Iris Origo: Eine seltsame Zeit des Wartens. Italienisches Tagebuch 1939/40
Berlin: Berenberg Verlag 2021

• Ursula Reuter-Mayring •


PID: http://hdl.handle.net/0000-0007-F999-4
Iris Origo: Eine seltsame Zeit des Wartens. Italienisches Tagebuch 1939/40, ins Deutsche übersetzt von Anne Emmert, mit einem Vorwort von Lucy Hughes-Hawlett und einem Nachwort von Katia Lysy. Berlin: Berenberg Verlag 2021, 136 S., Euro 22,-, ISBN: 978-3-949203-07-7

Iris Origo (1902–1988) wurde in England geboren, ihre Eltern stammten aus wohlhabenden Familien, die Mutter aus einer irisch-englischen, ihr Vater aus einer von der amerikanischen Ostküste. Schon 1910 starb Iris’ Vater mit nur dreißig Jahren; in einem Brief an seine Frau Sybil hinterließ er einen Wunsch, der das Leben ihrer einzigen Tochter Iris prägen sollte:

All this national feeling makes people so unhappy. Bring her [Iris] up somewhere where she does not belong, then she can’t have it. I’d rather France or Italy than England, so that she really should be cosmopolitan, from deep down […] I’d like her to be a little ‹foreign› too so that when she grows up she really will be free to love or marry anyone she likes, of any country, without it being difficult.1

So wuchs Iris Origo als Anglo-Amerikanerin in der sogenannten colonia inglese von Florenz auf, in jener von der Mutter erworbenen Medici-Villa in Fiesole, wo im Quattrocento Lorenzo il Magnifico mit Marsilio Ficino, Agnolo Poliziano und Giovanni Pico della Mirandola philosophiert hatte. In Florenz genoss sie eine klassische Bildung durch Privatunterricht bei hervorragenden italienischen Gelehrten; dafür, dass der ebenfalls in Fiesole lebende amerikanische Kunsthistoriker und Sammler Bernard Berenson ihrer Mutter dazu geraten hatte, war ihm Iris Origo lebenslang dankbar und blieb ihm freundschaftlich verbunden. Neben Italienisch und Englisch sprach sie fließend Französisch und Deutsch, hatte die klassischen antiken Texte im Original studiert und profunde literarische, kunsthistorische und historische Kenntnisse erworben. Wie es ihr Vater gewünscht hatte, wurde sie eine wirklich «from deep down» kosmopolitisch gebildete und orientierte Persönlichkeit. Als erwachsene junge Frau entschied sie sich frei, wie es der Vater formuliert hatte, für ein italienisches Leben: Ausdruck davon war weniger ihre Heirat mit dem römischen Marchese Antonio Origo, sondern vielmehr das gemeinsame Lebensprojekt dieses Paares und die Art und Weise, wie sie es verwirklichten. Sie erwarben in der kargen Landschaft der crete senesi nahe Montepulciano ein Landgut, La Foce, und entwickelten es während des beginnenden Faschismus zu einem fortschrittlichen, sozial engagierten und ertragreichen landwirtschaftlichen Betrieb; die dazugehörigen poderi wurden instandgesetzt, das System der mezzadrìa zugunsten der Bauern verändert, Iris Origo gründete eine Schule und eine Krankenstation. Für die villa und den neu angelegten Garten wirkte der englische Architekt und Gartenarchitekt Cecil Pinsent (1884–1963), der schon in Florenz eine Symbiose von toskanischen Renaissancegärten und englischen Gartentraditionen und -geschmack entwickelt hatte, die bis heute viele Gärten dieser Kulturlandschaft prägt. Pinsent blieb ein lebenslanger Freund von Origo. Während des Zweiten Weltkrieges und vor allem als sich schließlich die Front genau durch die Toskana bewegte, wirkte Iris Origo, die schon einige Jahre lang auch für das Italienische Rote Kreuz gearbeitet hatte, mit ihrer zupackenden Humanität auf die schrecklichen Umstände des Kriegsalltags in der Gegend ein: La Foce und seine Bewohner boten Zuflucht für Flüchtlinge aller Art und ohne Ansehen der Nationalität, Unterstützung und ein Versteck für Kriegsgefangene, Partisanen und desertierende Soldaten; Iris Origo richtete ein kleines Kinderheim ein, in dem Kinder aus den stark bombardierten Städten Italiens aufgenommen wurden. Kurz bevor die deutschen Soldaten in La Foce schreckliche Zerstörungen anrichteten, führten sie und ihr Mann diese Kinder und alle Bewohner von La Foce zu Fuß nach Montepulciano: Ein Zug von sechzig Erwachsenen, achtundzwanzig Kindern und vier Säuglingen erreichte unter Bombardierungen schließlich die Kirche von San Biagio unterhalb von Montepulciano, die Stadtbewohner kamen ihnen entgegen, nahmen die Kinder auf ihre Schultern und brachten alle in Sicherheit.2

Gleichzeitig war Iris Origo ihr ganzes Leben lang der zeitgenössischen Literaturszene Englands eng verbunden und fühlte sich bei ihren häufigen Besuchen dort tatsächlich intellektuell zu Hause. Sie war bekannt mit Virginia und Leonard Woolf, der einige ihrer Bücher in der Hogarth Press veröffentlichte, und weiteren Mitgliedern der Bloomsbury Group, mit Elisabeth Bowen, T. S. Eliot und anderen. Eine jahrelange Affäre verband sie mit dem zu der Zeit sehr erfolgreichen Autor Leo Myers. Sie selbst schrieb und veröffentlichte zu Lebzeiten zwölf Bücher: historisch-biografische Studien zu Giacomo Leopardi, Lord Byron und Teresa Guiccioli, zu Byrons Verhältnis zu seiner Tochter Allegra, zu Bernhard von Siena und zu Francesco di Marco Datini, dem Kaufmann von Prato; außerdem Biografien von Zeitgenossen, eine Autobiografie, ein Tagebuch aus den Jahren des Zweiten Weltkrieges und Essays. Einige ihrer Bücher wurden ins Deutsche übersetzt und sind heute nur noch antiquarisch erhältlich. Iris Origo schrieb sie inmitten des von ihr gewählten, aktiven italienischen Alltagslebens, alle haben mit Italien zu tun und bis auf eines schrieb sie alle auf Englisch – auch das eine Wahl, die die vom Vater so sehr gewünschte Fähigkeit, frei über nationale Enge hinweg zu leben und zu wirken, zeigt. Diese Wahl bestimmt eine literarische Besonderheit ihrer Texte: Dass Iris Origo quasi verschiedene Kulturräume in sie hineinschreibt und sie so über einen einzigen hinaus erweitert, macht eine ihrer Qualitäten aus. Iris Origo gibt ihrem Schreiben damit sehr bewusst eine Facette ihres eigenen Lebens mit, die in heutigen Begriffen wie «Transnationalismus» und «Interkulturalität» anklingen mag, aber nicht in diesen Konzepten aufgeht. Methodisch arbeitet sie an Quellen und Kontext orientiert, ihre Wahl, über das zu schreiben, was sie im italienischen Leben ‹vor Augen hat›, und das in einer ihr eigenen, diesen Gegenständen aber gleichsam ‹fremden› Sprache bestimmen die Authentizität und Stringenz ihres Stils ebenso wie die reizvolle und stimmige Wahl ihrer Themen und Genres. Origo schreibt über historische Personen, die die Kultur der Region prägten, in der sie lebt, über Freunde und Weggefährten in Italien, die sie beeindruckten, über Dichter, deren Fremdheit in Italien sie sich verbunden fühlte und sie gibt Zeugnis über selbst erlebte Geschichte. «L’uso dell’inglese ha costituito per la Origo una garanzia di libertà di pensiero», bemerkt Stelio Cro3 und konstatiert was ihr damit gelungen ist:

[…] un traguardo tanto difficile quanto singolare: una maieutica bilingue, che rivela al lettore inglese un aspetto nuovo di una cultura millenaria e spesso vista attraverso luoghi comuni, e al lettore italiano, una maggior comprensione del proprio paese, nel periodo più critico della sua storia: il fascismo e la seconda guerra mondiale. Iris Origo ha lasciato alla cultura italiana uno degli esempi più nobili: quello di una letteratura che, pur essendo profondamente ancorata alla Toscana, supera i confini regionali e anche nazionali.4

Seit Iris Origo beschlossen hatte, die erste englische Biografie eines großen italienischen Dichters, des im eigenen Land stets einsam und fremd gebliebenen Giacomo Leopardi, zu schreiben, reflektierte sie Möglichkeiten und Gefahren der ‹fremden› Sicht auf die Gegenstände ihres Schreibens. Als sie ein Vorwort zur italienischen Übersetzung dieses ersten von ihr veröffentlichten Buches, Leopardi. A Study in Solitude5 verfasste, formulierte sie die diffizilen Ansprüche, die die Arbeit des Übersetzens ebenso wie die des Schreibens über Literatur, die nicht dem eigenen Kulturkreis entstammt, an eine Autorin stellen:

Forse quando si cambia lingua, conviene cambiare non soltanto il tono ma anche, talvolta, la sostanza del discorso. Ecco, tra altro, ciò che rende tanto difficile, se non impossibile, l’arte della traduzione. […] Penso, infatti, che quando si scrive sulla letteratura d’un paese che non è il nostro, s’ha da camminare con pantofole di piuma: non si tratta, soltanto di capire bene un’altra lingua, ma di calarsi a fondo nella cultura, nelle traduzioni, nelle abitudini d’un altra nazione.6

Erst 2017, fast dreißig Jahre nach ihrem Tod, wurden Iris Origos Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1939 und 1940 gefunden und veröffentlicht, wie ihre Enkelin Katia Lysy berichtet.7 Es ist wichtig, nun auch diese Aufzeichnungen in deutscher Übersetzung zu publizieren, denn die Lektüre könnte den Blick gerade deutschsprachiger Leserinnen und Leser öffnen: Sie könnte erreichen, dass sie ihre eigene Geschichte in einem weiteren Rahmen begreifen. Und dass sie die Region besser verstehen lernen, die so viele von ihnen Jahr für Jahr besuchen und dabei häufig im wahrsten Sinne des Wortes verständnislos bleiben: naiv geschichtsvergessen dem gegenüber, wie sich genau hier am Sehnsuchtsort Toskana gemeinsame Vergangenheit vollzog, unwissend über Genese von Landschaft und Kultur, mit nur leidlichem Interesse und Bemühen um direkte sprachliche Kommunikation, stattdessen häufig auf der Suche nach touristisch geprägtem ‹Genuss› von Kunst, Kulinarik und kostbaren Weinen oder nach einem persönlichen Goethe’schen arcadia8 – auch das im Übrigen Zeugnis eines Unverständnisses, ist doch die griechische Landschaft Arkadien seit jeher eher karg als lieblich.

Die deutsche Fassung des Tagebuchs von 1939/1940 der polyglotten Autorin Iris Origo, die in zwei Sprachen gleichzeitig lebte und schrieb und sich ihres Lebens in verschiedenen (Sprach-)Kulturen immer bewusst war, hätte nicht nur, wie jeder Text, eine sorgfältige, reflektierte Übersetzung verdient, sondern in besonderem Maße eine, die bei der Lektüre beide Sprachwelten sichtbar macht, ja, die im besten Fall den eigenen Ton der Sprache, die Iris Origo daraus ‹er-findet›, hörbar macht. Diejenige aber, die hier von der Anglistin und als Sachbuch-Übersetzerin ausgewiesenen Anne Emmert vorgelegt wird, erfüllt diese Wünsche nicht. Eine Nachbemerkung, der man gerne entnehmen würde, welche Überlegungen und Kriterien die Übersetzerin geleitet haben mögen, fehlt leider. Und so liegen deren Schwierigkeiten blank vor den Augen der Leserinnen und Leser. Diese Veröffentlichung zeigt einen eklatanten Mangel an Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt in Übersetzung und Lektorat, an cultural literacy, der es bei der Übertragung bedurft hätte, und deren Fehlen umso mehr schmerzt, wenn es darum geht, eben jene abzubilden, die dem Werk von Iris Origo in so außerordentlichem Maß eingeschrieben ist.

Nach der Lektüre des Bandes hatte sich bei der Rezensentin eine umfangreiche Liste von Stellen in der Übersetzung angesammelt, die sich – nach einem Abgleich mit dem Original – als im Deutschen unbeholfen, anglisierend, teilweise uninformiert oder sinnentstellend, im Sprachregister nicht dem Original entsprechend, sondern flach und umgangssprachlich oder gar als sprachlich falsch erwiesen. Bei etlichen Formulierungen zeigt sich ein deutlicher Mangel an Vertrautheit mit italienischer Kultur und Lebenswelt. Einiges sei hier zur Illustration aufgeführt: Auf S. 19 finden wir «Konsumladen», im Original «cooperative stores», mit denen die COOP-Läden gemeint sind, die seit Mitte des 19. Jh. in Italien bestehen und heutigen Leserinnen und Lesern im Gegensatz zu «Konsum»-Läden allgemein bekannt sind. Auf S. 21 begegnen wir «Fiberköfferchen», im Original «little fibre suitcases», denen wohl eher das deutsche «Pappköfferchen» entspricht. Auf S. 24 wird umgangs- bzw. jugendsprachlich «ätzend kommentiert», im Original findet sich «Comment on […] is very acid» – Origos Sprachregister entsprechend eher ein «äußerst scharfer», «bissiger» oder «beißender Kommentar»; ein ähnlicher Fall ist das mit «dröge» (S. 83) anstatt mit «langweilig» übersetzte «boring». Die Frage aus dem Original «who will work the farm» übersetzt Anne Emmert mit «Wer soll dann die Farm bewirtschaften», obwohl es im Deutschen darum ginge «den Hof» zu bewirtschaften; auf S. 71 begegnet uns ein «Kofferträger», im Original «porter», statt eines «Gepäckträger[s]». Auf S. 88 wird «an italian picture-paper» zu «eine[r] italienische[n] Bilderzeitung» statt zur «Illustrierte[n]» – da es sich dabei, wie aus Origos Text hervorgeht, um die Berliner Illustrierte Zeitung9 handelt, hätte eine kurze Recherche die unglückliche «Bilderzeitung» verhindert. Der Satz «Mussolinis Kalabrien-Rede in Florenz hörte ich mir auf der Straße an, wo sie mit einem Lautsprecher übertragen wurde» (S. 22) verdreht den Sinnbezug des Originals «I listened to Mussolini‘s Calabrian speech in the street, in Florence, where a loudspeaker was relaying it» (Mussolinis Kalabrien-Rede hörte ich in Florenz, auf der Straße, wo sie per Lautsprecher übertragen wurde). Auf S. 66 heißt es «Sie gingen davon aus, dass sich Hitler Danzig und den Korridor einverleiben und keiner etwas dagegen unternehmen würde»; im Original lautet der Satz «They thought that Hitler would succeed in obtaining Danzig and the Corridor and were told that no one would intervene.» Der Begriff «Corridor» ist durch Großschreibung als Eigenname gekennzeichnet, es wäre also angebracht, entweder die zeitgenössisch geläufige deutsche Bezeichnung Danziger oder Weichsel-Korridor oder die heutige Bezeichnung Polnischer Korridor zu wählen oder ihn mit einer entsprechenden Anmerkung zu versehen; statt des aus dem Sprachregister des Originals, «obtaining», fallenden locker-frechen «einverleiben» wäre «einnehmen» oder «annektieren» die angemessenere Übersetzung; auch das «sie gingen davon aus» gibt den Sinn des Originals «were told that» nicht exakt wieder. Mit unübersetzten bzw. unkommentierten Ausdrücken schließlich wie «Exhortation» (S. 32)10 oder «Bathos» (S. 16)11 bewegt sich die Übersetzerin aus dem Wortschatz ihres deutschsprachigen Lesepublikums heraus. Schlicht falsch ist die Übersetzung «Lachse»(S. 70) der vom italienischen König im Piemont geangelten Forellen, im Original «trout», oder der «Bestrebungen» (S. 94), wo im Original vom «struggle» des italienischen Risorgimento die Rede ist. Darüber hinaus fanden sich ärgerliche Druckfehler.12

Die dem Text beigegebenen Anmerkungen sind in Fuß- und Endnoten aufgeteilt. Diese Aufteilung wird nicht eingeführt und bleibt ebenso wenig plausibel wie unhandlich, denn so finden sich neben den nummerierten auch mit * gekennzeichnete Begriffe im Fließtext: Die nummeriert als «Anmerkungen» beigegebenen Endnoten, allein 12 von den insgesamt nur 17 betreffen dasselbe Werk, enthalten die wenigen Literaturverweise, die sich im überwiegenden Teil auf die im «Vorwort» (im englischen Original übrigens «Introduction» betitelt) zitierten Textstellen beziehen, und verweisen auf die in deutschen Übersetzungen erschienenen, aber fast vollständig vergriffenen Texten von Iris Origo – wenn man diese Angaben also schon als notwendig erachtet, hätten sie ebenfalls in Fußnoten untergebracht werden sollen, um den Text leichter erschließbar zu machen. Die Fußnoten sind mit «Anm. d. Ü.» gekennzeichnet und enthalten Übersetzungen aus dem Italienischen sowie Erklärungen, die an manchen Stellen, auch aufgrund der z. T. ungeschickten Formulierung, doch eher unklar bleiben. In einigen Fällen enthalten sie leider nicht die an der Stelle wirklich relevanten Erläuterungen und lassen Leserinnen und Leser einigermaßen fassungslos zurück, so z. B. an der Stelle, an der Origo eine Rede Hitlers zusammenfasst: «[…] German troops have invaded Poland as a measure of ‹active defense› (a new expression). Italy is given Germany‘s thanks for her ‹comprehension›», übersetzt lesen wir auf S. 58 «deutsche Truppen seien im Zuge einer ‹aktiven Verteidigung› (ein neuer Ausdruck) in Polen einmarschiert, heißt es. Deutschland danke den Italienern, weil sie Hitlers Haltung ‹begriffen›[…]». Ärgerlich ist hier nicht nur, dass im Text die Fußnoten-Markierung zu «active defence» falsch gesetzt ist, sondern nahezu besorgniserregend sind die hilflosen Angaben der Übersetzerin in der Fußnote. In einer deutschen Ausgabe wäre an dieser Stelle zu erläutern gewesen, dass sich die von Origo als a «new expression» bezeichnete «active defense» wohl auf die berüchtigte Passage in der Rede vom 1.9.1939 vor dem deutschen Reichstag bezieht, jene Phrase, die sich ins deutsche kollektive Gedächtnis eingebrannt hat und zu einer Chiffre für den Überfall auf Polen geworden ist, «[…] Polen hat nun zum ersten Mal auf unserem Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen»13 Und ebenfalls hätte hier eingefügt werden müssen, dass Hitler in dieser Rede tatsächlich sagte: «Ich möchte hier vor allem Italien danken, das uns in der ganzen Zeit unterstützt hat», dass bei ihm also weder von «begreifen» oder «verstehen» die Rede war, wie es Iris Origo aus der Übertragung im italienischen Radio mit dem als Zitat markierten Begriff «comprehension» wiedergibt. Eine verantwortungsvolle Übersetzerin recherchiert in einem Fall, in dem Bezug auf ein Zitat in der Zielsprache genommen wird, dieses und erläutert Text und Wortwahl samt Kontext für das Publikum dieser Sprache. Stattdessen gibt uns Anne Emmert zu all dem simplifizierend unreflektiert als Anmerkung «Das erste Zitat findet sich nicht wörtlich in Hitlers Rede; das könnte mit den verschiedenen Übersetzungsvorgängen zusammenhängen» – zu wenig in jeder Beziehung.

Keine Lektüre-Empfehlung also? Im Gegenteil, die Rezensentin rät zu, allerdings zum Original A Chill in the Air: An Italian War Diary, 1939–1940 (bei Pushkin Press 2017, dann bei New York Review of Books Classics 2018 erstmals erschienen und im Handel erhältlich). Der schmale Band bietet eine interessante und gut geschriebene Lektüre, gerade für das deutsche Lesepublikum: Iris Origo berichtet ja von gemeinsamer Geschichte, davon, wie die schreckliche Politik des nationalsozialistischen Deutschlands damals in der heute so gerne besuchten Toskana empfunden wurde, und somit eben von dem, an was sich die Menschen, denen wir heute dort begegnen, selbst erinnern oder was in ihren Familien weitererzählt wird. Leserinnen und Leser verfolgen Tag für Tag Iris Origos Wahrnehmung der politischen Entwicklungen in allen Facetten. Ihr Tagebuch dokumentiert gleichsam in ‹Echtzeit› wie der Faschismus dort seinerzeit gelebt oder auch infrage gestellt wurde, wie der näher rückende Kriegseintritt Italiens diskutiert wurde. Iris Origo notiert dazu: ihre Beobachtungen im Alltag ebenso wie die Berichterstattung und Darstellung politischer Ereignisse in Reden, in Radio und Presse. Alle Reaktionen und Bewertungen vermerkt sie aufmerksam, die der Bauern auf La Foce, der Amtsträger, der Freunde in Italien und überall sonst. Schreibend dokumentiert sie und legt sich selbst Zeugnis ab um reflektieren und einordnen zu können. Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind so spannend, weil ihr Blick, von Empathie und aufrichtigem Interesse geleitet, sich wach und scharf auf alles richtet. Um einen ungefilterten Eindruck davon zu geben sei hier die Eintragung aus der englischen Ausgabe zitiert, die sie am 16. April 1939 in Venedig macht:

It is curious – the unanimity with which everyone here refuses to believe in the possibility of war. I dont’t mean only the general public, who don’t know the facts, but also people who do. Everyone I have seen in the last few days (S., the banker; Volpi’s14 daughter, who had just been talking to Balbo15; General R., William Phillips16, representing the diplomatic opinion in Rome) all agree that there won’t (some say «can’t») be war. I do not get the impression this is merely wishful thinking. I expect that they are entirely right in saying that Mussolini intends to avoid war – knows indeed, that though he might swing his country into it, there would be a revolution within a few month. But this may be a miscalculation: 1) of Mussolini’s capacity to act as a moderating influence on Hitler; 2) of the amount which (as Fascists believe) can be obtained from the democracies by the present system of unceasing tension.
Venice is empty of tourists. Even Germans have stopped coming – because of the large German debt to Italy. (Even payments to the Italian workmen in Germany take six or seven month to reach their families, being paid not in cash but through «clearance»). «Eh, signora, la politica!» says the gondolier in a tone of disgust. «Well, so long as there’s no war!» says the hairdresser. «Better tighten your belt a bit than be killed.»
Today I have seen here – under the arcade of the Doge’s Palaces – the first and only air-raid shelter for the general public that I have yet seen in Italy. (A Chill in the Air, S. 54)

Die Passage zeigt nicht nur die Breite der Eindrücke, die sich Iris Origo von der sie umgebenden Lage verschaffte, sondern führt vor, wie kenntnisreich und emanzipiert im Denken diese 37-jährige Frau sie zusammenführt, analysiert, Zusammenhänge herstellt und ihre eigenen Schlussfolgerungen daraus zieht. Ihr Stil ist einem privaten Tagebuch gemäß zwar in gewisser Weise kolloquial, nie aber geschwätzig, dem Ziel ihres Schreibens – festhalten und reflektieren – entsprechend ist er prägnant und präzise. Der Autorin gelingt es, uns in einem knappen Abschnitt einen historischen Moment atmosphärisch dicht und höchst informativ vor Augen zu führen, obwohl wir mehr als acht Jahrzehnte später lesen. Iris Origo nutzt die Möglichkeit gleichzeitig Perspektiven von Nähe und Distanz einzunehmen, etwas, was ihr ihre kosmopolitische Persönlichkeit «from deep down» und das im Praktischen und Intellektuellen vielgestaltige Leben in verschiedenen Kulturen und Sprachen, in denen sie ebenso verwurzelt wie «a little foreign» war, ermöglichte. Die Haltung der Schreibenden, die hier und in allen ihren Texten durchscheint, ist stets eine unprätentiöse und den Menschen zugewandte. Im Leben wie im Schreiben interessierte sich Iris Origo für das, was sie umgab, was ihr vor die Augen kam und setzte sich damit auseinander, um zu verstehen, um andere verstehen zu lassen und um den Menschen, die es brauchten, zu helfen – eine wahrlich aufklärerische und humane Art der Welt zu begegnen. Und ein guter Grund sich ihrem literarischen Werk zuzuwenden.

  1. Zit. n. Caroline Moorehead: Iris Origo. Marchesa of Val D‘Orcia, London: John Murray Publ. Ltd. 2003, S. 1.
  2. Iris Origo: Kriegsjahre im Val D’Orcia. Toskanisches Tagebuch 1943/44, München: Beck Verlag 1991, S. 245.
  3. Stelio Cro: Iris Origo. Dalle radici nel neorealismo alla solitudine dell‘utopia. From the solitude of utopia to cultural transformation, Montepulciano: Edizioni Le balze 2002, S. 61.
  4. Ebd., S. 7.
  5. Erstmals 1935; eine überarbeitete Version wurde 1953 bei Hamish Hamilton veröffentlicht, auf der die italienische Übersetzung von Paola Ojetti beruht, die erstmals 1974 bei Rizzoli erschien.
  6. Iris Origo: «Prefazione» in: Leopardi. Storia di un’anima, Milano: Rizzoli 1994, S. 9.
  7. Katia Lysy: «Afterword», in: Iris Origo: A Chill in the Air: An Italian War Diary, 1939–1940, Pushkin Press 2017, New York Review of Books Classics 2018, S. 169ff.
  8. Dazu z. B. Golo Maurer: Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst, Hamburg: Rowohlt 2021.
  9. 1890 als «erste illustrierte Wochenzeitschrift»gegründet. Siehe z. B. https://www.historische-magazine.de/berliner-illustrierte-zeitung/
  10. Englisch. Im Deutschen Exhorte (veraltet) bzw. lt. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, nur als Exhortativ (Modus der Ermahnung, Ermutigung) möglich.
  11. Englisch. Im Deutschen kaum geläufig, z. B. nicht im Duden Fremdwörterlexikon, höchstens als literaturwissenschaftlicher Fachbegriff, s. z. B. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur: abrupter Wechsel von erhabenem zu niederem Stil-Register, oft einhergehend mit ins Lächerliche ziehen.
  12. Zum Beispiel S. 43: «Wie die meisten Liberalen seien sie die Überzeugung […]»
  13. Die Protokolle der Reden sind zugänglich unter: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_n4_bsb00000613_00000.html.
  14. Giuseppe Volpi (1877–1947), 1925–28 Finanzminister unter Mussolini, später u. a. Direktor der Biennale von Venedig [Anm. U. R.-M.].
  15. Italo Balbo (1896–1940), u. a. 1929 Luftwaffenminister unter Mussolini [Anm. U. R.-M.].
  16. Origos Patenonkel, zu dieser Zeit US-Botschafter in Italien [Anm. U. R.-M.].