Mauro Pusceddu: La paraninfa
Nuoro: Edizioni Il Maestrale, 2019, Euro 16, pp. 197
ISBN 978-886-429-204-5

• Sabrina Maag •


PID: https://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-EA9A-4

Ceci n’est pas un polar! – Dies ist kein Krimi!

René Magrittes La trahison des images, aus dem das berühmte Zitat «Ceci n’est pas une pipe» stammt, konfrontiert den Betrachter mit dem unlösbaren Widerspruch zwischen der Realität und ihrer Repräsentation, zwischen Objekt und Abbildung, kurzum zwischen Realität und Imagination oder Kunst. In etwas anderer Form stellt auch Pusceddu den unlösbaren Konflikt zwischen Realität und Imagination in den Mittelpunkt seines Romans, einen Konflikt, der uns in verschiedenen Ausprägungen begegnet und letztlich zu der Frage führt, ob es nur eine Wahrheit geben kann oder doch mehrere.

Doch kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Dies ist kein Krimi. Diese Feststellung berührt eine zentrale Frage, wenn es darum geht, den Roman La paraninfa von Mauro Pusceddu zu charakterisieren. Denn die Requisiten eines Kriminalromans sind in La paraninfa zweifelsohne vorhanden: ein politischer Schachzug im Zusammenhang mit den spanischen Erbfolgekriegen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, bei dem es um nicht weniger geht als darum, ob der Wittelsbacher Kurfürst Max Emanuel von Bayern sich zum König von Sardinien krönen lässt. Eine Intrige, die dazu gedacht ist, den Kurfürsten von der Fruchtbarkeit und Schönheit der kargen Insel zu überzeugen, die ihre Drahtzieher zu obskuren Machenschaften treibt. Und schließlich, unverzichtbares Ingredienz jedes Kriminalromans: ein Mord, verübt an einem Gesandten des Kurfürsten, der sich mit eigenen Augen von dem überzeugen soll, was Vincenzo Bacallar Sanna in seinem für den Roman namensgebenden Traktat Sardaigne Paranymphe de la Paix (1714) über die Insel schreibt.

Doch der Mord an dem Gesandten Louis Donnerschlag Ufer, dem zum Verhängnis wird, dass er sich nicht von seinem sardischen Führer hinters Licht führen lässt, sondern unerbittlich die Unzulänglichkeiten des Königreichs Sardinien in seinem Notizbuch festhält und damit die geplante ‹Hochzeit› zwischen Sardinien und Bayern in Gefahr bringt, ist nicht der einzige im Roman. Der zweite ereignet sich gegen Ende des Romans im zweiten Handlungsstrang, der parallel zum historischen verläuft und gewissermaßen die Rahmenhandlung zu den historischen Ereignissen um Sardinien und Louis Ufer bildet. Protagonist ist Rolf Jürgen Brau, Professor für Rechtsgeschichte in Cagliari, dem durch Zufall eine Schachtel mit bislang unbekannten Briefen regelrecht in die Hände fällt, Briefen, die die Intrige um «la Sardegna paraninfa della pace» und den Mord an Louis Ufer ans Licht bringen. Er tauscht sich darüber mit seinem Mentor Professor Baumann aus, den er schließlich während dessen Urlaub auf einem Campingplatz aufsucht, um dort festzustellen, dass dieser in der Nacht zuvor seine Lebensgefährtin, Kristine, umgebracht hat.

Zwei Morde, zwei Handlungsstränge und Protagonisten, die zunächst vollkommen unabhängig voneinander erscheinen und doch aufs Engste miteinander verwoben sind. Die Verbindung der beiden Handlungsstränge entsteht durch die von Brau gefundenen Briefe, die in den Roman eingeflochten werden. Sie sind ein klassisches Element des historischen Romans und Grundlage einer Herausgeberfiktion, die ebenfalls zu dessen klassischem Inventar zählt. Die Verbindung der Genres ‹historischer Roman› und ‹Kriminalroman› ist bei Weitem nichts Neues und erlangte durch Umberto Ecos Il nome della rosa Weltruhm.

Aber La paraninfa ist viel mehr als eine Mischung aus historischem und Kriminalroman. Die Ereignisse der beiden Handlungsstränge – jene des frühen 18. Jahrhunderts und jene des frühen 20. Jahrhunderts – sind nicht nur erzählerisch miteinander verflochten, indem sich Dokumente der historischen Ebene abwechseln mit Kapiteln, die das Leben von Brau, teilweise in Rückblicken, erzählen. Sie kreisen wie Atome um einen Kern: die Frage nach Wahrheit und Lüge. Diese Frage begleitet die Literatur seit ihren Anfängen durch den Vorwurf Platons, eine Verderberin des Volkes zu sein, da sie aus Lügen gemacht sei, und ist besonders präsent im Genre des historischen Romans und dem ihm inhärenten Begriffspaar Storia e storie, Geschichte und Geschichten.

Pusceddu verbindet diese beiden Begriffe mit großer Meisterschaft: Neben Auszügen aus der tatsächlich erschienen Schrift von Bacallar Sanna stehen fiktive Briefe veschiedener, an der Sache Beteiligter ebenso wie das fiktive Bekenntnis vom zum Mord an Ufer angeheuerten Wilkonson, einem Piraten und Kapitän der Mannschaft um Long John Silver, Protagonist eines Romans, der eine Art Fortsetzung der Schatzinsel von Robert Louis Stevenson ist, oder auch ein – fiktiver – Artikel aus Wikipedia.

Während die meisten historischen Romane die Naht zwischen realen historischen Ereignissen und Figuren und fiktiven bis zur Unkenntlichkeit zu versäubern suchen, um die Übergänge zwischen Storia und storia unmerklich zu vollziehen, legt Pusceddu alle – oder nicht alle? – Inspirationsquellen in einem Anhang offen, der die Intertextualität als Verfahren der Literatur einmal mehr hervorhebt und den Entstehungsprozess des vorliegenden Romans thematisiert. Anstelle eines Amalgams verschiedener Texte präsentiert La paraninfa ein Palimpsest im Genetteschen Sinn, dessen Schichten, Texte und Zeitebenen sich überlagern, ohne miteinander zu verschmelzen, und dessen Kern die Frage nach Wahrheit und Lüge bleibt.

Das Palimpsest ist hierbei eine formale Wahl, die einen Schlüssel zum gesamten Roman darstellt und endgültig die Frage nach der Verbindung der einzelnen Zeitebenen und Handlungen beantwortet. Denn im Palimpsest wird die vorhandene Schrift durch eine neue «überschrieben», ohne dass die alte dadurch verschwindet. Es repräsentiert das Nebeneinander verschiedener Schriften und Zeitebenen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Eine Art der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist die gleichzeitige Gültigkeit von Wahrheit und Lüge, die nicht nur zurückführt zur Literatur als vermeintlicher Lüge, sondern die auch an mehreren Stellen im Roman diskutiert wird. So schreibt Bacallar Sanna in seiner Lebensbeichte und Entschuldigung an Max Emanuel, mittlerweile König von Sardinien, er habe in seiner «feconda bugia» über Sardinien lediglich das antizipert, was sich später verwirklichen werde, denn «saprete fare della mia infelice terra di Sadegna, dipinta in Atlantide dalle mie menzogne, quel regno che in realtà non ho mai smesso di sognare per la mia gente» (S. 158f.).

Ausgangspunkt für die Überlegung, ob etwas gleichzeitig wahr sein kann und falsch, ist hier ein Problem der Quantenmechanik, das im berühmt gewordenen Gedankenexperiment von Erwin Schrödinger, «Schrödingers Katze», veranschaulicht wird. Ausgehend vom Problem der Unvorhersagbarkeit quantenphysikalischer Naturvorgänge, stellt «Schrödingers Katze» eine Versuchsanordnung in einer abgeschlossenen Kiste dar, wobei der Ausgang des Versuchs nicht vorhersehbar ist. Ob die Katze lebt oder tot ist, kann erst in dem Moment entschieden werden, in dem die Kiste geöffnet wird. Vorher, so Schrödinger, ist die Katze zugleich tot und lebendig. Fulminant inszeniert wird diese Theorie im Zusammenhang mit dem Mord an Kristine, einer Physikerin, in der Rahmenhandlung:

– Quindi due storie sono contemporaneamente possibili? Il Wesentlicher Punkt è frutto di una bugia, o magari non lo è, ed entrambe le cose sono vere?
[...] Dopo un attimo di silenzio, Baumann prosegue: – Non credo più, ora e adesso, a una vera e propria teoria della bugia salvifica, – la sua voce mi sembra buia e disperata, folle, – non esiste nessuna funzione d’onda, nei rapporti umani, che possa racchiudere in sé un insieme di eventi veri e falsi contemporaneamente. Dentro quella tenda non c’è la stessa Kristina viva e morta. Una delle due condizioni è l’unica ad essere vera.
– Professore, che dice? – mormoro, sperando nella prova di una sua innocua pazzia, ma in quel momento il gatto esce dalla tenda con le zampe sporche di sangue, macchiando la stuoia stesa davanti. (S. 161f.)

Die Frage nach der gleichzeitigen Gültigkeit zweier sich ausschließender Zustände und nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird bereits im ersten Kapitel, im «Prologo», diskutiert im Zusammenhang mit der Frage nach der Beschaffenheit der Zeit:

– Fermare il tempo? Per quel che ne sappiamo il tempo non potrebbe fermarsi, – dice la donna, – ma è una misura, un’illusione, magari il contenitore di ogni essere finito?
– Potrebbe essere un’entità statica?
– Potrebbe essere composto da tante piccole bolle di tempo, con dentro ogni istante vissuto e queste bolle potrebbero essere ferme da qualche parte e siamo solo noi ad attraversarle. Il tempo che passa potrebbe essere solo un’illusione. Come la terra ferma per i tolemaici e il sole che ci girava attorno. Anzi, io ci credo, – sussurra la donna dopo un sorso di the, – credo che sia davvero così […]
– E allora, se tra un’ora, quando andremo via da questa spiaggia e mi lasciassi davvero, rimarrebbe una bolla di sapone con dentro noi due, ora e per sempre? E anche un’altra bolla dove non stiamo più assieme? (S. 14)

Neben vielen anderen Dingen, die La paraninfa von Mauro Pusceddu ist, gehört sie zu den klügsten und lesenswertesten Romanen über Wahrheit und Lüge. «Schrödingers Katze», deren Augen den künftigen Leser auf dem Cover aus einer Schachtel heraus anzuschauen scheinen, lehrt uns dank dieses Kriminalromans, der eigentlich kein Kriminalroman ist, dass es ganz wundervoll sein kann, die Katze im Sack zu kaufen – man darf nur den Sack nicht öffnen!