Giulia Agostini: Nach der Literatur. Studien zu einer Theorie der Literatur
Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2021

• Milan Herold •


PID: http://hdl.handle.net/0000-0007-F997-6
Giulia Agostini: Nach der Literatur. Studien zu einer Theorie der Literatur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2021, 275 S., Euro 38,-, ISBN: 978-3-8253-4681-2

Die vorliegende Studie arbeitet überaus luzide, klar und überzeugend einem Begriff metaphysischer Bezüge in der Literatur zu. Das philosophische Rüstzeug und die theoretischen Verortungen lehnen sich größtenteils – aber keinesfalls ausschließlich – an Traditionslinien des deutschen Idealismus an. Auch für die literarischen und künstlerischen Ansätze gilt, dass sprachübergreifend, hermeneutisch geschickt und anspruchsvoll Filiationen aufgezeigt werden, deren Wechselbezüglichkeit eine gewisse intellektuelle Wachsamkeit einfordert, welche allerdings ebenso stringent wie konsistent entwickelt wird. Giulia Agostini konzipiert in sechs Kapiteln und Anläufen einen philosophischen Begriff der Literatur als Erkenntnisform auf immanente Weise. Wie die Einleitung (S. 11–44) philosophiegeschichtlich ausführt und anhand von Gemälden und Beispielen aus der bildenden Kunst veranschaulicht, kreist der Ansatz der Studie um die Möglichkeit eines «spekulativen Ausblick[s] auf das, was die Literatur selbst nicht wissen kann» (S. 20, 60)1, und um die Idee einer potenziell unendlichen Selbstbeobachtung, die den blinden Fleck der eigenen Blickführung und Darstellung als «poetische Metaphysik» (S. 27) mitreflektiert. Im künstlerischen Ringen um ein Dazwischen, das die Hintergrundhaftigkeit jedes Ins-Bild-Setzens darzustellen anstrebt, werden krumme Linien des Denkens und der Sprache verfolgt, mit denen das erste Kapitel zur absoluten Dichtung Mallarmés eröffnet (S. 45–95).

Der Bezug auf etwas (ganz) Anderes der Literatur – mag man es Nichtwissen, Ungrund oder das Absolute nennen – konstituiert sie und entzieht sich doch gleichursprünglich. Der Indifferenzpunkt der Sprache bestimmt Mallarmés theoretische Überlegungen und sein poetisches Schaffen, wie etwa das berühmte Sonnet en -x veranschaulicht. In Grenzgängen des Sagbaren werden Konturen von Abwesenheit und Negativität angedeutet, die noch im Entzug von Sinnstrukturen poetische Präsenz im Vollzug einer immanenten Oberflächenästhetik schaffen. Hier wird eine genuin andere profondeur einer «insgeheim philosophischen Dichtung» (S. 67) entworfen, deren Denkfigur und deren Fixpunkt in der philosophischen Tradition als rhizomische Strukturen und fragmentarische Systemhaftigkeit beschrieben werden können. Giulia Agostinis Ausführungen inszenieren selbst auf filigrane Weise eine solche poetische Metaphysik, die mit und durch Metaphernketten arbeitet und auf neo-mystische Weise eine Sprachgebundenheitsthese des Denkens vertritt, die augenblickliche Ausblicke auf das Absolute ermögliche. Das zweite Kapitel, «Blanchots Werk-Begriff im Ausgang von Proust» (S. 97–113), nimmt Fäden des zuvor Entwickelten performativ auf, indem es mit Blanchots Begriff eines (unmöglichen) Beginns einsetzt, der immer schon ein «Neuanfang» (S. 97) ist. Diese Unverfügbarkeit eines Ursprungs spiegelt sich in einem offenen Werkbegriff, der geprägt ist von einer ‹prinzipiellen› Unabgeschlossenheit. Prousts Schreibbegehren gilt Blanchot als «Erfahrung des Nicht-Identischen» (S. 103), als eine Zeitenthobenheit und als ein Ausstand, der eine eigene Form von Dauer ausbildet und ein ständiges Nachvollziehen ermöglicht und einfordert. Dieser anderen Zeit des (Kunst-)Werks entspricht eine eigene Temporalität der ästhetischen Rezeption.

Blanchots Proust-Erfahrung erweitert die poetisch-philosophischen Umkreisungen Mallarmés um eine Zeitfunktion, deren Argumentstelle immer unbelegt bleibt. Familienähnlichkeiten zu «mystische[n] Dimensionen bei Bataille» (S. 115–167) nehmen als Ausgang die Vorstellung einer profanen Mystik, die im Verschluss eine präpropositionale Erfahrungsform des Absoluten denkt, und der zweitbesten Fahrt einer inneren Erfahrung, die nur ex negativo bzw. als negative Darstellung möglich sind. Das fasst Bataille auch im Begriff einer Komplizenschaft, einem freundschaftlichen Einwilligen und Eingefaltet-Sein in ein Nichtwissen, zu dem die Metapher einen privilegierten, latenten Bezug verbürgt und verspricht. Mit und nach Proust wird die ekstatische Sprachmagie mit der Gedankenwelt der jüdischen Mystik nach unten erweitert, sodass «die Recherche selbst als Kabbala lesbar» wird (S. 139). Prominente Chiffren sind die in der proustschen Romanwelt wiederkehrenden Apfelbäume mit ihrer zunächst abwesenden Blüte, die wie Lichtwerte flüchtige Ausblicke ermöglichen und sphärische Hintergründe spiegeln. In kreisenden, schwebenden, wiederkehrenden Schreibbewegungen ist das Werk nicht nur selbstreflexiv, sondern fordert auch den Leser ständig dazu auf, solche Strukturen zu verinnerlichen und mikrologisch nachzuvollziehen. Solche ästhetischen Wechselbeziehungen erfüllen angesprochene Ausblicke auf etwas, das nicht positiv darstellbar ist, allerdings indirekt und ex negativo zur Sprache kommen bzw. in der Form «bildloser Bilder» (S. 158) erfahrbar werden kann. Das philosophisch-poetische Tableau wird mit «María Zambranos metaphysische[n] Annäherungen an die Dichtung» erweitert und zugleich eingekreist (S. 169–203), ohne den Raum des Diaphanen zu verlassen oder in die Falle unnötiger Vereindeutigung zu tappen. Das Suchen nach einem dichterischen Grund und einer dichterischen Vernunft – in der Doppelbedeutung von razón – setzt Zambrano in Anlehnung an Platons und Hölderlins Diotima als Denkfigur ins Bild, als «namenlose[s] Geheimnis» und als unsagbares Wissen vom Wesen des Grundes (S. 178). Sie verkörpert in ihrer Abwesenheit den Verweis auf einen Anfang, nicht als einfachen ersten Ursprung, der verfügbar ist, sondern als selbstreflexiven Bezug im Modus des Erahnens. Zambrano benutzt zwar Ausdrücke der mystischen Tradition wie Quelle, Wunde und Morgenröte, «transzendiert [aber] das Mystische» (S. 181), indem ein mantischer Bezug auf etwas Unbestimmtes = x dichterisch und metaphorisch nachvollziehbar wird als konstitutiver Entzug.

Das vorletzte Kapitel zu «Leopardis Bildtheorie» (S. 205–231) behandelt vergleichbare Formen von Negativität anhand von Werken des berühmten italienischen Dichters und Denkers. Auch in diesem Abschnitt sind es sowohl poetische als auch optische Bilder – hier Fotografien aus der Serie A Silvia von Mario Giacomelli –, die ihre Funktionen mitreflektieren, ikonisch darstellen und exponieren. Die Einbildungskraft vermittelt zwischen nulla und infinito in unverfügbaren Bildern des Scheiterns, wie die immer noch und immer wieder einen Abschluss verheißende Metapher des Meeres in L’infinito im Rahmen eines Projekts, das sowohl eine neue namenlose Dichtung als auch eine ultrafilosofia genannt wird. Die deiktischen Verweise und metaphorischen Bilder dieses berühmten idillio entwerfen Nicht-Bilder bzw. Bilder des Unendlichen, steigern semantische Verdopplungen und eröffnen Räume von Negativität und unendlicher Interpretierbarkeit. Leopardi setzt eine ähnliche Bildlogik in anderen Gedichten um, etwa in Le ricordanze und in Il tramonto della luna, in Fenster- und Mondblicken und in der unendlichen Verweisstruktur von Erinnerungsbildern. Das sechste Kapitel behandelt «Literatur und Erkenntnis bei Beckett und Cortázar» (S. 233–265) ausgehend von dem Fernsehspiel Quad und der Erzählung Anillo de Moebius, die jeweils als Gedankenexperimente gelesen werden, die geometrische Formen als Antworten auf die Frage nach (dem Wesen) der Literatur entwickeln. Becketts Stück steht wortwörtlich im Zeichen eines Quadrats, präsentiert seine Denkfigur eines Vierten und inszeniert im Modus einer «‹erschöpfenden Erschöpfung›» (S. 239) einen untilgbaren Rest, der immer noch aussteht. Cortázars Möbiusband nimmt die Vorstellung eines unorientierten Raums als Metapher, die dazu auffordert, einen «‹Übergang [...] ohne Übergang›» (S. 253) zu denken bzw. Nichtwissen zu erfahren im Modus einer «komplizenhaften Zeugenschaft» (S. 263); und damit schließt auch die Studie geschickt mit der Figur und der Illusion eines Möbiusbandes.

Die Frage «Welche Berührung gibt es aber zwischen der Literatur als einer indifferenten Zone des Möglichen […] einerseits und der menschlichen Existenz andererseits?» bestimmt den «Ausblick» (S. 267–275). Cortázars Meisterwerk Rayuela führt nun zurück zur Metapher von Bäumen, Wäldern und Verzweigungen in der Verschränkung von Lesbarmachung und Selbsterkenntnis, in der Gleichheit des Ausgangs am Scheideweg des Lebens oder in den Lektüreanweisungen des Romans, die je und auf beiden Seiten das Gegebene als Aufgegebenes meinen und (an)deuten. Giulia Agostinis Studie bedient sich jederzeit einer klaren Sprache, ist hervorragend lektoriert und stellt eine originelle Erweiterung und Zusammenfügung zuvor publizierter Aufsätze dar. Nach der Literatur regt zum Nachdenken an und überzeugt ausnahmslos durch argumentative Stringenz und Vielschichtigkeit. Die Ineinanderfügung der mannigfaltigen Bezüge lädt ein zur (Re-)Lektüre der besprochenen Texte und anderer Literatur.

  1. Alle Hervorhebungen in Zitaten stammen aus dem Original