierten Menschen «klammern» sich mit allen Wurzeln an die Existenz, weil es sie gibt und gleichzeitig doch nicht geben dürfte an diesem Nicht-Ort ohne Licht – wer sollte Schatten im Dunkeln sehen können? Ihre Existenz kann daher nur geglaubt, nicht bewiesen werden.

Preghiere della sera

Das Gedicht Preghiere della sera gehört zum vierten Teil der Sammlung, der keinen Titel trägt. Es besteht aus vier Strophen zu je vier Versen. Bei den Versen handelt es sich größtenteils um Endecasillabi, ein festes Reimschema ist allerdings nicht zu erkennen. Lediglich die ersten beiden Strophen sind von einem Reim umklammert. Preghiere della sera ähnelt in seiner Inszenierung den zuvor behandelten Gedichten, wieder scheint ein Gedankengang nachgeformt zu werden, der nicht ganz linear verläuft. Im Unterschied zu Miracoli und Paese cimmèrio ist die Sprecherinstanz diesmal aber nicht mit dem Protagonisten des Gedichts identisch, sondern spricht aus personaler Perspektive. Wie im Titel bereits angedeutet, wird in Preghiere della sera die Praxis des Betens behandelt, die als eine Art Anachronismus im Leben des modernen Menschen inszeniert wird.

Die erste Strophe stellt dem Leser die äußere Situation vor, aus der heraus sich der Gedankengang entfaltet: «Il Cristiano che fingendo distrazione / Per non scandalizzare la famiglia / Oscurato il turpe schermo / furtivo adempie all’orazione» (V. 1–4). Beschrieben wird hier ein Mann, der zum Gebet ansetzt («adempie all’orazione»), nachdem er den Fernseher ausgeschaltet hat («oscurato il turpe schermo»). Wahrscheinlich ist es Abend, darauf deuten sowohl der eingeschaltete Fernseher als auch der Titel hin. Der Mann betet ganz offensichtlich heimlich («furtivo»), indem er vortäuscht, geistig abwesend zu sein («fingendo distrazione»). Als Grund dafür wird die Absicht benannt, die Familie nicht schockieren zu wollen («per non scandalizzare la famiglia»), was zunächst unverständlich erscheint: Warum muss ein Christ vor seiner zumindest mutmaßlich ebenfalls christlichen Familie das Gebet verheimlichen? Das Gebet muss etwas bestenfalls Ungewöhnliches sein, etwas, das man nicht tut.

Die Erklärung dafür bietet die zweite Strophe, die den Begriff der Häresie einführt: «Perché il vaticinato avvento / Si avveri eresia del moderno / Asilo all’esangue ragione / E sollievo al suo sgomento» (V. 5–8). Mit «vaticinato avvento» ist wahrscheinlich die Geburt Christi als Messias gemeint, die das Christentum verkündet.34 Genau diese Überzeugung erweise sich als «eresia del moderno», die zumeist christliche Auslegung des Begriffs Häresie35 als Abweichung vom rechten, orthodoxen Glauben wird also genau ins Gegenteil verkehrt: Der christliche Glaube selbst ist die Häresie des modernen Menschen, dessen Welt von der ratio nicht vom Glauben bestimmt wird, in der das Rationale also das Maß aller Dinge darstellt. Für den im Gedicht beschriebenen Christen ist dieser Vernunftglaube aber «esangue», blutleer, mehr tot als lebendig, wodurch das Gebet und der Glaube zu seinem Refugium («asilo») und zur Erleichterung von seinem Unwohlsein («sollievo al suo sgomento») werden.

Von dieser Bewertung der Gebetsszene durch den Sprecher ausgehend, wechselt die dritte Strophe nun komplett die Perspektive, ein neues Bild wird evoziert: «Se non altrimenti che lui – altero / Scolaro – la carolingia muliercula / Nel tugurio ai piedi del castello / Desueti idoli evocava» (V. 9–12). Dem betenden Christen wird vergleichend («se non altrimenti che lui») eine Frau aus einer historisch weit zurückliegenden Epoche, der Karolingerzeit (8. und 9. Jahrhundert n. Chr.), gegenübergestellt. Dass die Szene im Mittelalter verortet ist, zeigt auch der Umstand, dass sie sich vor dem Hintergrund eines Schlosses abspielt. Die zeitliche Distanz findet auch auf der Zeichenebene eine Entsprechung in latinisierenden und damit einer vergangenen Kultur angehörenden Ausdrücken: Muliercula ist ein Diminutiv zu lat. mulier ([Ehe-] Frau), tugurio kommt von lat. tugurium, das ursprünglich eine einfache Hütte mit Strohdach bezeichnete. Die Frau, die im Zentrum des neuen Bildes steht, ruft «ungebräuchliche Idole», also Götterbilder, an. «Desueti» bezieht sich wahrscheinlich auf die (moderne) Zeit des Christen, der zum Gebet ansetzt und in dessen Zeit derartige Symbolobjekte nicht mehr bekannt sind. Auch die Frau betet also und gleicht auf diese Weise dem Mann der Moderne, selbst wenn sie anders als er, der «altero scolaro», wahrscheinlich kaum Bildung erfahren hat. Der mit Gedankenstrichen abgetrennte Anruf an den Christen als «altero scolaro» könnte durch die offensichtliche Antithese zu der paganen Frau aus der einfachen Hütte auf ein Überlegenheitsgefühl der Moderne gegenüber der mittelalterlichen Vergangenheit hindeuten, das vor dem Hintergrund des beide verbindenden Elements des Gebets unberechtigt erscheint.

Während die dritte Strophe noch aus größerer Distanz auf das Geschehen zu blicken scheint, weil auch das weitere Umfeld der Hütte beschrieben wird («ai piedi del castello»), ist der Blick in der vierten Strophe ganz auf das Innere der Hütte konzentriert: «Alla pagana lingua interloquendo / Un dondolìo di zana o il pigolìo / Di miti pennuti nel fumo / Del focolare – benché a noi Nessuno» (V. 13–16). Die Handlung aus der dritten Strophe («desueti idoli evocava») wird in der 4. Strophe fortgeführt und ergänzt zunächst durch eine adverbiale Bestimmung zu evocare: Die Frau «spricht in ihrer paganen Sprache». Pagan ist hier als Enallagé zu verstehen, denn eine Sprache an sich kann nicht «pagan» sein, nur die Kultur, die gewissermaßen in einer Sprache ‹stattfindet›. Logischer Bezug sind also die «idoli». Da aus der Beschreibung keine genaue geographische Verortung hervorgeht, kann die «pagane Sprache», also die Sprache eines paganen Kulturkreises, nicht identifiziert werden. Im Karolingerreich wurden viele Sprachen gesprochen. Mit dem gerundio «interloquendo» beginnt der untergeordnete Satz mit modaler Bedeutung. Der Anruf an die Götter(-bilder) unterbricht oder mischt sich mit der Geräuschkulisse in der Hütte, die zwei unterschiedlichen Quellen entspringt, dem «Schaukeln einer Wiege» («dondolìo di zana») und dem «Gezwitscher geflügelter Mythen» («pigolìo di miti pennuti»).36 Beide Beschreibungen bedürfen einer Erklärung, um sie als Geräuschquelle identifizieren zu können. Offenbar kann es nicht das Schaukeln selbst sein, das Geräusche erzeugt, mit denen das Gebet in Zwiegespräch treten könnte. Die Wiege steht vielmehr metonymisch für ein Kind, das sie birgt und das wahrscheinlich weint und deshalb in den Schlaf gewiegt wird. Abstrakter ist dagegen das Bild der geflügelten Mythen: Sie werden personifiziert als zwitschernde Vögel, die im Rauch des Herdfeuers in der Hütte flattern, das eröffnet vielfältige Assoziationen. Feuerstellen sind in archaischen Gesellschaften der Ort, um den herum Menschen gesellig zusammensitzen und Geschichten erzählen. Auf diese Praxis könnte das Flattern im Feuer hindeuten. Eine weitere Referenz könnten die biblischen geflügelten Seraphime sein, die brennen und den Thron Gottes umschweben.37 Auch das Stilmittel der Personifikation selbst könnte eine Abbildung des Mythos auf der Sprachebene darstellen. Transformationen gehören zu den klassischen Motiven mythischer Erzählungen. Schließlich könnte auch das Bild des rauchenden Herdfeuers eine Art Allegorie der Mythenwelt sein: Rauch umnebelt die Sicht, ohne sie ganz zu nehmen – wieder gerät der Leser in einen Übergangszustand zwischen Klarheit und Verschwommenheit seiner Wahrnehmung. Die flatternden Mythen sieht er vielleicht nur schemenhaft, da sie geflügelt sind, lassen sie sich auch nicht leicht (be-)greifen. Zugleich nimmt Giudici mit der ganzen Passage aber auch Bezug auf das Incipit eines weiteren bekannten Gedichts Ungarettis mit dem Titel Lindoro di deserto («Dondolo di ali in fumo / mozza il silenzio degli occhi», Lindoro di deserto V. 1–2)38, das, wie für Ungaretti typisch, dem Trostlosen des menschlichen Jetzt die Einsicht in ein heilsames Ewiges entgegenstellt. Das Zitat scheint sich damit gut in das entworfene Bild des Mythos zu fügen.

Im Vergleich der beiden Szenen des Gedichts fällt auf, dass deren Kontrast nicht nur in der Opposition aus ratio und phantastischer Vorgeschichte besteht. Eine weitere Dichotomie stellen die Pole ‹tot› und ‹lebendig› dar: Die Vernunftwelt des modernen Menschen ist «esangue», blutleer, und still. Das Gebet passiert heimlich und daher wahrscheinlich stumm. Die Welt der mittelalterlichen Frau dagegen ist lebendig, neues Leben liegt in der Wiege und das Gebet mischt sich mit den Geräuschen der lebendig flatternden Geschichten. Die moderne Welt wirkt dagegen völlig steril und wird nur indirekt und vermittelt erfahren.

Der Halbvers, mit dem Preghiere della sera endet, bildet erneut einen Bruch im Gedankengang, ein Anakoluth, und wirkt zunächst hermetisch. Der konzessive Anschluss lässt sich wohl am vielversprechendsten auf den Vergleich zwischen modernem Mann und mittelalterlicher Frau beziehen: Die beiden führen dieselbe Art von Handlung aus, nämlich das Beten in christlicher und paganer Variante, und das obwohl dem modernen Mann die märchenhafte Umgebung fehlt, mit der er in ein Gespräch treten könnte (« nessuno interloquisce al Cristiano»). Auffällig ist, dass Nessuno großgeschrieben steht. Die Referenz könnte daher Gott als der «eine Jemand»sein, der eigentlich den Antagonisten im betenden Gespräch darstellen sollte: Für den Christen in der Moderne ist Gott nicht mehr greifbar, weil die Vernunftorientierung den Glauben an das Übernatürliche abgeschafft hat.

Synthese der Perspektiven

Alle drei Gedichte haben Perspektiven auf die Existenz nachgezeichnet, die in Konkurrenz zur vernunftmäßigen Betrachtung der Welt treten: In Miracoli sind es der Schlaf und die kindliche Phantasie, die alternative Wirklichkeiten anbieten, in Paese cimmèrio der Mythos, und das quasi doppelt, weil das mythische Land der Kimmerier schon in seiner Eigenschaft als Mythos nicht real ist und dann noch als ungesehenes Schattenland innerhalb der mythischen Welt selbst zu etwas Vagem wird. Preghiere della sera schließlich zeigt den modernen Vernunftmenschen in Konflikt mit einem Bedürfnis nach Übernatürlichem, Nicht-Vernünftigem, das in einer romantisierten mittelalterlichen Zeit noch fester Bestandteil des Lebens war.

Giudici ergründet in diesen drei Gedichten Aspekte der menschlichen Existenz, die über die Eigenschaften als Vernunftwesen hinausgehen, und kommt damit seinen poetologischen Vorgaben nach: Die Gedichte lassen Momente durchleben, die genau diese Grenzen der ratio berühren, und teilen damit eine Erkenntnis in das Geheimnis des Seins. Alle drei Gedichte bedienen sich einer verständlichen Sprache, ohne dadurch Tiefe einzubüßen. Lediglich Paese cimmèrio fordert literarisches Vorwissen in Form des homerischen Epos. Zwar werden auch zwei Gedichte Ungarettis zitiert, zumindest Mattina ist im italienischsprachigen Raum aber sehr bekannt und stellt daher nur eine geringe kulturelle Anforderung an den Leser. Giudici gelingt es, eindrucksvolle Szenen voller Kontraste zu schaffen, die den Leser der vernunftbestimmten Gegenwart an einem Gefühl von ineinander verschwimmenden Wahrheiten teilhaben lassen.

Gedichttexte

Miracoli

Sì, qualche volta – però non esistono
Istruzioni sul modo
E per lo più non volendo
O quasi per assurdo come se
Dopo tanto stremarti a prender sonno
Chiudi gli occhi conti fino a tre
E ti svegli che adesso è domani mattina –

O da bambini: dài, facciamo che
Siamo in Cina
In Africa e perché no al Polo Nord
Nell’iglò chiotti chiotti
Bel calduccio e cupola di neve:
Desiderando – ma senza sperare
Quanto di grazia pioverci addosso deve

Paese cimmèrio

Di domande m’interrogo alle quali
Manca risposta:
Uno al mondo non v’è
Luogo che in una danza di ore non possa
Raggiungersi –
Dove sei paese cimmèrio?

Pensavamo le tue miti nebbie
Allora che ti descrissero
In riva al gran fiume senza terre
Se non te, di quel Nulla
Abitanti che mai nessuno sguardo –
Abbarbicati all’esistere

Preghiere della sera

Il Cristiano che fingendo distrazione
Per non scandalizzare la famiglia
Oscurato il turpe schermo
Furtivo adempie all’orazione

Perché il vaticinato avvento
Si avveri eresia del moderno
Asilo all’esangue ragione
E sollievo al suo sgomento

Se non altrimenti che lui – altero
Scolaro – la carolingia muliercula
Nel tugurio ai piedi del castello
Desueti idoli evocava

Alla pagana lingua interloquendo
Un dondolìo di zana o il pigolìo
Di miti pennuti nel fumo
Del focolare – benché a noi Nessuno

Literaturverzeichnis

Primärtexte

Giudici, Giovanni: «Lo scrittore di versi come tipico umano», in: Aut Aut 61/62 (1961), S. 168-176.

Giudici, Giovanni: «La gestione ironica», in: ders., La letteratura verso Hiroshima e altri scritti 1959–1975, Roma: Editori Riuniti, 1976, S. 207–217.

Giudici, Giovanni: La dama non cercata. Poetica e letteratura. 1968–1984, Milano: Mondadori, 1985.

Giudici, Giovanni: Eresia della sera, Milano: Garzanti, 1999.

Giudici, Giovanni: Tutte le Poesie, a cura di Rodolfo Zucco, introduzione di Maurizio Cucchi, Milano: Mondadori, 2014.

Giudici, Giovanni: Andare in Cina a piedi. Racconto sulla poesia, Milano: Ledizioni, 2017.

Homer: Odyssee, übers. und mit Nachwort versehen von Roland Hampe, Stuttgart: Reclam, 1979.

Ungaretti, Giuseppe: L’allegria, a cura di Cristiana Maggi Romano, Milano: Mondadori, 1982.

Sekundärtexte

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Ambühl, Annemarie/ Schmitt, Tassilo: «Okeanos», in: Der Neue Pauly, hrsg. von Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike) und Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Online abgerufen am 20. September 2019 http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e829570, zuerst online veröffentlicht 2006.

Ferroni, Giulio: Gli ultimi poeti. Giovanni Giudici e Andrea Zanzotto, Milano: Il Saggiatore, 2013.

Ferroni, Giulio: «Giovanni Giudici», in: Dizionario Biografico degli Italiani (2014), abgerufen unter: http://www.treccani.it/enciclopedia/giovanni-giudici_%28Dizionario-Biografico%29/, zuletzt aufgerufen am 21.9.2019.

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Rüddenklau, Eberhard: «Entfremdung», in: Metzler Lexikon Philosophie, hrsg. von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkhard, Stuttgart: Metzler, 32018.

Sauter, Hermann: Studien zum Kimmerierproblem (Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 72), Bonn: Habelt, 2000.

Surdich, Luigi: «Giovanni Giudici, la semplicità, il tempo», in: Nuova Corrente. Rivista di Letteratura 46 (1999), S. 67–110.

 

  1. Die 2014 bei Mondadori erschienene Gesamtausgabe der Gedichte umfasst etwa 1200 Titel.
  2. Vielleicht etwas pointiert und doch ernst gemeint die Monographie von Giulio Ferroni, Gli ultimi poeti. Giovanni Giudici e Andrea Zanzotto, Milano: Il saggiatore, 2013.
  3. Zum Problem der Popularität des Künstlers äußert sich Giudici selbst bereits 1961 in seinem Aufsatz «Lo scrittore di versi come tipico umano», in: Aut Aut 61/62 (1961), S. 168–176.
  4. Die Gedichte sind am Ende des Beitrags abgedruckt.
  5. Eine übersichtliche Begriffsgeschichte der Entfremdung, die in erster Linie von den Materialisten Hegel und Marx bestimmt ist, und deren konkreter Rolle in verschiedenen philosophischen Systemen bis in die Gegenwart bietet z. B. Gajo Petrović: «Alienation», in: Encyclopedia of Philosophy, hrsg. von Donald M. Borchert, Bd. 1, Macmillan Reference USA, 22006, S. 120–127 (Gale Virtual Reference Library, https://link.gale.com/apps/doc/CX3446800052/GVRL?u=muenster&sid=GVRL&xid=2bcc5b09, abgerufen am 26. Aug. 2019). Die Deutung der Essenz des Menschen als Summe seiner Potenziale ist eine von drei erkennbaren Deutungsströmungen. Die anderen beiden sehen die Essenz entweder als ein in den jetzigen Menschen angelegtes, aber noch nicht erreichtes Ziel oder als Eigenschaft einer Teilmenge der Menschheit. Giudicis Position scheint der Deutung der Essenz als Summe menschlicher Potenziale zu entsprechen.
  6. Giovanni Giudici: «Lo scrittore di versi come tipico umano», S. 173.
  7. Zum Problem der Anerkennung auch ders., «The poet’s reader», in: Ders., Andare in Cina a piedi. Racconto sulla poesia, Milano: Ledizioni, 22017, S. 48–51.
  8. Zur Aufhebung der Entfremdung bei Marx siehe z. B. Eberhard Rüddenklau: «Entfremdung», in: Metzler Lexikon Philosophie, hrsg. von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkhard, Stuttgart: Metzler, 32018, S. 137 f.: «Marx, der die ‹Aufhebung und Verwirklichung› der (Hegel’schen) Philosophie fordert, setzt an die Stelle der Arbeit des Geistes als dem bewegenden Moment der Geschichte die gesellschaftliche Arbeit und überträgt das dynamische Prinzip der Hegel’schen Dialektik von Entfremdung und Aufhebung der Entfremdung auf diese […]. Die Entfremdung der Arbeit spitzt sich dramatisch zu (die immer weiter voranschreitende Teilung der Arbeit führt dazu, dass die ‹eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt dass er sie beherrscht› und erheischt die Aufhebung der Entfremdung (Negation der Negation) durch den revolutionären Akt des Proletariats.»
  9. Giudici: «Lo scrittore di versi come tipico umano», S. 171: «Per il credente cattolico, la sola impresa disalienante veramente valida è la ‹storia santa› che corre parallela alla storia profana, anzi la comprende e la riscatta, con l’intervento integratore della Grazia e dei meriti dell’Incarnazione, e che si compie nel gran erogiuolo finale del Corpo Mistico, in ‹società senza classi› della Chiesa.»
  10. Katholizismus und Sozialismus bilden dabei natürlicherweise Überzeugungen, die in Konflikt miteinander geraten. Auch Giudicis zeitweilige Tätigkeit für US-amerikanische Behörden bildete einen Antagonismus zu seinem Sozialismus.
  11. Giudici: «Lo scrittore di versi come tipico umano», S. 175 f.
  12. Giovanni Giudici: «La gestione ironica», in: ders., La letteratura verso Hiroshima e altri scritti 1959–1975, Roma: Editori Riuniti, 1976, S. 207–217, hier S. 207: «Del fare poetico varie definizioni si potrebbero addurre, e generalmente inutili: esso presenta singolari analogie col fare politico, la prassi, come suol dirsi, specialmente per la sua riottosità all’apriorismo e all’astrazione teoretica in generale e per il suo verificarsi unicamente nella concretezza specifica del risultato.» Für diesen Gedanken relevant erscheint auch die folgende Aussage Giudicis aus Andare in Cina a piedi (S. 52): «Il ‹vero› dovrà essere, anche e nello stesso tempo, un ‹vero› dello scritto e non soltanto dello scrivente.» Die Botschaft muss aus dem Kunstwerk des Gedichts selbst heraus erkennbar sein, d. h. sie muss unabhängig von der Erklärung durch den Dichter verstanden werden können.
  13. Giudici, «La gestione ironica», S. 209.
  14. Ders., Andare in Cina a piedi. Racconto sulla poesia, S. 53.
  15. Siehe dazu ders., «La gestione ironica», S. 210: «Non v’è dubbio, infatti, che la pressione delle forme istituzionali, così come è capace di snaturare la visione del critico, che non è più in grado di distinguere fra essenziale e non essenziale ed anzi confonde addirittura questo con quello e viceversa. Accade cioè che, sotto la pressione di convenzioni e di mode, il critico sia portato ad attribuire un’importanza eccessiva a certe regole del gioco, dimenticando che è il gioco, in definitiva a creare e rinnovare le regole, e perdendo di vista quello che del gioco è, per così dire, l’obiettivo […].»
  16. Ders., Andare in Cina a piedi, S. 36 f.
  17. Ebd., S. 34. Die zehn präsentierten Varianten des Originals (Sempre caro mi fu quest’ermo colle) sind: 1) Caro mi fu quest’ermo colle sempre; 2) Mi fu quest’ermo colle sempre caro; 3) Quest’ermo colle mi fu sempre caro; 4) Quest’ermo colle caro mi fu sempre; 5) Caro mi fu sempre quest’ermo colle; 6) Mi fu sempre caro quest’ermo colle; 7) Mi fu quest’ermo colle sempre caro; 8) Caro sempre mi fu quest’ermo colle; 9) Caro quest’ermo colle mi fu sempre; 10) Mi fu caro quest’ermo colle sempre.
  18. Vgl. ebd., S. 43.
  19. Giovanni Giudici, La dama non cercata, Milano: Mondadori, 1985, S. 146. Das Konzept der ‹semplicità› bei Giudici wird ausführlich besprochen bei Luigi Surdich: «Giovanni Giudici, la semplicità, il tempo», in: Nuova Corrente. Rivista di Letteratura 46 (1999), S. 67–110, in Bezug auf die zitierte Passage Giudicis besonders S. 80 f. Derselbe Gedanke wird auch in Andare in cina a piedi im Zusammenhang mit den Berührungspunkten zwischen Dichtung und dem Werbetexten verhandelt (Giudici arbeitete zeitweilig auch in der Werbung): «Immediatezza e naturalezza […] sono a ben più forte e più alta ragione fra i traguardi che lo scrittore di versi si propone nel suo esercizio. Solo che l’‹incredibile semplicità› della poesia porta con sé un massimo di densità e spessore, sicché può accadere che i poeti più ‹chiari› siano talvolta proprioi più ‹difficili›, quelli cioè che impegnano il lettore a una lenta esplorazione e conquista delle componenti extraverbali» (S. 95).
  20. Genau diese für Giudici typische Ablehnung der sprachlichen Überfrachtung und lyrischen ‹Künstlichkeit› zugunsten des geradezu Kolloquialen hat Giorgio Linguaglossa in seiner Überblicksdarstellung zur zeitgenössischen italienischen Lyrik dazu veranlasst, Giudici eine gewisse ‹Armut an Metaphern› zu unterstellen (das gesamte stilistische Programm bezeichnet er als «abbassamento della temperatura stilistica» und als «stile non-stile»). Mit der Ablehnung der Metapher als «corpo estraneo al parlato» verfolge Giudici gleichsam ein (anti-elitäres) politisches Programm (Giorgio Linguaglossa, Dalla lirica al discorso poetico. Storia della poesia italiana (1945–2010), Roma: Edilazio, 2011, S. 111). Trotz vieler äußerst treffender Beobachtungen zu Giudici scheint aber gerade dieses Urteil verfehlt und lässt sich insbesondere in Giudicis Spätwerk kaum halten, wie in der folgenden Betrachtung ersichtlich werden wird. Auch in Giudicis Metaphern zeigt sich das Stilprinzip der «incredibile semplicità», das ihnen nichts an Tiefe nimmt. Insofern besonders zutreffend ist Fortinis Bezeichnung «l’ingannatrice facilità», die er allerdings bei Saba ausmacht (Franco Fortini, I poeti del Novecento, a cura di Donatello Santarone, Roma: Donzelli, 2017, S. 59). Zur Verwendung der Metapher bei Giudici siehe das Kapitel ‹Metafore semplici, metafore complesse› in Laura Neri, Vittorio Sereni, Andrea Zanzotto, Giovanni Giudici: un indagine retorica, Bergamo: Bergamo University Press, 2000, S. 198–207.
  21. Zur schwierigen Einordnung Sabas in einer dem Primat des Modernen verpflichteten Lyriklandschaft siehe Fortini, I poeti del Novecento, hier besonders S. 6 und S. 59 ff.
  22. Auch hier sei noch einmal auf die geistige Nähe zu Saba verwiesen.
  23. Simona Morando, Vita con le parole. La poesia di Giovanni Giudici, Pasian di Prato: Campanotto, 2001, S. 129.
  24. Siehe dazu z. B. das Gedicht De fide, in der Gesamtausgabe Giovanni Giudici, Tutte le poesie, introduzione di Maurizio Cucchi, Milano: Mondadori 2014, S. 1065. Besprochen bei Simona Morando, Vita con le parole. La poesia di Giovanni Giudici, S. 132.
  25. Laura Neri: «Frantumi di verità nei labili bagliori della sera», in: dies., I silenziosi circuiti del ricordo. Etica, estetica e ideologia nella poesia di Giovanni Giudici, Roma: Carocci, 2018, S. 196–206, hier S. 197.
  26. Lemma «Wunder», in: Munzinger Online/Duden – Deutsches Universalwörterbuch; 8., überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin: Bibliographisches Institut GmbH, 2015. (abgerufen vom Universitäts- und Landesbibliothekserver Münster am 20.9.2019).
  27. Die Existenz der homerischen Kimmerier und ihrer Identifizierung mit nachweislich historischen Völkern ist bis heute umstritten. Homer bietet die älteste Erwähnung, in größerem Zusammenhang beschreibt sie erst Herodot. Teils werden sie als Vorläufer der Skythen nördlich des schwarzen Meeres betrachtet, teils als Volksgruppe mit Provenienz aus Kleinasien. Homer scheint in seiner Beschreibung typische Elemente einer unterweltsnahen Landschaft zu verwenden, die daher nicht unbedingt geographisch ausgewertet werden können. Dunkelheit und Nebel wurde in der Antike aber oft mit der Gegend nördlich des schwarzen Meeres verbunden. Eine Verortung der Reise des Odysseus ins Mittelmeer (beispielsweise Skylla und Charybdis an der Meerenge von Messina) würde allerdings gegen eine Identifikation mit den Skythen sprechen. Siehe dazu Hermann Sauter, Studien zum Kimmerierproblem (Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 72), Bonn: Habelt, 2000, ein ganzes Kapitel widmet Habelt der homerischen Überlieferung.
  28. Die genaue grammatische Funktion des indirekten Objekts «di domande» (genau wie «d’immenso» in Ungarettis Gedicht) ließ sich mit der praktischen Grammatik von Reumuth/Winkelmann nicht zufriedenstellend bestimmen. Hier entspräche die Konstruktion am ehesten der Angabe des Grundes. Siehe dazu Wolfgang Reumuth/Otto Winkelmann, Praktische Grammatik der italienischen Sprache, Wilhelmsfeld: Gottfried Egert, 62001, S. 342 (§283), Unterpunkt 10. Am nächsten scheint die Konstruktion m. E. einem ablativus modi im Lateinischen zu kommen.
  29. Homer, Odyssee, 11, 13–19: (Übersetzung nach Roland Hampe) «Da befinden sich Volk und Stadt der kimmerischen Männer, eingehüllt in Wolke und Dunst, und es blicket da niemals Helios nieder auf sie, der leuchtende, mit seinen Strahlen, weder wenn aufwärts er zum gestirnten Himmel emporsteiget, noch wenn er wieder zur Erde herab vom Himmel sich wendet, sondern schreckliche Nacht liegt über den elenden Menschen.» («ἡ δ᾿ ἐς πείραθ᾿ ἵκανε βαθυρρόου Ὠκεανοῖο.ἔνθα δὲ Κιμμερίων ἀνδρῶν δῆμός τε πόλις τε, ἠέρι καὶ νεφέλῃ κεκαλυμμένοι· οὐδέ ποτ᾿ αὐτοὺς ἠέλιος φαέθων καταδέρκεται ἀκτίνεσσιν,οὔθ᾿ ὁπότ᾿ ἂν στείχῃσι πρὸς οὐρανὸν ἀστερόεντα,οὔθ᾿ ὅτ᾿ ἂν ἂψ ἐπὶ γαῖαν ἀπ᾿ οὐρανόθεν προτράπηται,ἀλλ᾿ ἐπὶ νὺξ ὀλοὴ τέταται δειλοῖσι βροτοῖσι.»)
  30. Siehe dazu das Lemma «pensare» im Zingarelli 2017, S. 1658. Unterpunkt B (transitiver Gebrauch) 1: «esaminare col pensiero, raffigurarsi nella mente: cosa stai pensando?; È più facile pensarle, certe cose, che dirle; Vi lascio pensare la mia paura; Chi avrebbe potuto pensare una cosa simile?»
  31. Zur Verwandtschaft der Frühphase Ungarettis mit dem nach der literarischen Zeitschrift La voce sog. Espressionismo vociano siehe beispielsweise Andrea Afribo und Arnaldo Soldani, La poesia moderna. Dal secondo Ottocento a oggi, Bologna: Il Mulino, 2012, S. 81–87, hier besonders S. 83.
  32. Siehe dazu den Abschnitt ‹Geographie› von Tassilo Schmitt bei Annemarie Ambühl und Tassilo Schmitt: «Okeanos», in: Der Neue Pauly, hrsg. von Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike) und Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Online abgerufen am 20. September 2019 http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e829570, zuerst online veröffentlicht 2006: «Der Mythos konnte den O. als das Glied vorstellen, das die Trennung zw. Erde und Himmel sowohl aufrechterhält als auch überwindet. Hier erweist er sich schon wie dann ebenso in der späteren Reflexion als Medium zwischen je besonderen Bereichen, als Dimension des Übergangs. Sogar der Raum löst sich am O. auf: Als letzte und zugleich entscheidende Schwelle (πείρατα/peírata) trennte der O. die Welt vom ἄπειρον / ápeiron («Unbegrenzten»), das man sich gerade nicht als ein festes jenseitiges Ufer vorstellte.»
  33. Homer, Odyssee 11, 15–17, siehe Fußnote 30.
  34. Eine andere Lesart könnte auch auf Christi Rückkehr am Ende der Zeit zum Jüngsten Gericht verweisen. Hier fiel die Entscheidung für die andere Lesart, weil die Vorstellung des Jüngsten Gerichts nicht zu der Vorstellung eines sollievo für den christlichen Menschen passt.
  35. Siehe dazu das Lemma «Häresie» im Duden Fremdwörterbuch (Munzinger Online/Duden – Das große Fremdwörterbuch; 4., aktualisierte Auflage, Berlin: Bibliographisches Institut GmbH, 2007. [abgerufen vom Universitäts- und Landesbibliothekserver Münster am 20.9.2019]). Griech. haeresis heißt zunächst nur Wahl und wird dann kirchenlateinisch als Abweichung von der offiziellen Lehre definiert.
  36. Das Suffix -ìo ist besonders typisch für die Wortschöpfungen Pascolis und d’Annunzios, deren Stilideale, die man bisweilen als eher ‹schwülstig› bezeichnet, Giudici ansonsten nicht teilt.
  37. Ich danke meiner Freundin Verena Mildner für diesen Hinweis.
  38. Das Gedicht ist Teil der Gedichtsammlung L’allegria, Giuseppe Ungaretti, L’allegria, a cura di Cristiana Maggi Romano, Milano: Mondadori, 1982, S. 101 f.