Marcostefano Gallo: La fragilità dei palindromi
Corigliano-Rossano (CS): Ferrari editore 2018, 288 S., 20 €
ISBN 978-889-997-169-4

• Sabrina Maag •


PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EA97-7

Ein kleines Dorf in Calabrien, Mongrassano, und seine Bewohner mit ihren Sorgen, Nöten und Hoffnungen sind die Protagonisten dieses Romans. Die ersten Kapitel sind hierbei eine Einführung in Form von kleinen Portraits, die jedes eine der Figuren und ihr Schicksal vorstellen und sich so einem Mosaik gleich langsam, aber sicher zu einem Gesamtbild fügen. Die Steinchen dieses Mosaiks sind die typischen kleinen Tragödien und Komödien aus dem Alltag einer (süditalienischen) Dorfgemeinschaft: Carlo Marino, der korrupte Bürgermeister, der seine wunderschöne Ehefrau Beatrice schlecht behandelt; der falsche Steuerberater Luciano Raimondi, der auch beim zigsten Versuch das Examen nicht besteht und in fortgeschrittenem Alter noch bei den Eltern wohnt; Concetta Posteraro, die ewige Verlobte, die nach zehn Jahren noch immer auf den Heiratsantrag hofft und zwischenzeitlich die Bar ihres Vaters übernommen hat; Maria Visconte, die kurz vor der Hochzeit vom Bräutigam verlassene Frau, die durch diesen Kummer stumm geworden ist und unter dem Druck der Mutter ein Bordell eröffnet hat; Otto Kofler, der Polizist aus dem Norden, der hier im Süden nie richtig ernst genommen wurde und dessen Frau Giovanna im Dorf als femme fatale gilt; die Witwe Cava, die sich mit dem dorfbekannten Schürzenjäger Lucio Posteraro tröstet; der Arzt Cesare Formoso, der überzeugt ist, an seinem 44. Geburtstag sterben zu müssen, da ein Fluch auf seiner Familie lastet; und Carmela Visconte, eine magara, die einerseits allen suspekt ist, andererseits aber fast jeden der Bewohner schon einmal vom bösen Blick befreit hat. Im Zentrum stehen unerfüllte Lebensträume, gebrochene Herzen und unmöglich erscheinende Liebesgeschichten, die verbunden sind durch die Überzeugung der Protagonisten, dass dies ihr unabänderliches Schicksal ist, aus dem sie sich nicht befeien können. Sie alle befinden sich in einer Art resignierter Lähmung, wie Concetta:

Ci aveva pensato spesso sul suo terrazzo nelle albe fresche d’estate, aveva sognato una vita a leggere libri e un amore che potesse bastare a riscaldare gli inverni, ma come un palindromo è intrappolato dentro la sua indivisibilità, così lei era incapace di percorrere la via per un’esistenza felice. (S. 64)

Das Palindrom, das hier zur Metapher wird für das Gefühl, sich aus den festgefahrenen Bahnen des eigenen Lebens nicht befreien zu können, ist die zentrale Figur des Romans und der eigentliche Protagonist. Den ersten und den letzten Satz des Romans bildet das berühmte Palindrom «In girum imus nocte et consumimur igni». Der feste Platz, den jeder einzelne Buchstabe im Palindrom einnimmt und den er nicht verlassen kann, ohne das gesamte Palindrom zu zerstören, entspricht den engen Verstrickungen der verschiedenen menschlichen Beziehungen im Gefüge des Dorflebens, dessen Erhalt auf der Perpetuierung des Gegenwärtigen beruht. Doch was wiederholt von den Protagonisten als unerbittliche Strenge des Palindroms angesehen wird, erhält durch ein ungewöhnliches Ereignis eine andere Interpretation: Eines Morgens kündigen zahllose Aushänge und Zettel ein neues Radio für Mongrassano an, das Radio 323, dessen Name selbst ein Palindrom ist und das als «nuova voce a Mongrassano» (S. 86) angekündigt wird. Seine Sendezeit ist 21:12 Uhr, sein Programm der «neuen Stimme» basiert auf dem vom Moderator erklärten Credo:

Il numero 323 è un numero che da qualsiasi lato lo leggi è sempre lo stesso, così come la nostra radio, che è diretta, che non dà mai la possibilità di interpretazioni ambigue dei suoi contenuti, perché è e sarà sempre dalla vostra parte! (S. 125)

Mit seinen bald schon von fast allen Einwohnern begeistert verfolgten Sendungen bringt das Radio 323 die festgefahrenen Verhaltensmuster durcheinander. Neben skandalösen politischen Enthüllungen widmet sich jede Sendung auch persönlichen Themen wie Glück, Ehre und Liebe. Die Offenheit, die «keine ambigen Interpretationen» duldet, wird für viele Dorfbewohner zu einem Anstoß, sich aus ihrer zur Selbstverständlichkeit erstarrten Unzufriedenheit zu befreien. Die Interpretation des Palindroms als einer Figur, die erbarmungslos die Wahrheit zeigt, egal von welcher Seite man eine Angelegenheit auch betrachtet, löst die von der Gefangenschaft der Buchstaben innerhalb eines Palindroms ab. Die ineinander verflochtenen Handlungsstränge steuern immer unaufhaltsamer auf ihren Höhepunkt zu, parallel zu den immer fieberhafter voranschreitenden Vorbereitungen auf den Höhepunkt des Jahres in Mongrassano, das Fest der Schutzpatronin Sant’Anna – deren Name nicht zufällig selbst ein Palindrom ist. Der Tag des Festes schließlich, der das vorletzte Kapitel des Romans bildet, bringt die mittlerweile instabil gewordenen palindromhaften Verbindungen vollends durcheinander und stellt das Leben fast aller Protagonisten auf den Kopf.

Wie in einem Anagramm, dessen Sonderform das Palindrom ist, brechen Verbindungen auseinander und es entstehen neue aus dem vorhandenen Buchstabenmaterial. Der Zerbrechlichkeit starrer Strukturen, die auf der Unverrückbarkeit von Verhältnissen beruht, wird die Autonomie ihrer Elemente entgegengesetzt, die sich befreien und zu neuen Formationen anordnen.

Der Epilog informiert den Leser über die weiteren Schicksale der Personen, wobei bei Weitem nicht alle ein besseres Leben führen. Nicht nur hat die Befreiung der einen den Absturz von anderen mit sich gebracht, auch gibt es gescheiterte Befreiungsversuche sowie vereitelte, wie der nie aufgefundene Leichnam eines der Protagonisten bezeugen würde: gewissermaßen ein «palindromo che adesso era stato troncato» (S. 85). Der Roman, eine großartige Hommage an eine rhetorische Figur und eine kluge und feinsinnige Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen, schafft es so, nie in den Kitsch unwahrscheinlicher Happy Endings zu verfallen, denn auch die Hoffnung, die das richtig gelesene Palindrom und auch die Poesie, im Roman durch die gemeinsame Liebe von Otto – auch sein Name ein Palindrom – und Concetta zu Emily Dickinson repräsentiert, geben können, ist eine zerbrechliche.