Helena Janeczek: La ragazza con la Leica
Milano: Ugo Guanda editore, 2018, 335 S., Euro 18,00
ISBN 978-88-235-1835-3

· Ursula Reuter-Mayring ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-DA5D-C

Dieser Roman von Helena Janeczek aus dem Jahr 2017, der in Italien 2018 den prestigereichen Premio Strega gewann, soll nun laut Ankündigung der Piper Verlags GmbH demnächst – nach Übersetzungen ins Spanische, Englische, Niederländische, Französische etc. – auch auf Deutsch erscheinen, und zwar unter dem Titel Das Mädchen mit der Leica im Berlin Verlag. Die vielsprachige Autorin Helena Janeczek, die in München aufwuchs, lebt seit mehreren Jahrzehnten in Italien und schreibt auf Italienisch. La ragazza con la Leica ist ihr dritter Roman nach Lezioni di tenebra (erstmals 1997, jetzt 2011) und Le rondini di Montecassino (2010), beide bei Ugo Guanda editore (wieder-)aufgelegt, zudem hat sie mehrere Erzählungen in Anthologien veröffentlicht. Schon 1989 erschien als deutsches Original bei Suhrkamp Ins Freie: Gedichte. Helena Janeczek ist u. a. Mitglied von SI scrittrici insieme1; ausführlich stellt sie sich und ihre Arbeit auf ihrer homepage vor2. Hier steht auch ein reichhaltiges Dossier dokumentarischen Materials, Il mondo di Gerda Taro, zur Verfügung, mit dem die Leserin von La ragazza con la Leica ihre Roman-Lektüre ergänzen kann.

Gerda Taro, «la ragazza con la Leica», wird oft als erste auf dem Schlachtfeld gefallene Kriegsfotografin bezeichnet. Sie starb mit nur 26 Jahren, nachdem sie, während sie im Kampf um Madrid (Juli 1937) den Rückzug der Internationalen Antifaschistischen Truppen fotografisch dokumentierte, bei Brunete von einem Panzer überfahren worden war.3 Am 1. August 1937, ihrem 27sten Geburtstag, bildete ein Meer von Menschen und roten Fahnen den Trauerzug in Paris zum Friedhof Père Lachaise, angeführt von Ikonen der linken Intellektuellen wie Louis Aragon und Pablo Neruda. Helena Janeczeks Roman erzählt von dieser jungen Frau, geboren 1910 als Gerta Pohorylle in Stuttgart, aufgewachsen in Leipzig und mit einer Erziehung in einem schweizerischen Internat ausgestattet. Inmitten eines antifaschistisch gesonnenen Freundeskreises, zu dem die Freundin Ruth Cerf gehört, der ‹ewige› Verehrer Willy Chardack (genannt «Dackel») und der baldige Geliebte Georg Kuritzkes aus überzeugt sozialistischem Milieu, dem sie später nach Berlin folgt, wird die Leserin mit dem umwerfend fröhlich-charmanten «Fräulein Vorwärts» bekannt, intelligent, praktisch zupackend, freiheitsliebend:

quando Gerda era nei paraggi qualsiasi cosa appariva alla portata, all'improvvisa (S. 82)

le risate indimenticabili di Gerda (S. 82)

Gerda non sembrava mai preoccupata (S. 84)

una signorina educata in Svizzera e rifinita nei salotti rivoluzionari di Lipsia (S. 85)

Wegen ihrer antifaschistischen Haltung wird sie verhaftet und flieht nach Paris. Hier trifft sie nicht nur die Leipziger Freunde wieder, sondern findet sich bald in den Cafés inmitten des großen Kreises von Intellektuellen und Künstlern, der Avantgarde dieser Zeit, viele davon als Juden und Antifaschisten verfolgt und geflohen. Sie begegnet dem Fotografen Endre/André Friedmann, genannt «Bandi», eine leidenschaftliche Liebesgeschichte zwischen den beiden beginnt. Durch ihn entdeckt sie die Faszination der Fotografie und lernt selbst zu fotografieren, zu entwickeln etc.; um 1935 erfinden sich die beiden als «Gerda Taro» und «Robert Capa», werden Teil der Fotografen- und Fotoreporter-Szene, verkaufen bald ihre Aufnahmen und erhalten schließlich Aufträge von den renommierten Medien dieser Jahre.

Der gesamte Roman eröffnet eine Begegnung mit einer großen Zeit der Fotografie und deren Protagonisten, u. a. Henri Cartier-Bresson und David Seymour (Dawid Szymin, genannt «Chim»). Sie alle sind verbunden mit der Gründung der Agentur Magnum und mit der amerikanischen Zeitschrift Life, die mit ihren Fotoreportagen Epoche machte, ebenso wie mit den Größen des Films. Die technischen Aspekte der analogen Fotografie und des Films samt ihrer rasanten Entwicklungen und schließlich Fragen nach dem Wesen, der Aufgabe und Moral der (Kriegs-)Fotografie und ihrem Markt treten uns in den Gesprächen und Erinnerungen der Figuren gegenüber.

Das ausdrücklich mit dem Untertitel «Romanzo» versehene Buch besteht aus drei Teilen: Sie erzählen aus der Perspektive der drei Leipziger Freunde deren Erinnerungen an Gerta Pohorylle, die zur Fotografin Gerda Taro, «La ragazza con la Leica», wurde. Nach ihnen auch benennt Helena Janeczek diese Kapitel, «Willy Chardack, Buffalo, N. Y., 1960» – «Ruth Cerf, Parigi 1938» – «Georg Kuritzkes, Roma, 1960», und gibt so Hinweise auf ihr Schreibprogramm: zwar stets weiter um die Hauptperson kreisend, setzt sie daneben weitere Protagonisten, die wiederum ihrerseits viele weitere einbeziehen, die den Horizont um Zeiten und Orte erweitern um sich zu einem vielschichtigen Panorama zusammenzufügen. Die Autorin selbst beschreibt ihren Text als

un romanzo caleidoscopico, costruito sulle fonti originali, di cui Gerda Taro è il cuore pulsante. È il suo battito a tenere insieme un flusso che [che] allaccia epoche e luoghi lontani, restituendo vita alle istantanee di questi ragazzi degli anni Trenta alle prese con la crisi economica, l'ascesa del nazismo, l'ostilità verso i rifugiati che in Francia colpiva soprattutto chi era ebreo e di sinistra, come loro.4

Wenn sich die Leserin auf Janeczeks Schreibprogramm einlässt und den Text selbst etwas ‹dreht›, zeigen sich ihr in diesem Kaleidoskop immer vielfältigere Bilder. In ihnen entdecken wir etliches über den Widerstand dieser Jugend, aber auch über ihr ‹Weiter›-Leben nach jenen Jahren: Wir begegnen dem Wissenschaftler, Arzt und Erfinder Willy Chardack im Exil in den Vereinigten Staaten, der auf seine Umgebung leicht wunderlich wirkt, wie er sonntags zu Fuß spazieren geht, wie er im Deli nach dem Geschmack und dem Duft der verlorenen europäischen Heimat sucht. Wir bewegen uns mit Georg Kuritzkes auf seiner Vespa durch das Rom der sechziger Jahre, treffen mit ihm die Filmschaffenden des ausklingenden Neorealismo und bemerken im Vorüberfahren Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Wir lesen von den jeweiligen Aufbrüchen der beiden alten Freunde in ein Nachkriegs-Leben, den Versuchen, ihre Ideale in eine Zukunft hineinzutragen und ihr Leben einem Fortschritt, einer besseren Welt zu widmen – Willy Chardack, der wesentliche Beiträge zur Entwicklung der ersten Herzschrittmacher entwickelt, Georg Kuritzkes, der bei der neu gegründeten FAO und UNESCO arbeitet – und schließlich vom bitteren ‹Über›-Leben nach dem Holocaust, davon, dass es womöglich «kein richtiges Leben im falschen» geben mag. In den Erinnerungspassagen, die die Autorin diesen beiden Protagonisten zuschreibt, erfahren wir gleichzeitig jeweils erinnerte Facetten von Gerda Taro, wir lesen von enttäuschter, erfüllter und eifersüchtiger Liebe zu ihr, von Misstrauen und Konkurrenzen innerhalb des Widerstands, innerhalb der Linken, der Sozialistischen Arbeiterpartei, verwoben mit illustrierenden Episoden von letzten Kämpfen in Spanien und Italien und wie eines ins andere eingreift. Das buchstäblich zentrale Kapitel des Romans, womöglich sein ‹Herz›, bildet das Kapitel um Ruth Cerf, die Freundin. Helena Janeczek und mit ihr das Lesepublikum kommt in diesem Kapitel Gerda Taro am nächsten: Verortet ist es 1938 in Paris, nur ein Jahr also nach Gerdas Tod. Um die Hauptperson und ihre nicht nur intim-emotionale sondern auch professionelle Erweiterung im Paar Taro&Capa ordnet die Autorin deren jeweils ältesten und treuesten Freunde an, Ruth Cerf und Csiki Weisz, und zeigt, wie die beiden den Nachlass der Fotos sichten und zu sichern versuchen. So lässt die Autorin uns Lesende beobachten, wie das, was in den Werken der beiden Fotografen gespeichert ist, sei es das Dokumentarische oder sei es der Kontext der Entstehung, Erinnerung auslöst: Die Freundin erinnert sich, wie sie Robert Capa begleitete um Gerda Taros Leichnam im Zug von Spanien nach Frankreich zu überführen, an den von Schmerz und Selbstvorwürfen gelähmten, in sich selbst geradezu ego-zentrisch gefangenen Teil dieses Paares und schon weltberühmten Fotoreporter. Aus Ruths Erinnerungen werden Gerdas leidenschaftliche Lust am Leben ebenso wie ihre leidenschaftliche Lieben, ihre entschiedene Hinwendung zu den Menschen und ihr Kampf für ein freies Leben für alle sichtbar. In diesem Kapitel kommt die Leserin gleichzeitig auch dem Leben der Frauen jener Zeit im Exil sehr nah, ihrem Hunger, dem Frieren, den Jobs, die stets darin bestanden ‹wichtigen Männern› oder den eigenen Genossen zuzuarbeiten, der Art, wie sie sich emanzipierten und welchen Preis sie dafür zahlten. Manche Zeichnungen geraten der Autorin zu sentimental, verklärend, z. B. die Schilderung der sozialistisch geprägten Mutter von Georg Kuritzkes, andere Passagen dagegen aber erinnern wiederum in ihrer dichten, lakonisch und doch zu tiefst empathischen Schilderung an die Literatur von Irmgard Keun oder Erich Kästner.

Umrahmt werden die drei Hauptteile von einem «prologo. Coppie, fotografie, coincidenze #1» und einem «epilogo. Coppie, fotografie, coincidenze #2». Hier werden auktoriale und personale Erzählhaltungen, die die mittleren Kapitel bestimmten, aufgegeben: Jetzt spricht die Autorin selbst, zu sich selbst und zu ihren Leserinnen. Sie befragt ihre Quellen, hinterfragt ihre subjektive Rezeption, spielt mögliche Interpretations- und Erzähl-Varianten durch. Und so treten auch Helena Janeczek und ihre Eltern, zwei Generationen einer jüdisch-polnischen Familie, die Eltern, die den Holocaust überlebten, und die im Deutschland der 1960er-Jahre geborene Tochter, in den Kreis der Protagonisten:

Molte coppie formate prima o durante o poco dopo la catastrofe che annientava il mondo della loro giovinezza […] sono rimaste assieme tutta la vita: unite nella memoria e nell'oblio che incarnavano, vivendo come un dono della buona sorte qualsiasi affinità preesistente a quel vuoto sconfinato. […] e, infine, una coppia che costringe la narratrice a usare la prima persona. I miei genitori si sono fidanzati nel ghetto. Si sono ritrovati dopo la guerra, si sono amati e a tratti, odiati, divertiti e sopportati, finché morte li ha separati. Mia madre, che di Gerda aveva la coquetterie testarda, avrebbe potuto esserne una cuginetta. Mio padre, grande affabulatore come Capa, un fratello minore. (S. 329 f.)

Diese beiden Kapitel bestechen durch die gelungene literarische Darstellung der Autorinnen-Perspektive auf ihr historisch-dokumentarisches Ausgangsmaterial. Helena Janeczek arbeitet hier durchaus virtuos mit dem traditionsreichen Genre der Ekphrasis. Die LeserInnen werden zu ZuschauerInnen bei der Betrachtung und Interpretation von Originalphotos von Taro und Capa und befreundeten Fotografen durch die Autorin. Lesend erfahren wir das Sehen der Autorin und gleichzeitig das der Fotografin Gerda Taro und ihrer Kollegen. Berührt werden wir durch die Nebeneinanderstellung zweier Photos mit dem selbem Motiv, eins von Taro, das andere von Capa, und der sensiblen, versprachlichten, akribisch vergleichenden Betrachtung durch die Autorin. Im ganzen ist neben dem thematischen Reichtum eine literarisch ambitionierte und schlüssige Komposition im Roman zu entdecken.

Das Buch von Helena Janeczek gesellt sich mit seinen Themen nicht zuletzt gut zu verschiedenen Neuerscheinungen der letzten Zeit: einerseits z. B. zum Film über die 2013 im Bürgerkrieg in Syrien umgekommene Kriegsreporterin Marie Colvin, A Private War. Auf literarischem Gebiet andererseits veröffentlichte z. B. 2017 (deutsche Übersetzung 2018) der Historiker Mark Mazower das Familienmemoir What You Did Not Tell. A Russian Past and the Journey Home, in dem der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund mitsamt seinen Aktivitäten im Widerstand beleuchtet wird; 2019 erschien von Maxim Leo Wo wir zu Hause sind. Die Geschichte meiner verschwundenen Familie, eine Geschichte, in der wie bei Janeczek u. a. linke jüdische Jugend im Widerstand und die Situation der jüdischen Flüchtlinge in Frankreich beschrieben ist. Und gerade die deutsche Übersetzung des Romans von Helena Janeczek fügt womöglich schließlich auch dem 2019 erschienen Buch von Wolfgang Benz, Historiker und langjähriger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler einiges hinzu. Die Darstellung des Widerstands in Deutschland sowohl in der BRD als auch in der DDR, die, wie Joachim Käppner bemerkt, «mehr über die Selbstbilder der geteilten Nation als über den Widerstand […] verrieten», revidiert Benz nicht immer, besonders nicht im Kapitel zum jüdischen Widerstand, dem der Rezensent der Süddeutschen Zeitung «Schwächen»5 attestierte. Helena Janeczeks Roman aber erzählt uns auch genau davon, mit ihrer Fiktion holt sie viele Namen historischer jüdischer KämpferInnen gegen den Faschismus zurück ins deutsch-europäische Gedächtnis.

  1. (http://www.scrittriciinsieme.it/)
  2. (http://helenajaneczek.com/)
  3. Eine vertiefende Lektüre findet die interessierte Leserin auch im Buch der österreichischen Historikerin Renée Lugschitz über Spanienkämpferinnen. Ausländische Frauen im Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 (LIT Verlag, Münster 2012).
  4. (http://helenajaneczek.com/la-ragazza-con-la-leica.html)
  5. Joachim Käppner: «Sie waren sehr allein. Die Menschen, die dem Naziregime trotzten, muss man als Kinder ihrer Zeit verstehen [...]», in: Süddeutsche Zeitung 66 (19.03.2019), SZ Spezial. Literatur. Das politische Buch, V 2, S. 13.