Kalabrien. Nachwort

• Gino Chiellino1


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-F447-6

Für Lean Milla Leto Noelie Eero Milo

Calabria / Kalabrien und seine Namen: Enotria, Italia, Bruttium und Magna Graecia. Im Lauf seiner vor- und historischen Geschichte hat der schmale Landstrich zwischen Tyrrhenischem und Ionischem Meer, vom Pollino-Gebirge bis zur Meeresenge von Messina, unterschiedliche Namen erhalten. Der Legende nach hat der mythologische König Italos das von ihm eroberte Enotria, das zwischen dem heutigen Lamezia Terme und Reggio Calabria lag, in Italia umbenannt. Anderen Quellen ist zu entnehmen, dass hier das Volk der Itali lebte, die den Stier (Italos auf Altgriechisch) als eigenen Totem / Gott ehrten. Historisch belegt ist nur die Tatsache, dass der Name Italia als geographische Definition für die gesamte Halbinsel unter Kaiser Augustus offiziell verwendet wurde. Die latinisierten Namen Bruttium und Magna Graecia sind dagegen historisch belegt und beziehen sich auf das Land der Bretti mit ihrer Hauptstadt Cosenza und auf das Megalē Hellas / Großgriechenland, d. h. auf die griechischen Kolonien entlang der ionischen und tyrrhenischen Küsten Kalabriens, darunter Sybaris, Thurii, Petelia, Kroton, Skylletion, Kaulon, Lokroi Epizephyrioi, Rhegion, Hipponion, Mesma und Terina. Erst durch die administrative Umorganisation des römischen Italiens in 11 Regionen unter dem Kaiser Augustus wurde die Bezeichnung Bruttium auf das gesamte Gebiet des heutigen Calabria ausgedehnt. Mit dem damals existierenden Name Calabria hingegen wurde das heutige apulische Salento bezeichnet. Nach dem Untergang des Römischen Reiches (476) geriet der Name Calabria in den Strudel der sich in Suditalien abwechselnden Herrschaften und verschob sich allmählich von Osten immer mehr nach Westen. In Bezug auf das heutige Calabria wird der Name in dem erstmalig verliehenen Titel Duca di Calabria (Herzog von Kalabrien) an Robert von Anjou im Jahr 1297 erwähnt. Zu dieser Zeit war die Region in zwei Verwaltungsgebiete geteilt: Calabria Citra im Norden und Calabria Ultra im Süden. Erst mit der Gründung des Königsreichs Italien, 1861, kam es zur Übereinstimmung von Name und Landfläche, so wie man sie heute kennt, und sie wurde durch die Verfassung der Italienischen Republik 1947 bestätigt.

Vier Gründe für die Entdeckung Kalabriens durch die europäische Literatur im 18. und 19. Jahrhundert:

Zu Beginn seiner Entdeckung steht die neu entfachte Sehnsucht Europas nach der Antike. Kalabrien wird als Teil von Großgriechenland aufgesucht, wie es in Casanovas Beitrag und vor allem im zweiten Sendschreiben von Hermann von Riedesel deutlich wird. In allen Reiseberichten wird dennoch auf die soziale Wirklichkeit Kalabriens im 18. Jahrhundert eingegangen und daher sind sie zu Auskunftsbelegen für die Rekonstruktion der Sozialgeschichte Kalabriens geworden.

Das Erdbeben von Messina und Reggio von 5. Februar 1783 mit der verheerenden Erdbebenwoge an der Küste zwischen Reggio Calabria und Pizzo stellt die tragische Zäsur dar zwischen der großgriechischen Vergangenheit und der nationalen Zukunft in der Wahrnehmung Kalabriens. Hierzu haben Wissenschaftler aus ganz Europa beigetragen, die dort nach einer Erklärung der Auslöser von Erdbeben als Naturphänomen suchten und Berichte über Land, Bewohner und ihre Lebensbedingungen verfasst haben.

Der Krieg um Kalabrien (1806–1811) als Gebiet des Königsreichs beider Sizilien: Dabei wurde aus Kalabrien ein sekundäres Schlachtfeld zwischen den Supermächten Frankreich und England (Duret De Tavel). Bekanntlich ereignet sich dort, was auf dem Hauptschlachtfeld nicht erlaubt ist (Alberto Savinio).

Kalabriens Berg- und Meerlandschaften als Inspiration für Literatur von Homer bis Ingeborg Bachmann, Abenteuer bei Seneca und Malerei bei reisenden Malern wie Edward Lear, haben bis heute kaum an Reiz verloren.

Das Bild Kalabriens in der Literatur und Essayistik des 20. Jahrhunderts ist durch das soziale Bewusstsein der betreffenden Autoren stark geprägt, wie es schon bei Tommaso Campanella und Vincenzo Padula der Fall war. Dies betrifft in gleicher Weise Schriftsteller aus Kalabrien wie Corrado Alvaro, Mario La Cava, Saverio Strati, Vito Teti, Mario Fortunato, Angela Bubba und den Liedermacher Rino Gaetano sowie Schriftsteller aus anderen Regionen Italiens wie Cesare Pavese, Alberto Savinio, Pier Paolo Pasolini, Paolo Rumiz und sogar den Schweizer Kuno Raeber. Francesco Micieli und Gino Chiellino stehen hier als Stellvertreter einer Generation von Schriftstellern aus Kalabrien, die im Ausland leben und sich entschieden haben, ihre Werke in deutscher, französischer oder englischer Sprache zu schreiben.

Die verpasste Zukunft und der neue Anfang: Seit mehr als einem Jahrhundert bestehen italienische Politiker und Ökonomen jeder Couleur darauf, Kalabriens soziale und wirtschaftliche Entwicklung als Teil der sogenannten Südfrage lösen zu wollen. Dadurch hat sich eine schädliche, parasitäre Selbstwahrnehmung durchgesetzt, wonach die Zukunft der Region nicht von den dort lebenden Kalabresen abhängt, sondern woanders geplant und gewährleistet werden soll. Parallel hierzu hat sich eine irreführende landesweite Wahrnehmung Kalabriens durchgesetzt. Seine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung wird ständig am Entwicklungsstand der nördlichen Regionen gemessen. Was wiederum bedeutet, dass der Norden ein Pflichtziel für Kalabrien darstellt, oder anders gesagt, der Region steht keine autonome Entwicklung bzw. Zukunft zu. Seit dem Wiederaufbau Italiens nach dem zweiten Weltkrieg wurde in der Tat immer wieder versucht, die unlösbare Südfrage durch zaghafte Agrarreformen, Industrialisierung des Südens, Aufbau von Infrastrukturen u. a. zu lösen (Paolo Rumiz). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich allerdings eine tiefgreifende Veränderung in Kalabrien ereignet. Das Land hat wieder zu sich selbst als Agrarregion gefunden. Nach der Auflösung der jahrhundertelangen Ausbeutung der Region durch parasitäre Großgrundbesitzer (Vincenzo Padula) und dank einer jungen Generation von Kalabresen – zum Teil mit einem akademischen Abschluss in der Tasche (Patrizia Giancotti), ist die Landwirtschaft Kalabriens im Aufwind. In landwirtschaftlichen Betrieben werden seit Jahrzenten jene «edlen» Produkte wieder hergestellt, die europäische Reisende stets mit Begeisterung erwähnen, darunter: Wein, Olivenöl, Zitrusfrüchte, hochwertige Gemüse, Milchprodukte, Wurst- und Teigwaren, Reis, Zitrusfrüchte- und Kastanienhonig, Lakritz und traditionsreiche Fischereiprodukte. Ein neuer Anfang, der auf die endgültige Auflösung der Südfrage zielt! Am Ende meiner Arbeit angelangt, habe ich festgestellt, dass es Tage gedauert hat, bis ich aufgehört habe, Ad esempio a me piace il sud von Rino Gaetano zu summen, das ich während des [sic; der] Entstehung des Bandes immer wieder gehört habe:

Aber was tun, weiß ich nicht –
Ja, ich muss es mitteilen, aber wem?
Sollte mal jemand es verstehen,
wird er bestimmt jemand wie du sein.

Gino Chiellino,
München, März 2020

  1. Das Nachwort erscheint hier verbatim zur Buchfassung, die Redaktion hat in einigen wenigen Fällen die Schreibweisen angepasst. Eine Rezension des Kalabrien-Bandes aus der Reihe Europa erlesen, dem dieses Nachwort entnommen wurde, findet sich ebenfalls in dieser Ausgabe von Horizonte: https://horizonte-zeitschrift.de/de/article/gino-chiellino-hrsg--ikalabrien-ibrklagenfurt-celovec--wien--ljubljana--berlin-wieser-verlag-2020-218nbsps--euro-1495brisbn-978-3-99029-343-0-europa-erlesen