Experimente in den pastoralen Gattungen:
Maddalena Campiglias Flori (1588) und Isabella Canali Andreinis Mirtilla (1588)

• Rolf Lohse •


PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EAAB-1

Die Literatur verharrt nicht auf der Stelle. Sie entwickelt sich fort – häufig in Experimenten, die weit über das hinausweisen können, was bislang an bewährter Thematik und Formgebung erreicht wurde. Nur so ist zu erklären, daß die Literatur zu jeder Zeit – auch heute für uns – Szenarien durchspielen kann, die für die Erkenntnis der Welt und der dem Menschen gegebenen Handlungsoptionen von höchstem Interesse sind. Jede Epoche profitiert davon, daß Darstellungen und Deutungen der Welt sowie der menschlichen Möglichkeiten von der Literatur immer von neuem experimentell verhandelt werden. Dies läßt sich an zwei Schäferdramen der Renaissance zeigen, deren Autorinnen in jüngerer Zeit häufig als Gewährsfrauen für die emanzipatorische Strömung in der Literatur, als Vertreterinnen der «other voice» genannt werden, so der Titel einer amerikanischen Edition.1 Diese Dramen sind über den genannten Aspekt hinaus von Interesse – insbesondere läßt sich an ihnen das Experimentieren mit Themen und Formen, d.h. mit Gattungen beobachten.

Dramen mit ländlichem Spielort kommen um 1500 auf, als italienische Höfe und Städte das antike Theatererbe in Form des volkssprachlichen neoklassischen Theaters neu beleben. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelt sich das Schäferdrama zu einer Erfolgsgattung, die über 130 Dramen zählt, welche nach 1550 verfaßt, aufgeführt und gedruckt werden.2

Die beiden fünfaktigen Schäferdramen in Versen, von denen hier die Rede ist, wurden im Jahr 1588 in Vicenza bzw. in Verona gedruckt. Es handelt sich um die «favola boscareccia» Flori, die Maddalena Campiglia (1553―1595) im Alter von 34 Jahren verfaßt und drucken läßt sowie um die «pastorale» Mirtilla von Isabella Andreini (1562, Padua―1604, Lyon), die die Autorin mit Anfang zwanzig verfaßt, mehrfach auf die Bühne bringt und schließlich in Druck gibt.3

Beiden Autorinnen geht es ganz unzweifelhaft darum, als ebenbürtige Teilhaber der literarischen Sphäre wahrgenommen zu werden. Sie wählen ein Gattungsfeld, das sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts besonders dynamisch entwickelt, so daß auch sie mit ihren Dramen eine Chance sehen.4

Die Pastoraldichtung zeigt junge, wohlhabende Frauen und Männer, die als Schäfer und als Nymphen rural eingekleidet in einer weitgehend abgeschlossenen ländlichen Welt, zu der nur wenige Fremde Zugang finden, die Möglichkeiten und Grenzen der selbstverantworteten Anbahnung von Paarbeziehungen erkunden. In der Regel greifen keinerlei elterliche Instanzen durch Abmachungen oder Fingerzeige ein, allenfalls ein Priester, mythologische oder numinose Instanzen, wie die Götter Diana, Venus und Amor oder die Halbgötter des Waldes Pan und Satyr. Die privilegierten jungen Menschen sind weitgehend frei, den eigenen Vorlieben zu folgen. Die Bildung der Paare wird vor allem durch die sich überkreuzenden Liebesavancen und -ablehnungen durch die Altersgenossen erschwert.

Der besondere Reiz der Gattung wird hier schon greifbar: Die Figuren dieser Gattung sind nicht wie in der Komödie und der Tragödie in familiäre und dynastische Interessen verstrickt, in deren Aufrechterhaltung bzw. deren Untergang das Anliegen der jeweiligen Gattung zu erkennen ist. Zwar werden auch in der Komödie und Tragödie Liebesverhältnisse dargestellt, bisweilen sogar deren Anbahnung, diese geraten jedoch in der Regel in Konflikt mit den familiären oder dynastischen Interessen. Im Schäferstück bilden sich die Paare in der antiken Naturlandschaft Arkadiens in der Regel in großer Entfernung von solchen Interessen, im Zentrum stehen die inneren Vorlieben und Hemmungen der Figuren. Zwar kennt auch Arkadien eine milde gesellschaftliche Hierarchie, doch die ökonomischen Mittel sind nicht so ungleich verteilt, als daß sich die Bewohner Arkadiens nicht auf Augenhöhe begegnen könnten.

Der kleine Kreis privilegierter Schäfer und Nymphen läßt sich hinsichtlich des Standes und der offenkundigen materiellen Unabhängigkeit einem höfischen Kontext zuordnen. Mit dem realen agrarischen Lebenskreis haben weder der Habitus der Figuren noch das gezeigte Verhalten etwas zu tun. Texte dieser Gattungen können als Entwürfe erträumter Idealbilder einer höfischen Elite gelesen werden, die dazu dienen, die Möglichkeiten und Grenzen eigenständiger Entscheidungen in der Lebenssphäre von Affekten und Beziehungen durchzuspielen.5

Diese Texte, die individuelle Emotionen und zwischenmenschliche Anliegen thematisieren, entstehen in der Epoche der Renaissance, in der das Individuum ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Sie faszinieren, weil sie im ruralen Kleid bislang unbeachtete emotionale Register und Anliegen erkennbar machen, die so vielfältig sein können, wie die Individuen unterschiedlich sind. Daher überrascht es nicht, daß sich im Bereich der rural situierten Dramen in wenigen Jahren eine hohe Zahl von Untergattungen (über 60) bildet, die sich je nach spezifischem thematischen Interesse, nach der Figurenkonstellation und dem Handlungsverlauf unterscheiden.6 Die relative Offenheit solcher Szenarien und Texte hinsichtlich der Gattungstraditionen bildet ideale Bedingungen zum Experimentieren mit den Figuren, ihren Motivationen und Intentionen, mit Figurenkonstellationen und mit Handlungsverläufen, die in Prologen, aber auch in der Diegese gerne dem Verantwortungsbereich jener Götter zugewiesen werden, die für die Liebe zuständig sind.7 Daß aufgrund des wenig fixierten Materials daraus wieder keine festen Gattungstraditionen entstehen und erst recht keine Zentralgattung, sondern eher ein Bündel von Gattungen, die jeweils durch unterschiedlich akzentuierte Merkmale bestimmt sind, zeigt die hohe Anzahl von über sechzig Gattungsbezeichnungen, die von den Autoren solcher Texte im 16. Jahrhundert erfunden werden. Da der Wunsch nach Differenzierung offenbar eines der Grundkennzeichen dieses Gattungszusammenhangs ist, kann man nicht darauf verzichten, die Gattungsangaben der Autoren zu berücksichtigen. Denn die Autoren meinen mit der von ihnen gewählten Gattungsbezeichnung etwas, auch wenn sich uns das Gemeinte nicht unmittelbar erschließt.8

Die beiden selbstbewußten Renaissance-Autorinnen Maddalena Campiglia und Isabella Andreini setzen eigene Akzente hinsichtlich der Gattungsmerkmale und unterstreichen damit ihre Eigenständigkeit, die durchaus mit dem Streben nach Ebenbürtigkeit von Frauen und Männern korreliert. Campiglia bringt dies im zweiten Widmungsvorwort zum Ausdruck durch die Forderung, diese von einer Autorin verfaßte favola wenigstens lesend wahrzunehmen und zu fördern: «[...] io crederò, che questa [favola], fatta da dôna, & da donna forse poco atta è simile impresa, debba esser letta, se nô con lode; almeno cô sopportatione.»9

Andreini hingegen versucht, sich vom Normalverhalten von Frauen zu distanzieren. Sie setzt selbstbewußt auf die Kultivierung ihres Geistes:

[...] anzi mi sono ingegnata d’assomigliarmi à quelli; che nati, & alleuati nell’Alpi neuose, ò nei campi sterili, non però lasciano di coltiuarli à tutto lor potere, per renderli più che possano fecondi. è [sic] l’ingegno humano cosa troppo diuina, e coloro, che nell’otio intepiditi [sic] lasciano così raro dono perire non meritano tra gli huomini essere annouerati.10

Maddalena Campiglia: Flori, favola boscareccia (1588)

Campiglia verwendet in der ersten an Isabella Pallavicina Lupi gerichteten Widmung die generischen Gattungsbegriffe «mia opera Pastorale» (Campiglia 1588, f. 2) und «mio poema pastorale» (Campiglia 1588, f. † 4v), in der zweiten Widmung an Curzio Gonzaga, in der sie auch auf dichtungstheoretische Fragen eingeht, nutzt sie mit «mia fauola boscareccia» (Campiglia 1588, f. † 4) jene Bezeichnung, die sich auf dem Titelblatt von 1588 findet.11

Diese Gattungsbezeichnung tritt erstmals zur Bezeichnung von Tassos Aminta im Jahr 1573 auf, sie wird bis 1588 insgesamt für sieben Dramen genutzt. Gegen die globale Einordnung, welche die amerikanischen Autorinnen Virginia Cox and Lisa Sampson vornehmen, die Maddalena Campiglias Drama in «the tradition of pastoral drama»12 einreihen, ist nur insofern etwas einzuwenden, daß die spezifische Gattungsbezeichnung «fauola boscareccia» unberücksichtigt bleibt und die Frage daher gar nicht gestellt wird, um welche Traditionen und Gattungskonventionen es sich im einzelnen handelt, denen Campiglia folgt.

Es ist wohl nicht anzunehmen, daß sieben Theaterstücke der Gattung favola boscareccia, die in den fünfzehn Jahren vor Flori geschrieben worden sind, ausreichen, um stabile Gattungskonventionen zu etablieren. Die Gattung bildet sich auf der Basis von verschiedenen Entwürfen mehrerer Autoren, also wesentlich experimentell, nach und nach heraus. Und auch Campiglias Text dürfte gute Chancen gehabt haben, noch zu den gattungsfundierenden Dramen zu zählen. Campiglia tut vermutlich nichts anderes als all die anderen Autoren, die experimentierend versuchen, das Gattungspotential des Ruraldramatischen mit ihren jeweiligen innovativen Entwürfen zu entfalten. Die innovative Haltung, die eben noch nicht auf Konfrontation mit etablierten Normen gehen muß, weil es diese noch gar nicht gibt, klingt in ihren beiden Widmungen an.

Die Handlung des fünfaktigen Versdramas spielt in Arkadien am Tag des wichtigsten religiösen Opferrituals im Jahresverlauf: Beim diesjährigen Opfer sollen zudem zwei Mitglieder der Hirtengemeinschaft von ihrer Trauer und ihrem Liebeskummer geheilt werden. Der Hirte Androgeo ist in die Nymphe Flori verliebt, diese trauert ihrer verstorbenen Freundin Amaranta nach, der sie liebend verbunden war und der sie sich liebend so verbunden fühlt, daß sie jeder neuen Liebe abschwört. Beide, Flori und Androgeo, werden bei dem religiösen Opfer von ihrer jeweiligen Fixierung geheilt. Androgeo findet die Liebe der Licori, die schon immer für ihn schwärmte. Flori verliebt sich platonisch in den aus der Ferne heimkehrenden Alessi, als sie ihm nach dem Opfer begegnet. Alessi ist zur platonischen Gegenliebe zu Flori bereit und auch dazu, mit ihr im Gefolge von Diana zu dienen.

Licori und Flori können den jeweils erwünschten Partner für sich gewinnen. Daß die Frauen sich in der Wahl ihres Partners und auch in der Art der Beziehung, die geführt werden soll, durchsetzen, könnte für die These sprechen, daß die weibliche Emanzipation ein zentrales Anliegen Campiglias gewesen sei. Dazu paßt, daß es die meisten männlichen Figuren nicht schaffen, ihren primären Liebeswunsch zu realisieren. Sie nehmen mit Partnerinnen vorlieb, in die sie nicht von Anfang an verliebt gewesen sind. Flori entscheidet sich für Alessi, Androgeo nimmt Licori zur Frau, als er von seiner Liebe zu Flori geheilt ist. Weil damit Licori vergeben ist, findet Serranos Werbung um diese ein Ende, er gibt sich mit Urania zufrieden. Damit hätte die Schäferhandlung abgeschlossen werden können, die Botschaft wäre gewesen: Alles kommt in Ordnung, die Frauen behalten die Oberhand.

Im zweiten Widmungsvorwort weist Campiglia jedoch darauf hin, daß die ‹wäldliche› boscareccia-Handlung durch «episodi [...] inseriti» deutlich verlängert werde. Diese übertreffen sogar die «attion prēcipale» an Länge. Auch wenn sie gleichsam nur zur Ausfütterung der Handlung dienen, die sie zur perfekten Formung bringen, verändern diese Einfügungen die Gesamtarchitektur und die inhaltlichen Schwerpunkte der Gattung.13

Worum handelt es sich? Ich sehe zwei umfangreichere Einfügungen: Zum einen ist eine Nebenhandlung in die Haupthandlung eingelassen, die die glückliche Zusammenführung der Familie des alten Hirten Tirsi erzählt. Diese Nebenhandlung ist nicht von arkadischen Anliegen bestimmt, sondern der Komödie entlehnt. Tirsi beklagt, daß einer seiner Söhne schon kurz nach der Geburt geraubt worden sei und sich der andere vor zwei Jahren auf- und davongemacht habe. Hier in Arkadien findet Tirsi nicht nur zufällig den jüngeren Sohn Leggiadro wieder, der in den Dienst des Hirten Serrano eingetreten ist, um seiner Geliebten Gelinda, der Schwester Serranos, nahe zu sein, die er endlich ehelichen darf, als sich herausstellt, daß er von einem ehrwürdigen Hirtengeschlecht abstammt. Tirsi findet zudem seinen ältesten Sohn Androgeo wieder, der als Kind geraubt worden ist. Das typische happy ending der Komödie schließt diesen Nebenstrang, der in die pastorale Handlung eingelagert ist und das Stück zu einem Gattungshybrid macht. Es wird zum anderen eine ganz besondere, geradezu ‹unerhörte› Szene in die favola eingebaut, in der die Heilung, die Flori erlebt, von ihr quasi ‹live› kommentiert wird. Es handelt sich um eine spektakuläre, aber auch irritierende Szene, die auch für die Gattungsfrage relevant ist. Denn die pastorale Handlung wird durch die ungewöhnlich präzise Darstellung der Heilung der Flori beim Opfer um eine Szene erweitert, die einen noch nie dagewesenen Einblick in die Psyche der Figur erlaubt. Bei Tasso bieten die langen Monologe Amintas und Silvias Momente der Introspektion, nicht jedoch einen solchen Versuch der unmittelbaren Reflexion einer inneren Wandlung.

Floris ‹live›-Metamorphose

In ihrem Monolog in Szene III, 5, der 156 Zeilen umfaßt, wird sich Flori kurz nach dem Opfergeschehen ihrer Heilung von der obsessiven Liebe zu Amaranta bewußt.14 Sie stellt fest, daß sie sich unmittelbar nach dem Opfer in einen ihr unbekannten Schäfer [Alessi] verliebt hat. Gerahmt von der Schilderung ihrer zögerlichen Gefühle vor der Opferzeremonie «Hoggi non sò per qual cagion negassi / Di ritrouarmi in questo loco [...]»15 und der Schilderung der Ereignisse nach der Opferzeremonie – «Mi uenne fatto di mirar pastore / Dopo l’offerta, non più uisto anchora»16 nimmt der Monolog eine bemerkenswerte Wendung. Die Figur kehrt in Gedanken zu dem Moment der Heilung und des Neuverliebens zurück und vermittelt aus einer subjektiven Perspektive das Geschehen so, als finde es im Moment des Monologs statt. Floris Monolog schaltet quasi in den ‹live›-Modus – und erzählt mit innerer Beteiligung die seelische Metamorphose, die sie erlebt, so, als erlebe sie sie im Moment des Erzählens. Die begleitenden Fragen und Kommentierungen sind so verfaßt, daß sie sowohl im Moment des Geschehens aufgekommen wie auch Teil des Nachdenkens über das Erlebte im Nachhinein sein könnten. Die Figur fragt sich – im Präsens des unmittelbaren Erlebens –, was mit ihr vorgeht und welches die auslösende Kraft oder Instanz dieser Metamorphose ist.

Oimè chi mi trasforma? e chi cangiata
M’hà da lo stato mio
Primiero? ahi chi da gli occhi il uelo toglie
Ch'adombrato haue lor fin’ hora il lume?17

Sie erinnert sich an die Verstorbene und alles, was sie ihr und auch der Jagdgöttin Diana versprochen hat. Sie merkt, daß etwas völlig Neues in ihr aufsteigt und stellt verwundert fest, daß die Trauer von ihr abfällt und daß sie sich erneut der Liebe zuwenden kann.

Ma che? son ebra? ò dadouero sogno?
Huomo non è? non è costui pastore?
Forse non sò quanto lontana viuo
Da cotali pensieri?
La fè ch’à Delia serbo, haurò scordata
E d’Amaranta mia quegli atti cari?18

Die innere Bewegung, die Flori – wohl im Nachhinein – so erlebt, als durchlebe sie sie gerade, wirkt sich bis ins Schriftbild aus, das durch die Folge von unregelmäßig sich abwechselnden sieben- und elfsilbigen Verszeilen die Erschütterung der Figur eindringlich abbildet. Dieses unmittelbare Schildern eines gerade ablaufenden bzw. vor kurzem erlebten inneren Vorgangs dürfte als narrative Herausforderung gegolten haben, die der Gattung favola boschereccia unübersehbar ein neues Element hinzufügt. Ein Element, das einen ungeahnten Einblick in die Seele der Figur erlaubt und gleichzeitig eine Unklarheit erzeugt hinsichtlich der Frage der Authentizität, des Ortes und des Zeitpunkts dessen, was geschildert wird. Offenbar wird die Gattung der favola boscareccia von Campiglia genutzt, um für etwas bisher kaum Sagbares – den seelischen Wandel – eine Formulierung zu finden. Daß sich mit der Erweiterung der Darstellungsmittel auch das Darstellungspotential der Gattung verändert, liegt auf der Hand.

In ihrer Widmung an Isabella Pallavicina Lupi stellt Campiglia mit angemessener Bescheidenheitsrhetorik die mangelnde Perfektion ihres Werkes heraus und bittet sie um Schutz gegen jene, die übel von ihm reden. Denn sie wolle nicht dem üblichen Prozedere folgen und wie eine Mutter ihre Tochter mit allen verfügbaren Mitteln herausputzen und als so verführerisch wie möglich präsentieren. Ihr Werk sei ein «rozzo parto», sei unvollkommen und derb.19

Die Derbheit mag auf die niedere Gattungseinordnung des Produkts einer Verschmelzung von Komödien- und Pastoralgattung verweisen, vielleicht aber auch auf die Rohheit der Kombination. Es könnte sich auch um eine der üblichen Bescheidenheitsformeln handeln, mit denen bedeutende Autoren der Renaissance bisweilen ihre vollendeten Werke als Nebensachen erscheinen lassen. Dies liegt nahe, denn die Autorin nennt unweit dieser Stelle selbstbewußt die positiven Merkmale ihres Textes, der sich durch «intelletto» und «lealtà», durch Intelligenz und besondere Treue auszeichne.20 Vielleicht soll durch die rhetorische Herabstufung ihres Werkes auch das Skandalon gemildert werden, das in dem Kommentar der Hauptfigur über die Wandlung der eigenen Seelen gesehen werden könnte.

Hinsichtlich literarischer Konventionen könnte man die Absage an äußeren Schmuck als Distanzierung, vielleicht sogar als Versuch einer Neupositionierung im Gattungskontext deuten.

Percioche la imperfettione di questo mio poema è tale, che per auentura hà piu bisogno del fauore della sua protettione per farlo rispettare da i maldicenti [...]. Sogliono tutte le madri d’hoggidi douendo far comparir fuori le loro figlie comporle nella piu leggiadra maniera, che si sanno imaginare ricercando à questo effetto i piu riposti, & astrusi cantoni dell’arte il che à me non gioua di fare. Procurando piu tosto d’allontanarmi dal ordinario costume donnesco.21

Ihre Distanznahme hinsichtlich des «ordinario costume» unterstreicht, daß sie eine ganz eigenständige Schöpfung vorlegt, die bisherigen Normen nicht entspricht. Dieses Werk verteidigt sie im zweiten Widmungsvorwort an Curzio Gonzaga selbstbewußt gegen gängige dichtungstheoretische Anforderungen – mit denen sie im übrigen gut vertraut ist.22 Die besonderen Qualitäten ihres Dramas bringt sie mit einem Bild aus dem Schneiderhandwerk – und damit gleichsam mit dem Selbstbewußtsein einer Handwerksmeisterin – zum Ausdruck, indem sie ihren Text mit einer «moderna veste riêpita in alcune parti da ben’accorto artefice (per che un corpo quantunque robusto, paia anchor vie più solido, e più formato)» vergleicht, also mit einem modernen Kleidungsstück, das an einigen Stellen so umsichtig und kunstvoll gefüttert ist, daß ein schon kräftiger Körper noch kraftvoller und formvollendeter wirkt.23

Mit diesem Text bereichert Campiglia das Spektrum der rural-dramatischen Gattungen erheblich: um neues Personal und damit um neues Handlungspotential und um gesteigerte Möglichkeiten der Introspektion.

Isabella Canali Andreini: Mirtilla, pastorale (1588)

Auch wenn es Isabella Andreini gegenüber Maddalena Campiglia weniger schwergefallen sein dürfte, mit ihren Texten Anerkennung zu finden, weil sie als wichtiges Mitglied der Schauspieltruppe der Gelosi mit einer baldigen Inszenierung ihres Dramas Mirtilla rechnen konnte, wird auch sie mit den üblichen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt haben, auf die begabte Frauen in einer männerdominierten Gesellschaft trafen.24 Aber ihre Zielrichtung ist offenbar eine andere: Sie kämpft weniger darum, überhaupt wahrgenommen zu werden, als vielmehr darum, als ebenbürtige Autorin auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden.

Auf inhaltlicher Ebene trifft man zunächst auf eine eher traditionelle Lösung der Liebeskonflikte. Denn es sind bei Andreini – anders als bei Campiglia – durchweg die Schäfer, die die von ihnen erwünschten Liebesverhältnisse realisieren, während die Nymphen nicht die Partner ihrer ersten Wahl bekommen. Diesen Ausgang der Handlung könnte man als Verzicht auf den emanzipatorischen Anspruch und als Zeichen für die übliche Unterwerfung der Frau unter den Mann deuten. Dennoch gibt es Hinweise im Text auf das Bestreben von Frauen, in eine ebenbürtige Lage zu kommen, etwa dadurch, daß eine weibliche Figur eine zur männlichen Macht symmetrische Machtposition erobert. Auf eine knappe Inhaltszusammenfassung folgend wird die Szene zu analysieren sein, aus der dies hervorgeht. Auch an anderen Aspekten der Handlung ließe sich diese Ebenbürtigkeitsbestrebung zeigen, so etwa daran, daß ganz selbstverständlich auch Nymphen einen Sängerwettstreit austragen können oder daß auch zwischen Nymphen eine echte Freundschaft bestehen kann, beides bislang Privilegien der Schäfer.25

In der fünfaktigen, in reimlosen Sieben- und Elfsilbern verfaßten Pastorale Mirtilla (1588) Isabella Andreinis geht es um die zunächst chaotisch verlaufenden Liebesbegehren innerhalb einer Gruppe von Nymphen und Schäfern, die sich in der Realisierung ihrer Liebeshoffnungen gegenseitig blockieren: Uranio wird von zwei Nymphen begehrt, von Mirtilla und Fillide. Er selbst begehrt Ardelia und wird sie nach dem Ratschluß Amors auch erhalten, obwohl sie Diana die Treue halten will.

Auch im Falle Mirtillas und Fillides wird Amor eingreifen und sie von Uranio abbringen, so daß sich der Wunsch des Schäfers Igilio realisieren kann, Fillide zu gewinnen. Die Titelfigur Mirtilla wird sich – so will es Amor – Tirsi zuwenden, dem einzigen Bewohner dieses Landstrichs, der von der Liebe nichts wissen will. Tirsi entwickelt erst im vierten Akt, also spät im Verlauf des Stücks, – sehr spontan – den Liebeswunsch, den er umgehend und mit Erfolg auf Mirtilla richtet.

Die komplexe Ausgangslage führt zu einer glatten Auflösung der Liebesbegehren zugunsten der Präferenzen der Schäfer Uranio und Igilio sowie des Jägers Tirsi.

Es fällt schwer, in der Auflösung, die dem männlichen Liebeswunsch Erfüllung gestattet und die Partnerwünsche der Frauen ignoriert, den Effekt einer wie auch immer gearteten feministischen Perspektive zu sehen. Die zentrale innovative Wendung der Handlung dürfte jedoch eine solche Perspektive untermauern. Denn wenigstens einer weiblichen Figur, Fillide, die auf der Bühne von Isabella Andreini inkarniert wurde, gelingt ein unerhörter Sieg über eine männliche Figur. Der Sieg über den Satiro läßt sich in feministischer Perspektive als Ausdruck von erreichter Ebenbürtigkeit der Frau deuten. Die männliche Figur des Satiro erfährt eine radikale Abwertung, denn sein Liebesbegehren wird nicht nur abgewiesen, sondern die gesamte selbstverständliche männliche Sieger-Perspektive wird durch diese denkwürdige Niederlage unterminiert – und dies sogar auf Dauer.

In einem kurzen Monolog bringt Fillide am Anfang des 3. Aktes zum Ausdruck, sie sei einer Bestrafung, eines «castigo» würdig, weil sie den nicht liebe, der sie liebt.26 Dabei meint sie Igilio, spricht diesen Namen jedoch nicht aus.

Der Satiro wird Ohrenzeuge ihrer Reflexion, die er offenbar falsch versteht und auf sich bezieht. Denn der Satiro ist seinerseits seit zehn Monaten in Fillide verliebt, ohne daß sie ihn erhört hat. Er will eine List, einen «inganno» (f. 30v) oder einfach Gewalt anwenden, um sie zu ergreifen. Ihm gelingt es, sie zu umarmen und sie damit gleichsam zu fesseln. Als sie gefangen ist, verlangt er von ihr, ihm einen Beweis ihrer Liebe zu geben: Er bittet sie zunächst fast höflich, geht dann aber augenblicklich zu Drohungen über, die sogar eine Tötung einschließen.

Sat. [...]
Di qui non partirai, s’a le mie pene
Non dai qualche mercede.
E quando tu non voglia a l’arso core
Dar qualche refrigerio, ingrata voglio
Nuda legarti a quella dura Quercia,
Oue con stratio finirai tua vita.27

Sie allerdings bringt ihn durch listig eingesetzte Rhetorik, Komplimente und falsche Versprechen dazu, sich ihr auszuliefern. Sie wickelt ihn geradezu um den Finger, indem sie ihm erklärt, sie liebe ihn und sei durch das Funkeln seiner Augen von ihm eingenommen.

Fil. Mercede, ahime mercede
Nume Caprigno; ascolta
Prima le mie preghiere,
Deh, che gloria ti sia
Di uincere una Ninfa
Che già uinta si chiama
Da lo splendor de le tue chiare luci.28

Um sich zu befreien greift Fillide zu einem leicht durchschaubaren Meineid und hofft, ihren Gegner durch Liebesbeteuerungen günstig zu stimmen, was auch gelingt.

Fil. Io giuro per le tue robuste braccia,
E per la uaga tua cornuta fronte,
Ch’io non ti beffo; nè beffar ti uoglio.
Sat. Dunque, Fillide, m’ami, e dar mi uuoi
Del mio fido seruir premio condegno?
Fil. Io t’amo certo; e qual Ninfa ti uide
Giamai, che non ardesse? tu sei tale
Che chi ti mira, e poi non t’ama, credo,
Che sia composto di Caucasea pietra.29

Aus der bedrängten Lage heraus hilft ihr nur gesteigerte Unwahrheit. So beteuert sie ihm gegenüber ihre Liebe. Der Liebesschwur gipfelt in einem mißratenen hyperbolischen Vergleich, der ihre Rede geradezu ironisch überhöht: Wer den Satiro nicht liebe, sei aus hartem kaukasischem Fels. Allerdings wird sich zeigen, daß sie ein Wesen von genau solchem unnachgiebigen Material ist. Auf die Frage, warum sie ihre Liebe nie gezeigt habe, behauptet sie, sie habe so gehandelt, um seine Liebe zu erproben:

Fil. Questo feci
Per far proua di te, dolce mia vita.30

Sie tut – ganz Strategin – so, als habe sie bislang nur das angemessene konventionell zurückhaltende Verhalten einer sittsamen Frau an den Tag gelegt. Doch nun, da die Liebe erklärt sei, könne sie ihre Zuneigung zeigen. Der Satiro will sich nach diesem für ihn unerhofften Liebesgeständnis mit einem Kuß zufriedengeben und läßt sie los:

Sat. [...]
Da le dolci parole, alme, e gradite,
Assicurato, in libertà ti rendo,
Luce di queste luci, e per certezza
Di quel che tu m’hai detto, un bacio chieggio
Da quella vermigliuzza, e bella bocca.31

Sie betont ihr «desiderio, ch’io / Hò di seruirti» und erklärt ihm, sie liebe ihn.32 Unter der Bedingung, daß er sich die Arme binden lasse, wolle sie einen Kuß akzeptieren. Damit ist der Satiro besiegt. Da sie ihm nun das Herz gebunden habe, sei er nicht dagegen, sich auch die Arme binden zu lassen. Sobald sie ihm die Arme gebunden hat, eröffnet sie ihm, daß sie nicht bleiben könne. Sie nimmt ihm das Versprechen ab, daß er keinen Groll gegen sie hege. So gelingt es der schlauen Nymphe, den Satiro zu betören und ihn zu fesseln. Fillide könnte es dabei belassen und fliehen – denn nun bestände Gelegenheit dazu –, doch sie rächt sich an dem Satiro auf eine bemerkenswerte Weise. Sie verhöhnt ihren Widersacher, setzt ihn herab und mißhandelt ihn körperlich.33

Zunächst bindet Fillide ihn fester, als es nötig wäre. Als er sich beklagt, verheißt sie ihm den Kuß.

Sat. Non stringer così forte.
Fil. Datti pace,
E soffri per un poco:
Perche quanto più stretto
Ti lego, tanto più sicuramente
Ti baciero dipoi.
Sat. Or sù fà presto.34

Er kann das «desiato fine» nicht erwarten.35 Dieses naht, aber ganz anders, als er es sich gewünscht hat. Um an den vermeintlich begehrten Mund zu kommen, hängt sie sich an seinen Bart und zieht mit ihrem ganzen Gewicht den Kopf herunter.

Fil. Di questo mi rallegro; ma, cor mio,
Tu sei sì grande, ch’io non posso aggiungere
Al ben diserato, & è bisogno,
Che con ambe le man m’appigli un tratto
A la tua bella barba:
In questo modo, china bene il capo.36

Nun beginnt Fillide, den Satiro auf eine Weise zu quälen, die man wohl Folter nennen kann. Denn sie hängt sich nicht nur an seinen Kopf und beugt ihn, sie sticht ihn auch in die Brust und läßt selbst dann nicht ab von ihm, als er sich beklagt und sie mehrfach bittet, nicht weiterzumachen. Ihm gegenüber bezeichnet sie ihre Handlungen als «carezze», obwohl diese auf die Zufügung von Schmerz gerichtet sind:

Fil. In fine non mi posso contendere
D’accarazzarti.37

Der Satiro wundert sich – «O che belle carezze» – und verlangt den versprochenen Kuß.38 Obwohl er sich schon in der Gewalt Fillides befindet, läßt er von seinen gewohnten Drohungen nicht ab, und dies obwohl er erkennen müßte, daß er nicht mehr in der Lage ist, seine Drohungen in die Tat umzusetzen. Er meint sogar, sie mit der Drohung beeindrucken zu können, daß er sich eine andere Nymphe suchen könne:

Sat. Baciami presto, che farem la pace;
E, se tu non mi baci, voglio darti
Cattiua vita, e trouerommi un’altra
Ninfa amorosa.39

Küßt du mich nicht, mache ich dir das Leben schwer! Sollte es diese Blindheit und Unbelehrbarkeit des Satiro sein, die letztlich begründet, warum sich Fillide auf eine Weise verhält, die man als unverhältnismäßig einstufen würde, die jedoch offenbar geeignet ist, ihrem Gefangenen etwas entgegenzusetzen, der unablässig Gewalt androht? Sie fügt ihm nicht nur Schmerzen zu, sie verhöhnt ihn zudem. Als er sich beschwert, wirft sie ihm vor, ihre Wohltaten nicht (angemessen) zu genießen.

Fil. Ah discortese
Dimmi, ond’auuien, ch’ogni cosa t’offende
Di quel, ch’io fo? e pur n’è testimonio
Il Ciel, che tutto uien da troppo Amore.40

Sie spielt so überzeugend die Enttäuschte, daß der gerade noch übel mißhandelte Satiro dazu bewegt wird, sie zu trösten, obwohl er sich doch in ihrer Gewalt befindet. Als der Satiro meint, er habe nun genug, gibt sie vor, aus Verzweiflung zu weinen.

Sat. Non dar sì forte; hora che insania è questa,
Che sempre mi fai male?41

Darauf spielt sie ihm Verzweiflung vor.

Fil. Voglio
Mostrar, d’esser afflitta, ohime dolente,
A che son’io ridotta; l’Idol mio
Si sdegna, perche troppo l’accarezzo,
Che deggio dunque far? che far poss’io?42

Der Satiro, der immer noch nicht verstanden hat, daß sie ihn in der Hand hat, will ihr noch helfen und bietet ihr an, sie zu trösten und mit ihr Frieden zu schließen, um den von ihm verlangten Kuß zu erhalten.

Sat. S’io non soccorro questa meschinella,
Di dolor certo finirà sua uita.
Filli, non t’attristar, facciam la pace;
E per segno di quella vieni homai
A baciare il tuo bene, e la tua vita:43

Nun foppt sie ihn nach allen Regeln der Kunst und lobt mit unüberhörbarer Ironie seine Stimme, die man sich meckernd vorstellen darf wie es sich für ein Wesen gehört, das halb Mensch, halb Ziege ist.

Fil. Ohime, par che lo spirto si rinfranchi,
Alla dolce harmonia de le tue voci; [...].44

Sie stellt ihm weiterhin den Kuß in Aussicht, verlangt jedoch zuvor, daß beide Kräuter essen, um den Atem zu verfeinern. Als der Satiro merkt, daß sie ihm statt des versprochenen Thymians ein bitteres Kraut reicht, fragt er sie, ob sie ihm einen Streich spielen wolle. Ihm dämmert endlich, daß sie etwas vorhat. Nun klärt sie ihn auf:

Fil. O mal accorto
Hor hai pur finalmente conosciuto,
Ch’io mi beffo di te. Qual Donna mai,
Ben che diforme, e uile si compiacque
D’amar sì mostruoso horrido aspetto?45

Als er sie bittet, ihn wenigstens loszubinden, damit er nicht zum Ziel des Scherzens der anderen Nymphen werde, hat sie nur Spott für ihn übrig. Sie macht damit unmittelbar deutlich, daß sie in der Lage ist, die instinktgesteuerte, triebhafte Männlichkeit, die der Satiro repräsentiert, in Schach zu halten, ja, über sie zu triumphieren. Welch eine Bravourszene für die begnadete Schauspielerin! Sie kann in dieser Szene das gesamte Repertoire an Verstellungen spielen, die Liebende nutzen, um das interne Machtverhältnis zwischen Mann und Frau auszuhandeln: Verführung, Weckung von Erwartungen, gespielte Enttäuschung und gespielte Verzweiflung. Der Satiro ist froh, als er kurze Zeit später durch den Ziegenhirten Gorgo von seinen Fesseln befreit wird. Seine Lektion hat er gelernt und entscheidet sich dazu, sich dem Gefolge des Bacchus anzuschließen. Da Bacchus traditionell nicht in die Sphäre des Waldes gehört, der von den Schäfern bevölkert ist, bedeutet dies, daß der Satiro nun den Wald Arkadiens verlassen wird.

Die Nymphe Fillide stellt in dieser zweiten Szene des dritten Aktes ihre Fähigkeit unter Beweis, ein Wesen, das sie zur Liebe zwingen will, zu bändigen und zurechtzuweisen. Die Gewalt, die sie in dieser Szene ausübt, scheint gerechtfertigt zu sein als Gegengewalt gegen den Satiro, der für gewalttätiges Verhalten bekannt ist und von Beginn der Szene an mit Gewalt droht. Die Nymphe muß schon zu einem wenig angemessen erscheinenden Mittel greifen, zum Übermaß an Gewalt, um sich des Angreifers ebenbürtig zu erweisen. Fillide ist die, die sich zutraut, bewußt genau die Mittel gegen den Satiro einzusetzen, die dieses halb menschliche, halb göttliche Wesen für normal im Umgang, insbesondere mit Frauen, hält.

So gelingt es Fillide, eine Machtposition zu erobern, die symmetrisch zu der des Satiro ist. Als dieser sich schon in ihrer Gewalt befindet, stößt er weiterhin seine Drohungen aus, die Fillide nur durch weitere Gewalt und nicht etwa durch Einlenken unter Kontrolle halten kann. So kann sie ihm ein für alle Mal begreiflich machen, daß er sich selbst damit eben den Schmerzen und der Bloßstellung aussetzt, mit denen er die Nymphen gern bedroht.

In dieser beeindruckenden Szene wird vorgeführt, daß die gewitzte Nymphe dem männlichen rücksichtslosen Liebeswunsch – in Gestalt des Satiro – nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern diesem etwas entgegensetzen kann. Nur durch das Besetzen einer symmetrischen Machtposition kann das ein Schicksal wie das der Silvia verhindert werden, die in Tassos Aminta von dem Satiro überfallen und übel behandelt wird.

Daß es einer Frau ohne männlichen Retter gelingt, dem Satiro eine solche Lektion zu erteilen und ihn sogar dazu zu bringen, den Wald zu verlassen, zeigt, daß Andreini ihren weiblichen Figuren eine ganz neue Rolle und ein deutlich erweitertes Handlungsspektrum zuschreibt, angesichts dessen die Einwilligung in Liebesverhältnisse zu Schäfern, die zunächst nicht die erste Wahl waren, wenig wiegt. Denn es wird nun vorgeführt, daß eine Nymphe nicht wehrlos ist, sondern sich sogar gegen eine Figur behaupten kann, die ihr an Kraft und Gewalttätigkeit überlegen ist. Dies ist sicherlich noch kein feministisches Manifest, aber es zeigt doch, daß es einer Autorin gelingt, eine der weiblichen Figuren über die üblichen Rollenzuschreibungen hinaus mit Attributen und Handlungsoptionen auszustatten, die ihre Position im gegebenen Rollen- und Handlungsschema jener Gattung aufwertet, in der es zentral darum geht, die Möglichkeiten von selbstbestimmter Paarbeziehung durchzuspielen.

Heutzutage dürfte ein Verhalten, wie es die Nymphe zeigt, schockieren, da sie die körperliche Mißhandlung auch noch mit Spott verbindet und ihren Gegner zudem moralisch vernichtet. Im Theater des 16. Jahrhunderts ist eine solche Mißhandlung und Demütigung des Satiro ganz und gar einmalig. Andreinis Mirtilla bringt damit eine ganz neue Tonalität in die Gattung der Pastorale, zu der bis 1588 vier Texte gezählt werden können. Mit der Wahl der Bezeichnung «pastorale» setzt sich Andreini von der deutlich sichtbareren Gattung der favola pastorale ab, einer Gattungsbezeichnung, die bis 1588 deutlich häufiger gewählt wurde – für elf Texte.

Conclusio

Die beiden betrachteten Texte könnten kaum unterschiedlicher sein. Die deutlichsten Unterschiede liegen in der Gattungswahl, in den von den Autorinnen verfolgten Strategien, Antworten auf die ‹questione della donna› zu finden und ihren Figuren neue, bisher unbekannte Verhaltensmöglichkeiten zu erschließen.

Wählt Campiglia die Erfolgsgattung «favola boschereccia», so greift Andreini zu der eher raren Gattung der «pastorale». Beide verändern die sich langsam herausbildenden jeweiligen Gattungsmuster: Campiglia durch die Hybridisierung mit der Komödie sowie durch den ‹Live-Bericht› von der Seelenheilung mit seiner extrem gesteigerten Unmittelbarkeit der Darstellung der inneren Vorgänge, die Flori bei ihrer Genesung erlebt; Andreini durch eine unerhörte Konfrontationsszene zwischen einer Nymphe und dem Satiro, an der ein Rezept für den erfolgreichen Kampf gegen Tyrannen vorgeführt wird.

Die Gattungsveränderungen stehen im Dienst von Aussagen, die bei beiden Autorinnen neue Möglichkeiten zwischenmenschlicher Relationen aufscheinen lassen, die beide durchaus utopischen Charakters sind, hier jedoch als real vorgeführt werden. Campiglia zeigt, daß die Initiativen der Frauen – auch wenn sie zwischenzeitlich in Frage gestellt werden – letztlich von Erfolg gekrönt sind. Die Frauen setzen sich in ihrer Liebespräferenz durch und können hinsichtlich der Lebenspartnerschaften dezidiert eigene (auch ungewöhnliche) Wege gehen und Männer dazu bringen, diese Wege mitzugehen. Die neue weibliche Freiheit liegt eher auf der Ebene von inneren Wertentscheidungen sowie auf dem Recht, einen Weg zu wählen, der mit diesen Entscheidungen konvergiert.

Bei Andreini bemißt sich der Erfolg der Frauen an der selbstverständlichen, ebenbürtigen Handlungsfreiheit, die aus der Überlegenheit des Geistes über die rohe Gewalt des Satiro resultiert. In Andreinis Mirtilla stehen den Nymphen selbstverständlich bisherige männliche Verhaltensoptionen offen. Im Lichte dieser Ebenbürtigkeit mit Blick auf habituelle Verhaltensnormen ist es weniger ausschlaggebend, daß sie sich in Liebesdingen eher werben lassen als eigene Präferenzen durchzusetzen.

Literatur

Primär

Andreini Canali, Isabella. Mirtilla. Pastorale.

In Verona: appresso Girolamo Discepolo, 1588;
In Verona: appresso Sebastiano dalle Donne, & Camillo Franceschini, 1588;
Di nuouo dall’istess riueduta, & in molti luoghi abbellita. In Bergamo: per Comin Ventura, 1594;
In Venetia: appresso Marc’Antonio Bonibelli, 1598;
In Verona: Francesco Delle Donne & Scipione Vragnano suo genero, 1599;
In Venetia: appresso Lucio Spineda, 1602;
In Venetia: appresso Domenico Imberti, 1616;
Lucca: Pacini Fazzi, 1995, hg. v. Maria Luisa Doglio.

Beolco, Angelo. La Pastoral [verfaßt 1521]. In: Tutte le opere. Vicenza: Domenico Amadio, 1617.

Campiglia, Maddalena. Flori; fav. boscareccia di Maddalena Campiglia. In Vicenza presso gl’heredi di Perin Libraro, & Tomaso Brunelli compagni 1588.

Übersetzungen und Neuausgaben

Andreini Canali, Isabella. Myrtille, bergerie d’Isabelle Andreini trad. en prose par Adradan. Paris: Matthieu Guillemot, 1602.

Andreini Canali, Isabella. Mirtilla. Translated with an introduction and notes by Julie D. Campbell. Tempe, Ariz.: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studi, 2002.

Andreini Canali, Isabella. Mirtilla. A Pastoral. A bilingual edition. Hg. v. Valeria Finucci. Üb. von Julia Kisacky. Toronto: Ontario Iter Press/Tempe, Arizona: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, 2018.

Campiglia, Maddalena. Flori, a Pastoral Drama. A bilingual edition, ed. and with an introduction and notes by Virginia Cox and Lisa Sampson. Üb. von Virginia Cox. Chicago: University of Chicago Press, 2004 (The other voice in Early Modern Europe).

Sekundär

Campbell, Julie. «The Querelle over Silvia: La Mirtilla and Aminta in Dialogue». Kapitel 2 von Dies. Literary Circles and Gender in Early Modern Europe. A Cross-Cultural Approach. Aldershot: Ashgate Publishing Company, 2006, S. 51―72.

Cox, Virginia and Sampson, Lisa. «Volume Editors’ Introduction». In: Maddalena Campiglia. Flori, a Pastoral Drama. A bilingual edition, ed. and with an introduction and notes by Virginia Cox and Lisa Sampson. Chicago: University of Chicago Press, 2004, S. 1―35.

Cox, Virginia. The Prodigious Muse: Women’s Writing in Counter-Reformation Italy. Baltimore, Md.: The Johns Hopkins Univ. Press, 2011.

De’Angelis, Francesca Romana. La divina Isabella: vita straordinaria di una donna del Cinquecento. Firenze: Sansoni, 1991.

Finucci, Valeria. «Isabella Canali Andreini». In: Marrone, Gaetana and Puppa, Paolo (Hg.). Encyclopedia of Italian Literary Studies, Vol. I (A―J), New York-Londra, Routledge, 2007.

Ferracuti, Alexia. «Reflections of Isabella: Hermaphroditic Mirroring in Mirtilla and Giovan Battista Andreini’s Amor nello specchioCalifornia Italian Studies, vol. 5, no. 2, 2014, S. 125―154.

Jaffe-Berg, Edith. «La Mirtilla by Isabella Andreini (review)». Early Modern Women, Volume 14, Number 1, Fall 2019, S. 172―174. https://doi.org/10.1353/emw.2019.0054, 2.6.2020.

Jordan, Peter. The Venetian Origins of the Commedia dell’Arte. London, New York: Routledge, 2014.

Lammertink, Colin. Le Isabelle di Isabella. Femminilità queer come strumento critico. Tesi di laurea di lingua e cultura italiane, Università di Utrecht, Juni 2019, https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwiXtausx-PpAhWW3YUKHYH4A94QFjABegQIAhAB&url=https%3A%2F%2Fdspace.library.uu.nl%2Fbitstream%2Fhandle%2F1874%2F382404%2FLe%2520Isabelle%2520di%2520Isabella%2520-%2520Femminilita%2520queer%2520come%2520strumento%2520critico.pdf%3Fsequence%3D2%26isAllowed%3Dy&usg=AOvVaw2SImsX24crOEYC10T8pQJe, 2.6.2020.

Lohse, Rolf. Renaissancedrama und humanistische Poetik in Italien. München: Fink, 2015.

Riverso, Nicola. «La Mirtilla: Shaping a New Role for Women». MLN (Modern Language Notes) 132 (2017), S. 21―46.

Ruiz, Reina [Konferenzankündigung an der University of Maryland, 2006]. http://www.crbs.umd.edu/atw/atw6/program/descriptions/0325_bortoli.html, 2.6.2020.

Saccotelli, Cinzia. «La Mirtilla di Isabella Andreini». Kepos – Semestrale di letteratura italiana 1 / 2019, S. 1―21. http://www.keposrivista.it/wp-content/uploads/2019/08/Saccotelli_Kepos2019.pdf, 31.5.2020.

  1. Cox/Sampson 2004, Cox 2011, Campbell 2006, 2018.
  2. Die erfolgreichsten beiden Schäferdramen sind Aminta von Torquato Tasso, das im Jahr 1573 uraufgeführt und im Jahr 1580 gedruckt wird, und Il pastor fido von Battista Guarini, dessen Erstausgabe im Jahr 1590 erscheint und das möglicherweise bald darauf, sicher belegbar jedoch im Jahr 1595 erstmals aufgeführt wird. Beide Dramen werden über Jahrzehnte weit über die Grenzen Italiens hinaus rezipiert.
  3. Beide Texte zählen zum Korpus meiner umfassenden Untersuchung zur Gattungsinnovation im Renaissancetheater. Lohse 2015. Der im vorliegenden Aufsatz diskutierte Gesichtspunkt, der zur Korrektur einiger dort gemachter Feststellungen führt, stand 2015 nicht im Zentrum der Überlegungen.
  4. In der Sekundärliteratur wird gerne auf die Vorbildrolle der genannten Texte Tassos und Guarinis für das Schaffen Campiglias und Andreinis hingewiesen, zum Beispiel Riverso 2017, S. 22 oder Ferracuti 2014, die ein seltsames Amalgam von Tasso und Andreini postuliert: «Filli, both a second Aminta (as Silvia’s rescuer) and a second Silvia (as the nymph) saved from the Satyr.» Ferracuti 2014, S. 134. Ob solche Hinweise nützlich sind, darf jeder für sich entscheiden. Daß sich Autorinnen und Autoren an Vorbildtexten abarbeiten, ist gar nicht zu bezweifeln. Diese Feststellung bleibt jedoch trivial, wenn nicht deutlich gemacht wird, welche ggf. affirmative, abweichende oder gegenläufige Position formuliert wird. Die von Ferracuti benannten Szenen sind nur bedingt vergleichbar, denn während bei Tasso der Satiro die Nymphe Silvia fesselt und schließlich von Aminta vertrieben wird, geschieht bei Andreini etwas ganz anderes zwischen dem Satiro und der Nymphe Fillide.
  5. Häufig enthalten diese Texte sogar verschlüsselte Hinweise auf lebende Persönlichkeiten an bestimmten Höfen. Siehe Saccotelli 2019, S. 17.
  6. Siehe Lohse 2015, insbesondere Kap. 3.4. Die Beliebtheit dieser Gattung läßt sich mit jener heutiger Vorabendserien vergleichen, die ebenfalls zumeist privilegierte junge Menschen verschiedenen Charakters zeigen, die sich in je unterschiedlichen Konstellationen und wechselnden Situationen mit der Lösung der Frage nach dem Wer-mit-wem und dem Wer-mit-wem-nicht abmühen – sehr zum Vergnügen eines ebenfalls jüngeren Publikums, das bekannte und weniger bekannte Muster der zwischenmenschlichen Interaktion entdecken, Mißgeschicke und Scheitern aus sicherer Distanz miterleben und sich auf Überraschungen bis zur letzten Minute einstellen kann, welche die intelligenteren Szenarios vorsehen, um die Zuschauer auch bis zur Entstehung der finalen Paare spannungsvoll zu unterhalten.
  7. Die Tradition des Experimentierens ist seit den frühesten Stücken dieses Gattungskontexts ungebrochen. Das zeigt sich schon an Beolcos Pastoral (1521). Dieses überschäumende Stück steht zwar aus chronologischen Gründen außerhalb der favole pastorali der zweiten Jahrhunderthälfte, aber es zeigt, daß diese Gattung schon Jahre zuvor als grundlegend innovativ gilt. Beolco, mit Bühnenname «Ruzzante», bringt die Gattungsmodelle der Komödie, des Schäfer- und des Bauerndramas zur Kollision, die bis dato unabhängig voneinander gepflegt wurden. Das Resultat führt aus bestehenden Gattungskonfigurationen hinaus. Man wird daher nicht davon sprechen können, daß 1588 eine gefestigte Gattungstradition im Feld des Ruralen besteht, allenfalls eine Tradition des Experimentierens mit Handlungen, Figuren, Schauplätzen.
  8. Zudem sollte man den Autoren zu einem höheren Grad Glauben schenken als den Herausgebern oder Druckern, die die Texte durchaus anders einordnen können.
  9. Campiglia 1588, f. † 5v, meine Hervorhebungen: Ich glaube, daß diese [favola], die von einer Frau verfaßt wurde, die vielleicht zu einer solchen Aufgabe nur wenig befähig war, [wenigstens] gelesen werden sollte, wenn nicht mit Lob, so doch mit Unterstützung. Diese und die weiteren Übersetzungen stammen vom Verfasser. Die Seitennumerierung folgt dem Orginal, «f.» steht für foglio. Mit Sonderzeichen wie dem «†» wurden die Seiten von Abschnitten eines Buches markiert, die Vorworte und Widmungen enthalten.
  10. Andreini 1594, 4. N.B. Da mir keine der Ausgaben aus dem Jahr 1588 vorliegt, stammen die Zitate aus der von Andreini korrigierten Ausgabe des Jahres 1594: Ich habe mich bemüht, denen zu gleichen, die in den schneebedeckten Alpen geboren und aufgewachsen sind oder auf unfruchtbaren Feldern und die dennoch nicht darin nachlassen, diese mit all ihrer Kraft zu bebauen, um sie so fruchtbar wie möglich zu machen. Der menschliche Geist ist eine allzu göttliche Gabe, und die, die eine solche rare Gabe mit lauwarmem Nichtstun verkommen lassen, verdienen es nicht, unter die Menschen gezählt zu werden.
  11. Campiglia 1588, f. † 2, f. † 4v, f. † 4. Hinsichtlich des Gattungsbegriffs ist mir beim Exzerpieren für meine Untersuchung über das italienische Renaissancedrama bedauerlicherweise ein Fehler unterlaufen. Ich habe die Gattung des Texts fälschlich als favola pastorale boscareccia bezeichnet, so daß die vorgenommenen Einordnungen nicht zutreffen. Lohse 2015: S. 531, 547, 554, 600, 615, 620f., 625, 669. Richtigerweise müßte das Drama in die Gruppe der _favola boscareccia_ eingeordnet werden. Lohse 2015: S. 549, 667. Die Überlegungen zur Gattungszugehörigkeit von Campiglias Text sind daher entsprechend zu korrigieren. Lohse 2015, S. 620―622.
  12. Cox/Sampson 2004, S. 18, siehe dort auch S. 15, 21, 23, 31.
  13. Campiglia 1588, f. † 5.
  14. Campiglia 1588, f. 29―31v, Zeilen 85―240.
  15. Campiglia 1588, f. 29, Zeilen 91―92. Ich weiß nicht, warum ich mich heute weigerte / mich an diesem Ort aufzuhalten.
  16. Campiglia 1588, f. 30v, Zeilen 196―197. Da passierte es, daß ich einen Hirten erblickte / nach dem Opfer, den ich vorher noch nie gesehen hatte.
  17. Campiglia 1588, f. 29v, Zeilen 116―119: Ach, wer verändert mich? Wer hat mich / Aus meinem vorherigen Zustand / Gerissen? Oh, wer hebt den Schleier von meinen Augen / Der bis gerade jetzt das Licht verschattet hat?
  18. Campiglia 1588, f. 31, Zeilen 219―223: Aber was? Bin ich betrunken? Oder träume ich wirklich? / Ist das nicht ein Mann? Ist er nicht Schäfer? / Weiß er vielleicht nicht, wie weit entfernt ich / Von solchen Gedanken lebe? / Sollte ich die Treue, die ich Diana halte, vergessen haben / Und das liebe Tun meiner Amaranta?
  19. Campiglia 1588, f. 31, † 3.
  20. Beide Zitate Campiglia 1588, f. † 3v.
  21. Campiglia 1588, f. † 2v―† 3v: Weil die Unvollendetheit dieser meiner Dichtung so ist, daß sie wahrscheinlich eher Euren Schutz benötigt, damit die Verleumder sie respektieren [...]. Alle heutigen Mütter pflegen, wenn sie ihre Töchter draußen erscheinen lassen müssen, sie in der verführerischsten Haltung auftreten zu lassen, die sie sich vorstellen können und suchen, um dieser Wirkung willen die entlegensten und verworrensten Gebiete der Kunst, was mir zu tun nicht angebracht erscheint. Ich sorge mich daher eher, mich von der üblichen Damensitte zu entfernen.
  22. Siehe Campiglia 1588, f. † 5―† 5v. Cox/Sampson 2004, S. 14.
  23. Campiglia 1588, f. † 5v―† 6.
  24. Isabella Canali ehelicht 1578 mit sechzehn Jahren Francesco Andreini (1548, Pistoia―1624, Mantua) und wird in der von ihm geleiteten Schauspieltruppe I Gelosi zu einer der berühmtesten europäischen Schauspielerinnen ihrer Zeit. Siehe De’Angelis 1991.
  25. Andreini 1594, Akt III, Szene 5, f. 39.
  26. Siehe Andreini 1594, f. 30v.
  27. Andreini 1594, f. 23 [=31]. Blatt 31 des Textes trägt im Druck fälschlicherweise die Nummer 23: Von hier wirst du nicht fortkommen, wenn du mir für meine Mühen / Nicht einen Lohn gibst. / Und wenn du dem brennenden Herzen nicht eine Kühlung geben willst, Undankbare, dann will / Nackt ich dich an diese harte Eiche binden, wo du unter Qualen dein Leben beenden wirst.
  28. Andreini 1594, f. 23 [=31]: Gnade, ach Gnade / Ziegengott; höre / Zuerst meine Bitten; / Sag, welchen Ruhm würdest du gewinnen, / Eine Nymphe zu besiegen, / Die sich schon gewonnen sieht / Vom Leuchten deiner hellen Augen?
  29. Andreini 1594, f. 23v [=31v]: Fil. Ich schwöre dir bei deinen kräftigen Armen / Und bei deiner hübschen gehörnten Stirn, / Daß ich mich über dich nicht lustig mache; und auch nicht lustig machen will. / Sat. Also, Fillide, liebst du mich und willst mir / Für mein treues Dienen den würdigen Preis geben? / Fil. Ich liebe dich ganz sicher, und welche Nymphe hätte Dich gesehen / Und wäre nicht entflammt? Du bist so, / Daß, wer dich auch anschaut und nicht verliebt ist, so glaube ich / Aus kaukasischem Fels gemacht sein muß.
  30. Andreini 1594, f. 23v [=31v]: Dies tat ich, / Um dich zu prüfen, mein süßes Leben.
  31. Andreini 1594, f. 23v [=31v]: Von den süßen, hochherzigen und willkommenen Worten / In Gewißheit versetzt / Gebe ich dich frei, / Licht dieser Lichter, und um das zu besiegeln, / Was du mir gesagt hast, erbitte ich einen Kuß / Von diesem roten, schönen Mündchen.
  32. Andreini 1594, f. 32: den Wunsch, den ich habe, / Dir zu dienen.
  33. Edith Jaffe-Berg spricht in ihrer Rezension über eine szenische Lesung der Mirtilla an der University of Southern California (USC) im Jahr 2019 von «torturing» (Jaffe-Berg 2019, S. 174). Nichts weist auf den «burlesque twist in the representation of violence» hin, von dem Reina Ruiz verharmlosend in ihrer Konferenzankündigung an der University of Maryland im Jahr 2006 spricht. Ruiz 2006.
  34. Andreini 1594, f. 32v: Sat. Zieh nicht so fest an. / Fil. Beruhige dich / Und leide einen kleinen Moment: Denn je fester ich / Dich binde, umso sicherer / Küsse ich dich dann. / Sat. Dann mach schnell.
  35. Andreini 1594, f. 32v: das erwünschte Ziel.
  36. Andreini 1594, f. 33: Darüber freue ich mich: aber mein Herz / Du bist so groß, daß ich nicht heranreiche / An das begehrte Gut, und daher ist es nötig, / Daß ich mich mit beiden Händen etwas / An deinen schönen Bart hänge: / So beugt sich der Kopf gut.
  37. Andreini 1594, f. 33v: Zu guter Letzt kann ich mich nicht zurückhalten, / Dir Zärtlichkeiten zuzufügen.
  38. Andreini 1594, f. 33v: O, welch schöne Zärtlichkeiten.
  39. Andreini 1594, f. 33v: Küsse mich rasch, damit wir uns versöhnen; / Und wenn du mich nicht küßt, will ich dir / Das Leben schwer machen, und werde eine andere / Liebende Nymphe zu finden wissen.
  40. Andreini 1594, f. 33v: O du Unhöflicher / Sage mir, woher es kommt, daß dich alles beleidigt, / Was ich tue? Und das wo doch der Himmel / Mein Zeuge ist, daß all das von einem Zuviel an Liebe kommt.
  41. Andreini 1594, f. 33v: Tu mir nicht so heftig weh; was ist das für ein krankes Tun, / Daß du mir dauernd wehtust?
  42. Andreini 1594, f. 33v: Ich will / Dir zeigen, wie traurig, o wie leidend / Wie sehr ich zunichte gemacht bin; mein Idol / Empört sich, weil ich ihn zusehr liebkose. / Was soll ich da machen? Was kann ich tun?
  43. Andreini 1594, f. 33v―34: Wenn ich diesem armen Mädchen nicht zur Hilfe eile / Wird vor lauter Schmerz sicher ihr Leben enden; / Filli, sei nicht traurig, schließen wir Frieden; / Und als Friedenszeichen komme nur / Und küsse dein Gut und dein Leben.
  44. Andreini 1594, f. 34: O, es scheint, daß der Mut sich stärkt / Beim süßen Wohlklang deiner Stimme.
  45. Andreini 1594, f. 34: O du einfältiges Wesen / Hast du nun endlich erkannt, / Daß ich mich über dich lustig mache. Welche Dame würde je, / Selbst wenn sie nicht wohlgeformt und unedel wäre, sich dazu herablassen / Ein solch ungeheuerliches erschreckendes Angesicht zu lieben? Auf die chiastische Umordnung von beffar und Beschreibung der herausstechenden Merkmale des Angesichts des Satiro im Vergleich zu dem Zitat aus Fußnote 29 sei hingewiesen.