Lucia Dell’Aia / Jacopo D’Alonzo (Hg.): Lo scrigno delle segnature: lingua e poesia in Giorgio Agamben. Con un inedito di Giorgio Agamben
Amsterdam: Istituto Italiano di Cultura 2019 («i quaderni di poesia», 7).
https://iicamsterdam.esteri.it/IIC_Amsterdam/resource/doc/2019/09/lo_scrigno_delle_segnature.pdf

• Martina Kollroß •


PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EAA0-C

Auf der Türschwelle, im Spiel, lässt Patrizia Cavalli ihr Gedicht La Guardiana (Nottetempo 2005) enden: «giocando io alla porta e tu alle chiavi». Damit bilden die Schlussverse ein ideales Epigraf für Giorgio Agambens Aufsatz Porta e soglia, der den Band Lo Scrigno delle Segnature. Lingua e poesia in Giorgio Agamben, herausgegeben von Lucia Dell’Aia und Jacopo D’Alonzo, eröffnet. In seinem bisher unveröffentlichten Aufsatz ist ‹porta› die Signatur, durch die Zeichen und Konzepte von einer Sphäre auf eine andere verschoben werden, ohne sie semantisch neu zu definieren. So kann ‹porta› «Durchgang», aber auch «Absperrung» bedeuten, und wird weiter gefasst gar zum leeren Raum, zur Schwelle. Denn es ist die Sprache selbst, die für Agamben eine Art scrigno darstellt, eine ‹Schatulle› von Signaturen, ein Archiv immaterieller Ähnlichkeiten, der Raum eines historischen Kräftefelds, in dem Vergangenheit und Gegenwart miteinander kommunizieren. «Giocando io alla porta e tu alle chiavi», ein Spiel in poetischer Sprache. Es wird darin verschoben, versteckt, geöffnet und erinnert, wodurch es in hervorragender Weise die Funktionsweise von ‹Signaturen› im Werk Agambens illustriert.

Diese hermeneutische Methode, auf der auch sein Homo-Sacer-Projekt aufbaut, erfuhr neben seinen philosophisch-politischen Schriften bislang zu Unrecht eine stiefmütterliche Behandlung von Seiten der Kritik. Um die enge Verflechtung von philosophischem pensiero und poetischer Sprache in Agamben im Hinblick auf die besondere Funktionsweise der Signatur noch einmal zu unterstreichen, verweist die Herausgeberin Dell’Aia in einer kurzen Postille auf ein weiteres Gedicht Patrizia Cavallis (Datura, Einaudi 2013). Damit schließt sie den ersten Teil des bündigen ‹quaderno›, das aus einer Initiative der internationalen Forschungsgruppe «Harpocrates», unterstützt vom italienischen Kulturinstitut der Niederlande, hervorgegangen ist.

Im zweiten Teil werden die Interpretationsmöglichkeiten, die der vielschichtige und komplexe Signatur-Begriff liefert, u.a. in Auseinandersetzung mit der Theorie der Äußerung Benvenistes, der archäologischen Methode Foucaults, der Geschichtsphilosophie Benjamins und des analogischen pensiero Melandris aufgefächert. In La poesia e il memorabile untersucht Lucia Dell’Aia das Verhältnis von Poesie und Geschichte bei Agamben, wobei sie die Analyse von der dialektischen Organisation von Sinn und Rhythmus in der poetischen Sprache zur Interpretation von Agambens Konzept des presente immaginario aufspannt. Roberto Talamo interessiert sich in seinem Beitrag La segnatura del passato. Un paradigma del personaggio letterario für die Spannung, die sich zwischen der Kontingenz der literarischen Figur und der Schicksalhaftigkeit der Handlung ergibt. Er erkennt in der extremen Kontingenz, die Melvilles Figur Bartleby charakterisiert, in besonderem Maße die passeità als Signatur der Vergangenheit, die dem fiktiven Charakter eingeschrieben ist. Etwas weiter vom titelgebenden Thema entfernt, diskutiert Carlo Salzani die ‹menschliche Natur› in enger Weiterführung der Ideen Foucaults als semantische Konfiguration bzw. Signatur. Dabei analysiert er die Funktionsweise der Fundamentalsignatur ‹Mensch› als Dispositiv, das das Leben der Lebewesen markiert und darüber entscheidet. Dem Text sind zwei Abschnitte nachgestellt, die analog zu Agamben sogenannten soglie, in denen Salzani zunächst dekonstruktivistische Ansätze zurückweist, um dann im Paradigma der ‹Nymphe› eine Möglichkeit zur Deaktivierung der Signatur ‹Mensch› mit ihren biopolitischen Implikationen zu vermuten.

Jacopo D’Alonzo hebt in Quale metodo per le scienze umane? Alcune riflessioni sulle condizioni di possibilità dell’atto segnatoriale die Rolle der Theorie der Äußerung von Benveniste in den methodisch-linguistischen Reflexionen Agambens hervor. Statt im Sinne des doppelgesichtigen sprachlichen Zeichens in der Linie Aristoteles–Saussure, sei die Signatur dabei analog zum énoncé zu lesen, und somit als «insieme di pratiche discorsive o regole anonime, ma determinate storicamente» (S. 62). Um die Spaltung zwischen langue und parole zu überwinden, und somit auf die historische Erfüllung der Signaturen hinzuarbeiten, fordert er, ihre Abhängigkeit von sozialen Produktionsverhältnissen anzuerkennen. Auch Vittoria Borsò weist in La segnatura come gesto e le resistenze dell’archivio darauf hin, dass die Signatur für Agamben eine Möglichkeit zur Überwindung der Spaltung von langue und parole darstellt. Sie schlägt vor, die Signaturen als Gesten bzw. Gebärden zu verstehen, um sie in Richtung einer relationalen, prozessualen Ontologie denkbar zu machen. Der Beitrag des in der Zwischenzeit bedauerlicherweise verstorbenen Paul Collili schließt das Heft: Angels or Signatures of an Archeology of Existence. 2019 war noch seine Studie Agamben and the Signature of Astrology: Spheres of Potentiality erschienen. Mit der Figur der Engel greift er ein weniger häufig besprochenes Paradigma in Agamben auf, das er in Zusammenhang mit dem Verhältnis von schöpferischem Akt und Lebensform setzt.

Jenseits von aktuellen, polemisch geführten Debatten weist der von Dell’Aia und D’Alonzo herausgegebene Band in die Tiefe von Agambens Denken und bezeugt Wert und Originalität einer vernachlässigten methodologischen Figur, die in vielen Richtungen fruchtbar gemacht werden kann.