Gaetano Biccari (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse
Berlin: Wagenbach 2022
Florian Baranyi, Monika Lustig (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus
Bad Herrenalb: Edition Converso 2022

• Pascal Oswald •


PID: http://hdl.handle.net/0000-0007-F98D-2
Gaetano Biccari (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse. Berlin: Wagenbach 2022, 208 S., Euro 22,-, ISBN: 978-3-8031-3716-6
Florian Baranyi, Monika Lustig (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus. Bad Herrenalb: Edition Converso 2022, 160 S., Euro 18,-, ISBN: 978-3-9822252-7-2

Pier Paolo Pasolini – Poet, Romanschriftsteller, Publizist, Regisseur, Schauspieler und Maler – gilt als einer der schillerndsten Intellektuellen Italiens im 20. Jahrhundert. Er war homosexuell, Atheist und doch zutiefst geprägt von der christlichen Tradition, ein aus dem Partito Comunista Italiano ausgeschlossener Kommunist und polemischer Kritiker der Konsumgesellschaft, deren Medien er gleichwohl bediente. Am 5. März dieses Jahres wäre der widersprüchliche und unorthodoxe Intellektuelle 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass sind jüngst eine Vielzahl von Publikationen zu Pasolinis Leben und Werk erschienen – auch in deutscher Sprache.1 Zwei davon sollen hier besprochen werden: Zum einen das von Monika Lustig und Florian Baranyi bei Edition Converso veröffentlichte Buch Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus; zum anderen die von Gaetano Biccari zusammengestellte und bei Wagenbach verlegte Anthologie Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse.

Der von Biccari herausgegebene Band umfasst zahlreiche Interviews und autobiographische Skizzen aus den Jahren 1958 bis 1975, großenteils in deutscher Erstübersetzung. Diese liefern dem Pasolini-Kenner zwar keine grundlegend neuen Erkenntnisse, bieten in ihrer klugen Zusammenstellung jedoch einen umfassenden Einblick in die Biographie, die Ideologie und das Schaffen des italienischen Intellektuellen. Die Form des Interviews – in unterschiedlichen Facetten – bietet einen faszinierenden Blick auf einen zwiespältigen, kämpferischen, provokativen, zwischen Resignation und Optimismus schwankenden Menschen, der seinen politischen Maximen treu bleibt, aber auch vor Selbstkorrekturen nicht zurückschreckt. Wie der Herausgeber in seinem informativen Vorwort konstatiert, tendierte Pasolini «zum Gespräch als work in progress» (S. 8). Das Buch gliedert sich in sechs thematische Sektionen, innerhalb derer die einzelnen Beiträge Pasolinis chronologisch angeordnet sind.

Das einleitende Kapitel «In Persona» öffnet den «Blick von außen» (S. 9): In Oriana Fallacis Reportage über den ersten New-York-Besuch Pasolinis 1966 meldet sich ein Augenmensch zu Wort, der leidenschaftlich und atmosphärisch dicht seine Eindrücke einer «magischen, überwältigenden, wunderbaren Stadt» (S. 12) zum Ausdruck bringt und andererseits seine Vorstellung vom «Lumpenproletariat», das er einst in den Vororten Roms ansiedelte, auf die Neue Welt projiziert. Treffender wäre die konsequente Übersetzung von sottoproletariato mit «Subproletariat» statt mit «Lumpenproletariat» gewesen2, denn Pasolini hat diesen Begriff eigens geprägt, um eine Gesellschaftsschicht zu beschreiben, die außerhalb jedes Produktionsprozesses steht. Die dem Text innewohnende Vitalität, das Aufspüren des «wahre[n] weltrevolutionäre[n] Element[s]» (S. 14) in Amerika, die Begeisterung für den Dichter Allen Ginsberg und die Bürgerrechtsbewegung Student Nonviolent Coordinating Commitee stehen Pasolinis zahlreichen kulturpessimistischen Äußerungen in diesem Zeitraum entgegen und fordern den Leser gleich zu Beginn auf, sich der Ambiguität des Interview-Partners zu stellen. Dies findet seine Fortsetzung im Vogue-Interview mit der engen Freundin Dacia Maraini von 1971, in welchem Pasolini Fragen zu seiner Kindheit zwischen Offenheit und Selbststilisierung changierend beantwortet. Der Leser erfährt von Pasolinis Unbehaustheit aufgrund vieler Ortswechsel, der übergroßen Liebe zu seiner Mutter, dem problematischen Verhältnis zu seinem Vater, einem Infanterieoffizier in faschistischen Diensten, der Einsamkeit und Angst des früh begabten Schülers und der tiefen Verbundenheit mit dem friaulischen Sehnsuchtsort Casarsa. Seiner im Alter von 13 Jahren abgeschlossene Kindheit trauerte er länger nach, da sie für ihn «eine glückliche Zeit […] voller Idealismus» (S. 28) darstellte.

Das Folgekapitel «Armes Italien» vertieft in mehreren Interviews vor allem die aus den Freibeuterschriften3 bereits bekannte Medien- und anthropologisch-marxistisch orientierte Gesellschaftskritik Pasolinis, der zufolge das Fernsehen «als Teil des allgemeinen Phänomens des Neokapitalismus» (S. 31) den bourgeoisen Konformismus fördert, den Verlust der bäuerlichen Existenz beschleunigt und den Menschen zu einem Gefangenen in einer Welt von Produktion und Konsum macht. Als Leitmotiv erweist sich dabei die tiefe Abneigung gegen die Bourgeoisie bis hin zur Bewertung der Studentenrevolte, die nicht als revolutionärer Klassenkampf, sondern als Bürgerkrieg, als «ein Kampf, den die Bourgeoisie mit sich selbst austrägt» (S. 44), definiert wird und in dem sich Pasolini solidarisch mit den (nicht bourgeoisen) Polizisten erklärt.

Der mit «Stilbestie» überschriebene Abschnitt behandelt das schriftstellerische Schaffen, wobei insbesondere das autobiographische, im Sommer 1969 verfasste, jedoch erst posthum veröffentlichte Langgedicht «Who is me. Dichter der Asche» (S. 59–87) eng mit der Biographie Pasolinis verknüpft wird: denn, wie dieser selbst erklärt, «[d]ie Geschichte meines Lebens ist die Geschichte meiner Bücher» (S. 89). Mit diesen Worten beginnt ein höchst aufschlussreiches Privatgespräch, das 1967 als Interview ohne Interviewer in Pasolinis Wohnung im römischen EUR-Viertel für eine Fernsehdokumentation gedreht wurde. Darin führt Pasolini in nuce durch sein schriftstellerisches Werk, angefangen bei den im friaulischen Dialekt verfassten Gedichten über die zahlreichen Anfeindungen ausgesetzten Romane, die ihm die ersten Gerichtsprozesse bescherten, bis hin zu den Poesie in forma di rosa, «de[m] wertvollste[n] Teil meines bisherigen Schaffens» (S. 92). Erst unter dem Eindruck neorealistischer Filme in Bologna kam Pasolini auf die Idee, Romane zu schreiben. Die frühesten Romanversuche, die bis auf Il sogno di una cosa4 unveröffentlicht blieben, sowie die infolge der Übersiedlung in die Ewige Stadt entstandenen Ragazzi di vita5 und Una vita violenta6 stellten für ihn ein «kleines Abenteuer» (ebd.) dar; die beiden römischen Romane hätten zwar eine gewisse Bedeutung für die 1950er-Jahre gehabt, aber als Romanschriftsteller sehe sich Pasolini weiterhin nicht. Ideologisch getragen ist das schriftstellerische und kritisch-essayistische Werk – siehe zu letzterem insbesondere die Aufsatzsammlung Passione e ideologia7 – durch einen «instinktiven und tiefsitzenden Hass auf die Zustände» (S. 92) und auf den «kapitalistischen, kleinbürgerlichen Staat» (ebd.), durch ein «marxistische[s] Weltbild» (S. 93) und durch die Skepsis gegenüber dem Kult der Vernunft. Allerdings erklärt Pasolini im Gespräch mit Jon Halliday 1968, er sei kein «Erfinder von Ideologien. Ich bin kein Denker und wollte auch nie einer sein» (S. 116). Stilistisch bezeichnet Pasolini sich dabei als «pasticheur» (S. 117), der unter Verwendung unterschiedlichster Mittel eine «Intensität der ‹Verunreinigung›» (ebd.) erzielt. In demselben Interview verdreht Pasolini die Tatsachen, wenn er behauptet, er habe 1948 seinen Ausweis der kommunistischen Partei nicht verlängert. Der ‹Unzucht-Skandal› mit Minderjährigen, der tatsächlich zum Ausschluss aus der Partei führte, war ihm offensichtlich unangenehm.8

Als die italienische Kultur in den 1960er-Jahren von einer Phase des «Paläokapitalismus zu einer Spielart des Neokapitalismus» (S. 93) überging, wandte sich Pasolini der «echte[n] und eigene[n] Sprache» (ebd.) des Films zu, einer Sprache, die «Wirklichkeit durch die Wirklichkeit» (S. 118) ausdrückt. Im Kapitel «Arbeit am Kino» stehen in den Interviews zwischen 1970 und 1975 die späteren Filme Medea und Salò o le 120 giornate di Sodoma im Vordergrund. Die sich wandelnde Gesellschaft in das, was die Soziologen «Masse» (S. 122) nennen, zwingt Pasolini dazu, «elitäre» (S. 122) Filme zu drehen. Mit dem Verlust seines primären Adressaten, des «Lumpenproletariats», (S. 123) in der Gegenwart findet der Regisseur in der Prähistorie und dem Mythos einen Gegenentwurf mit großer ‹Widerstandskraft›, in welchem er den Kampf zwischen einer archaischen und religiösen Sphäre (Medea) und einer laizistisch, rationalen Moderne (Jason) realistisch verorten kann. Die Grausamkeit und sexualisierte, «[m]onströse» (S. 143) Macht in Salò interpretiert der Regisseur im Marxschen Sinne als ausbeuterische «Herabsetzung des Körpers zu einer Sache» (ebd.) und kritisiert die gegenwärtige Vorstellung von Sex als «Pflicht und Widerwärtigkeit» (ebd.).

Sein letztes Interview, in dem Pasolini am 1. November 1975 seinen Ekel vor einer «abscheulichen Weltordnung, die auf die Idee des Besitzes und der Zerstörung» (S. 175 f.) zum Ausdruck bringt, findet wenige Stunden vor seinem Tod statt. Er, der stets seine Liebe zum Volk beschwor und im Fußball das «letzte Mysterienspiel unserer Zeit» (S. 149) sah, so ein Interview aus dem Jahr 1970, wurde ausgerechnet neben einem Bolzplatz am Idroscalo von Ostia zwischen Schutt und Baracken auf grausame Weise ermordet.9 Während die Hintergründe bis heute ungeklärt sind, bietet die vorliegende Anthologie eine vorzügliche Gelegenheit, sich dem Phänomen Pasolini mit all seinen Widersprüchen anzunähern. Der Band schließt mit einer editorischen Notiz und einem vorbildlichen Quellenverzeichnis.

Wer unter dem Titel Eine Jugend im Faschismus eine zusammenhängende Monographie über die Jugend Pasolinis im faschistischen Italien 1922 bis 1945 erwartet, wird enttäuscht. Dreh- und Angelpunkt des Bandes bildet Monika Lustigs deutsche Erstübersetzung des 1942 von Pasolini verfassten Aufsatzes «Cultura italiana e cultura europea a Weimar» («Italienische Kultur und europäische Kultur in Weimar»), um welchen sich das Vorwort und zwei Essays gruppieren. Hintergrund dieses Aufsatzes bildet Pasolinis Teilnahme an der «Kulturkundgebung der europäischen Jugend Weimar-Florenz, 18.–23. Juni 1942» in Weimar. Mitte Juni 1942 brach der 21-jährige Universitätsstudent von Bologna in die Stadt Schillers und Goethes auf. Gemeinsam mit einigen anderen Kommilitonen machte er sich als Vertreter der Gruppi Universitari Fascisti (GUF) auf den Weg zu der von der Reichsjugendführung organisierten Veranstaltung, an der 600 ausländische Gäste teilnahmen, unter denen die Italiener mit 126 Männern und Frauen das größte Kontingent stellten. Im Anschluss daran verfasste Pasolini den Artikel als eine Art Tagungsbericht, der am 31. August 1942 in «Architrave», dem Blatt der GUF, erschien. Darin realisiert der Zwanzigjährige die «eindeutig propagandistische Ausrichtung» (S. 19) der Veranstaltung. Mit verblüffender Offenheit verweist er auf die Unkenntnis und ideologische Verblendung der jungen Deutschen und leitet daraus seinen Stolz auf Italien ab, dessen «Kultur die der anderen übertrifft» (S. 25). Er fordert eine neue «Antitradition» (S. 21), «fernab jedweder politischen Zielsetzung» (S. 20) zur «Demonstration der Freiheit dichterischer Schöpfungskraft und der Liebe zur Poesie» (ebd.).

Lustigs in Teilen sehr persönlich gehaltenes Essay befasst sich mit den biographischen Rahmenbedingungen, die Pasolinis Heranwachsen im ‹Ventennio›, den zwei Jahrzehnten unter Mussolinis Herrschaft, prägten. Dabei stehen der «lebenslängliche […] Konflikt zwischen dem Grafen [Pasolinis Vater entstammte einem Adelsgeschlecht, Anm. des Rezensenten] und der Grundschullehrerin» (S. 36), die Zerrissenheit zwischen der väterlichen Welt des Militärs und der Liebe zu Literatur und Poesie sowie erste Andeutungen seiner Homosexualität 1941, die ihn als «Ausgestoßenen» (S. 42) stigmatisieren, im Vordergrund. Während ihm seine Verpflichtungen bei der GUF «aufs Schrecklichste die Tage füllen» (Zitat Pasolinis, S. 41), fühlt er sich in «dichterischen Sphären» (S. 38) über der Erde schwebend. Im Gegensatz zum Vater, einem Faschisten der ersten Stunde, kennzeichnet die Autorin Pasolini als Intellektuellen, der die antifaschistischen Kräfte zunächst aus «instinktiver Aversion gegenüber jeder verschwörerischen Aktivität» (S. 31) ignoriert und erst mit dem Sturz Mussolinis politisch wachgerüttelt wird. Als wesentliche Voraussetzung für Pasolinis Weimarer Text sieht Lustig nichtsdestotrotz den zwischen 1941 und 1942 unter dem faschistischen Dialektverbot in friaulischer Mundart verfassten Gedichtband Poesie a Casarsa sowie «den Impetus des Dichters […], der auf seine Rolle des Pädagoge[n]» (S. 47) abzielt. Sorgfältig rekonstruiert Lustig die Rezeptionsgeschichte des Weimarer Textes. Dabei stellt sie heraus, dass mehrere Publikationen die von Pasolini tatsächlich besuchte Veranstaltung vom Juni 1942 mit dem Weimarer Kongress der Europäischen Schriftsteller-Vereinigung im folgenden Oktober verwechseln. Zugleich hinterfragt die Autorin die Instrumentalisierung durch die politische Rechte: Im Februar 2018 gebrauchte Matteo Salvini bei einer Wahlkampfrede in Mailand ein gefälschtes Pasolini-Zitat, dem zufolge der Antifaschismus «eine Waffe der Zerstreuung sei», «die die herrschende Klasse bei Studenten und Arbeitern anwendet, um ihren Dissens zu kanalisieren» (S. 60). Unter Verwendung eines auf Archivalien des Weimarer Stadtarchivs basierenden Texts Jens Riederers zeigt Lustig sodann, dass das von dem Weimarer Nationalsozialisten Wilhelm Möller initiierte Kulturprojekt «Weimar-Florenz» von der bisherigen Forschung10 vernachlässigt wurde und durchaus ambitioniert war. Im abschließenden Teilkapitel betont Lustig schließlich die Problematik des 20-jährigen Pasolini als Vertreter der GUF, mit der «Zensur im Nacken» (S. 78) auf einer von den Nationalsozialisten initiierten Tagung die Freiheit von Literatur und Poesie zu verteidigen.

Baranyis knappe Analyse der «kulturellen Matrix des [italienischen, Erg. des Rezensenten] Faschismus» stützt die These einer beginnenden Politisierung Pasolinis zu dieser Zeit und versteht den Text als Einübung in die lebenslange Aufgabe des Intellektuellen, systemimmanenten moralischen Einspruch zu erheben.

Dabei beruft sich Baranyi auf Umberto Eco, der den italienischen Faschismus als ein System kennzeichnet, welches «durchaus die Möglichkeit zur Kritik bereithielt» (Umberto Eco, zitiert S. 86). Einflüsse des Futurismus, der damit verbundene Bruch mit der Tradition und die Faszination für Gewalt prägen Pasolinis Generation ebenso wie Giovanni Gentiles restaurative Bildungspolitik mit der Idee einer verbindenden italienischen Nationalkultur. Die Debattierklubs der GUF entwickelten sich dabei zu einem «intellektuellen Schmelztiegel», in denen neue Ideen «ohne jegliche ideologische Kontrolle zirkulierten» (Umberto Eco, zitiert S. 95). Während Baranyis Analyse überzeugend Pasolinis Grunderfahrung des Faschismus herausarbeitet, den er «wie ein Fisch im Wasser» wahrnimmt und dem er eigenen Aussagen zufolge in naiver Weise einen «rein kulturellen Antifaschismus» (Pasolini, zitiert S. 96) entgegenstellt, lässt die Quintessenz der Interpretation des Weimarer Textes Zweifel offen. Sicherlich ist es legitim, dem Bericht ein «Unbehagen im Faschismus» (S. 99) zu entnehmen, sicherlich sind die Poeten, auf die Pasolini sich beruft, einer nichtfaschistischen Antitradition zuzuordnen; doch die These, dass Pasolini in einer Form von durchgängiger «Doublespeak» (S. 105) dem italienischen Faschismus auf oberflächlicher Ebene zuspricht, indem er ihn gegenüber dem Nationalsozialismus überhöht und ihm eine kulturelle und geistige Lenkfunktion zuweist, um die antifaschistische Kernbotschaft zu verschleiern, bleibt vage und kulminiert in einer gewagten Substitution eines nicht näher bestimmten «wir» im Schlussabsatz durch ein «Wir junge Antifaschisten» (S. 108). Ebenso denkbar wäre hier eine Ergänzung durch «Wir junge Poeten», welche bei der ersten Erfahrung mit anderen Vertretern der bewunderten europäischen Literatur das ehrliche Erstaunen des gerade einmal 20-Jährigen darüber zum Ausdruck bringt, dass die italienische Gesandtschaft durchaus in der Lage ist, sich auf Augenhöhe mit anderen illustren Vertretern der europäischen Kultur auszutauschen. Eine klare Zuordnung zu einer politisch bewussten bzw. einer naiv-idealistischen Position ist nach Meinung des Rezensenten kaum möglich. Ambiguität und Nichtkonformität innerhalb geschlossener Systeme bleiben ein Markenzeichen Pasolinis, der sich zeitlebens Vorwürfen persönlicher, politischer und juristischer Couleur zu erwehren hatte.

Durch das Nebeneinander von persönlicher Annäherung und wissenschaftlicher Analyse kommt es im Band von Lustig und Baranyi an manchen Nahtstellen zu kleinen Unregelmäßigkeiten. Während Baranyi im Anmerkungsapparat zu seinem Essay konsequent und vorbildlich nach dem Schema ‹Autor Jahreszahl, S. xy› zitiert, ist an Lustigs Essay in formaler Hinsicht die uneinheitliche und unsorgfältige Zitierweise zu kritisieren: An einer Stelle gibt sie nur ‹Autor Jahreszahl› an, andernorts folgt sie der deutschen Zitierweise und macht alle bibliographischen Angaben in der Fußnote. Fast überall fehlt die Angabe konkreter Seitenzahlen und manche der in den Fußnoten zitierten Titel sucht man vergeblich im Literaturverzeichnis am Ende des Buchs. Darüber hinaus stehen einige Zitate ganz ohne Beleg im Fließtext. Die angeführten Archivalien aus dem Weimarer Stadtarchiv werden nicht präzise zitiert.

Wenn auch die Interpretation der Weimarer Schrift nicht völlig überzeugt, so beantwortet das Buch die Frage «Wem gehört Pasolini» (S. 27) doch dahingehend, dass der Leser, nun ausgestattet mit dem Wissen um Pasolinis Sozialisation und das System der faschistischen Kulturinstitutionen, dazu aufgefordert wird, sich ein eigenes Bild – jenseits rechter Vereinnahmung – über den jungen Intellektuellen in all seiner Zerrissenheit zu machen.

  1. Vgl. neben den beiden hier besprochenen Bänden auch Pasolini, Pier Paolo: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte. Italienisch-deutsch, hrsg. und übersetzt und mit einem Nachwort von Theresia Prammer, Berlin: Suhrkamp 2021; Ders.: Rom, Rom, aus dem Italienischen von Annette Kopetzki u. a., Berlin: Wagenbach 2022; Curcio, Valerio: Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen – Fußball nach Pier Paolo Pasolini, mit einem Vorwort von Moritz Rinke, aus dem Italienischen von Judith Krieg, Bad Herrenalb: Edition Converso 2022.
  2. Die Übersetzungen stammen, wo nicht anders vermerkt, von Martin Hallmannsecker. In den übrigen Fällen handelt es sich um bereits andernorts in deutscher Sprache erschienene Texte.
  3. Die Scritti Corsari erschienen 1975 posthum, Pasolini hatte jedoch bereits die Fahnen vom Verlag Garzanti erhalten und revidiert. Der Band versammelt überwiegend bereits zuvor publizierte Zeitungsartikel, die Pasolini in den Jahren 1973 bis 1975 für den Corriere della Sera und für die Zeitschriften Tempo illustrato, Il Mondo, Nuova Generazione und Paese Sera, verfasst hatte. Vgl. Pasolini, Pier Paolo: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin: Wagenbach 2011 (ital. Original 1975).
  4. Vgl. Pasolini, Pier Paolo: Der Traum von einer Sache, übersetzt von Hans-Otto Dill, Frankfurt a. M.: Fischer 1989 (ital. Original 1962).
  5. Vgl. Pasolini, Pier Paolo: Ragazzi di vita. Roman, aus dem Italienischen von Moshe Kahn, Berlin: Wagenbach 3. Aufl. 2014 (ital. Original 1955).
  6. Vgl. Pasolini, Pier Paolo: Vita violenta. Roman, aus dem Italienischen von Gur Bland, München u. a.: Piper 2. Aufl. 1983 (ital. Original 1959).
  7. Vgl. in Auswahl Pasolini, Pier Paolo: Literatur und Leidenschaft. Über Bücher und Autoren, übersetzt von Annette Kopetzki, Berlin: Wagenbach 1989 (ital. Original 1960).
  8. Vgl. auch die falsche Aussage im hier besprochenen Band Pier Paolo Pasolini in persona, S. 167: «Ich war nie Mitglied einer Partei.» Für die Hintergründe vgl. Naldini, Nico: Pier Paolo Pasolini. Eine Biographie, Berlin: Wagenbach 1991 (ital. Original 1986), S. 116–119.
  9. Für eine ausführliche Rekonstruktion der Mordumstände vgl. Siciliano, Enzo: Pasolini. Leben und Werk, aus dem Italienischen von Christel Galliani, München: Heyne 1996 (ital. Original 1978), S. 9–32.
  10. Vgl. insbesondere Hoffend, Andrea: Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf. Die Beziehungen zwischen „Drittem Reich“ und faschistischem Italien in den Bereichen Medien, Kunst, Wissenschaft und Rassenfragen, Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1998 (= Italien in Geschichte und Gegenwart, Bd. 10).