Michael Schwidtal: Viktor Hehn. Kulturwissenschaft aus dem Geist der Philologie
Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2020, 248 S., Euro 52,00
ISBN: 978-3-8253-4798-7

· Ursula Reuter-Mayring ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-F457-4

[…] prägnant und luzid, weil geschult an der klassischen Tradition, dabei zugleich bildhaft und von poetischer Anmut, – ein Stil, der die Grenze zwischen gelehrtem Traktat und geistreichem Essay aufhob und deshalb dem Verfasser nicht immer zum Vorteil gereichte, weil man nicht wusste, wie er zu rubrizieren sei1,

so schrieb Klaus von See vor fast dreißig Jahren über Viktor Hehns Sprache und Stil. In einer überaus gründlichen wissenschaftlichen Arbeit präsentiert uns nun Michael Schwidtal diesen Autor detailliert und facettenreich: Auch sein Anliegen ist es, «den hervorragenden Stilisten und Essayisten Victor Hehn neu zu entdecken und so der deutschen Literatur einen ehemals zu recht hochgeschätzten Schriftsteller zurückzugewinnen» (S. 21). Aber darüber hinaus zielt er auf eine umfassende Darstellung dieses Autors und seiner Methode und die gelingt ihm so gut, dass sie zu einer eigenen, nun noch vielversprechenderen (Wieder-)Lektüre von Victor Hehn drängt.

Wie der Untertitel des Buches ankündigt, interpretiert Michael Schwidtal Victor Hehn als Kulturwissenschaftler quasi avant la lettre. Hehn beschäftigten «die Übergänge zwischen Natur und Kultur sowie die Bedingungen für ihren Bestand» (S. 9); in seinen Studien ging es immer wieder darum, wie Menschen die materielle Natur konfrontierten und sie in vielerlei Sinn ‹urbar› machten. In seinen Arbeiten, Italien. Ansichten und Streiflichter (St. Petersburg 1867), Kulturpflanzen und Haustiere… (Berlin 1870) und Das Salz… (Berlin 1873), entwickelte er, wie aus dem reflektierten Umgang und der gezielten Pflege, dem colere (bzw. mittellateinisch cultivare), ein beständiges cultum (bzw. cultivatum) entsteht, also eine in der ganzen Gesellschaft wirkende und sie prägende Kultur. Hehn begründete Kultur ganz speziell auf dem Gartenbau, der einerseits durch die Natur bestimmt wird, andererseits im Unterschied zur Nomaden- oder Jägerexistenz nach überindividueller und beständiger Ordnung verlangt: Sei es z. B., um Bewässerung zu installieren und zu regeln oder Gelände zu terrassieren, sei es, um mittels Verträgen Eigentum und Handel unter verlässlichen Bedingungen zu ermöglichen etc. So führt, nach Hehn, das im Gartenbau notwendige gemeinschaftliche Wirtschaften hin zu verfassten Gesellschaften und die im Gartenbau immanent angelegte Dauerhaftigkeit macht diese Gesellschaften stabiler – Bedingungen, damit Geschichte entsteht.

Erst die Gestaltung der Natur zur Landschaft erlaubt es dem Menschen, er selbst, nämlich ein Kulturwesen zu sein, das dem Ganzen dient und uns deshalb als ein Typus interessieren darf, der von der Welt, die er gestaltet, getragen wird, ein ganz unromantisches Wunder. […] Hehn kennt zwar den dramatischen Moment der historischen Wende, tritt aber der Dominanz der Ereignisgeschichte entgegen und wendet sich gegen die Legende von der schicksalhaften Bedeutung großer Individuen und Nationen. (S. 218f.)

Diese Art von Kulturübertragung, die sich besonders in der Kultur von Oliven, Feigen und im Weinbau manifestierte, vollzog sich nach Victor Hehns Überzeugung von Osten nach Westen bis Europa: Hehn nahm besonders den Mittelmeerraum mit allen ihn umgrenzenden Gebieten ins Auge, um diese Entwicklung darzustellen und die Verbreitung und Adaptierung von Gartenbau, Steinbau, Kulturpflanzen und Haustieren aus den semitischen Hochkulturen, die Vermittlung durch die Phönizier in die Ägäis und schließlich ihre Fortsetzung in der griechischen und römischen Antike zu verfolgen. Bemerkenswert ist dabei, dass er tatsächlich stets den bis an die großen Wüsten reichenden Südrand des Mittelmeers mitdenkt. Bei seinen Untersuchungen widmete sich Hehn auch der Analyse verschiedenster Begrenzungen dieser Kulturübertragungen durch Klima und Naturgegebenheiten ebenso wie durch historisch-politischen Wandel in der römischen und Spätantike und – seiner Auffassung nach – endlich vor allem durch das christliche Mittelalter.

Insgesamt war Hehns Ansatz einer, der bereits ein Konzept der longue durée entwarf bevor es ca. 80 Jahre später von Ferdinand Braudel in seinem Werk La Méditerrannée et le monde méditerranéen... (1949) und der Schule der Annales eben für den von Hehn schon untersuchten Mittelmeer-Raum vorgelegt wurde:

Erst durch Braudel ist die Denkfigur der longue durée allgemein bekannt geworden, die Hehn in seinen Büchern über Italien wie über Kulturpflanzen und Haustiere entfaltet, wobei er sich auf die stabilen Beziehungen von Mensch und Natur konzentriert, das Pendant, die wechselhaften politischen Ereignissen lässt er weitgehend beiseite. Wie später Braudel untersucht er die Beziehung zwischen der Geschichte und ihrem Raum. […] Um die Herkunft der ursächlichen Einflüsse zu rekonstruieren, empfiehlt Braudel, wohl ohne Hehn zu kennen, jedenfalls ohne ihn zu nennen, die von ihm entwickelte historisch-linguistische Methode, weil auch er der Meinung ist, dass durch den Wortschatz die Provenienz von Kulturgütern vergleichsweise verlässlich bestimmt werden kann. (S. 216)

Hehns Begriff der cultura beschreibt Michael Schwidtal ausführlich in zwei Hauptkapiteln, in denen er die genannten Hauptwerke Hehns zu Italien und zu den Kulturpflanzen genau untersucht und zeigt, wie die von Hehn angewandte Methode dem «Geist der Philologie» entspringt:

Hehn [geht] fast immer von der kritischen philologischen Untersuchung literarischer Texte aus. Linguistische Erkenntnisse sollen zusätzlichen Aufschluss vermitteln und werden stets anhand der historischen Quellen überprüft. Auch wenn er nachzuweisen versucht, dass die griechischen und lateinischen Namen für Kulturpflanzen und Haustiere entlehnt sind, geht es ihm weder nur um die Geschichte der Sprache noch um die des Gartenbaus allein. Vielmehr will er zeigen, wie prägend, ja bedeutsam für die Kulturgeschichte die Gestaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ist, von der die Sprache zeugt. (S. 118)

Schwidtal verfolgt anhand von reichem Quellenmaterial Hehns akribische Lektüren antiker Texte und belegt die Bedeutung, die Hehn solcher Textarbeit zumaß. Dabei geht Schwidtal selbst quasi einem philologischen Kommentar gemäß vor; das unterstreicht nicht nur seine Einschätzung von Victor Hehns Texten als klassische innerhalb ihres Genres, sondern demonstriert den Leserinnen und Lesern gleichzeitig, wie wertvoll und spannend diese Art des Erschließens ist.2 Darüber hinaus gleicht er Hehns Schlussfolgerungen und Interpretationen mit neuesten Erkenntnissen aus Archäologie und Linguistik bzw. Sprachgeschichte ab und so begegnen wir in diesen Kapiteln des Bandes historischen Einschätzungen zur Kulturgeschichte mitsamt deren Bestätigung oder Relativierung durch neueste Forschungsergebnisse – eine Lektüre, die viele Anregungen zu vertiefender und erweiterter Beschäftigung birgt.

Den Verbindungslinien zu folgen, die Schwidtal neben jener zu Braudel aufzeigt – sei es zu «Vorbilder[n]» (Kapitel II, A) wie Alexander von Humboldt, August Boeck und Carl Ritter oder zu «Alternativen» (Kapitel II, B) wie Jacob Burckhardt und Johann Jacob Bachofen – ist ebenso spannend wie denen seiner Rezeption durch Hugo von Hofmannsthal oder Rudolf Borchardt (Kapitel V, A) nachzugehen. Alle diese Aspekte beleuchtet Schwidtal ausführlich und kenntnisreich. Ein Abschnitt ist auch der Nachwirkung und möglichen Positionierung innerhalb der sich entwickelnden Kulturwissenschaften (Kapitel V, C) gewidmet. Hier stellt er Hehns Auffassung von der entscheidenden Bedeutung des von «natürlichem Maß» bestimmten kulturellen Tuns des Menschen heraus und thematisiert, wie überholt sie einerseits angesichts des von Hehn nicht absehbaren technischen Fortschritts geworden waren, wie aktuell sie aber andererseits doch inzwischen wieder sind:

Hehn setzt auf wissenschaftliche Erkenntnis und technische Erfindung, hält sie aber dann für wertlos, ja sogar schädlich, wenn es kein ästhetisches und moralisches Regulativ gibt, sondern der Mensch das ihm Angemessene nicht mehr weiß. […] Feind der Kultur ist die rücksichtslose Bewegung im Raum, das nomadische Umherstreifen, das es kaum erlaubt, den Ort des vorübergehenden Aufenthalts kennenzulernen, weshalb er ohne weitere Fürsorge zu erfahren, rasch vergessen wird, aber auch die Fahrt mit dem Auto (oder dem Flugzeug), das beschleunigt, bis nur noch Schemen sichtbar sind. […] Sein Beitrag zur heutigen Diskussion könnte auch deshalb überzeugen, da er die Ursachen für den Verlust der ganzheitlichen Weltsicht und Wirtschaftsweise selbst aufzeigt. Er bedauerte, dass die Naturwissenschaft als vermeintliche «Herrin der Zeit» die Arbeit des Historikers über Gegenstände der Natur als Verirrung, ja als Eingriff in ihre Rechte ansah und die analytische Denkweise für allgemein gültig erklärte, obwohl auch sie, mit einem Terminus Ernst Cassirers, als ‹symbolische Form› aufzufassen ist und keineswegs die Natur ‹an sich› zu erkennen vermag. Die Naturwissenschaft dürfe sich nicht als Leitdisziplin missverstehen, habe sich weiter an der Philosophie zu orientieren, die über nur partikulare Kausalität hinausgeht. (S. 220 f.)

Außerordentlich aufschlussreich schließlich ist auch die Präsentation von Victor Hehns «Lebenswelt» (Kapitel I). Während Schwidtal die Stationen von Bildung, Karriere, von Reisen und Lebensräumen in Victor Hehns Biographie abschreitet und dabei auch das Umfeld der Deutschen im Baltikum eingehend beleuchtet, eröffnen sich Leserinnen und Lesern weitere interessante Einblicke: So antwortet Schwidtal auf die Antisemitismus-Vorwürfe gegen Hehn, indem er Editions- und Rezeptionsgeschichte von dessen Werken einschließlich aller Verfälschungen und Instrumentalisierungen, vornehmlich durch den Osteuropa-Historiker und politischen Publizisten Theodor Schiemann (1847–1921), sorgfältig erarbeitet, kritisch kommentiert und ihnen somit die Grundlagen entzieht. Offensichtlich wird in Schwidtals Arbeit ebenfalls, wie sich aus den Lebenserfahrungen des Deutschen im Baltikum in einer Zeit allgemeinen Nationalbewusstseins, Nationalismus und ‹völkischer› Orientierungen bei Victor Hehn eine ganz gegenteilige Haltung bildet, die er von seinen kulturwissenschaftlichen Forschungen bestätigt sah:

Für Hehn ist Nationalität eine „Naturform“, deren Beschränktheit es durch Fortschritte der Zivilisation zu überwinden gilt. […] «Die Völkerscheidung ist von Natur aus schon fest genug gemacht: den Menschen allgemein zu machen ist Bewegung des Geistes. Was nationale Schranken niederwirft, ist Fortschritt, ist human; was sie befestigt ist barbarisch.» (S. 64)

Und schließlich zeigt sich – nicht nur im biographischen Teil des Buches – die schwierige Positionierung eines wissenschaftlichen Werks außerhalb von akademischen Institutionen. Victor Hehns Werk traf in seiner Zeit auf eine akademischen Welt, in der sich alle Fächer ausdifferenzierten und als spezifische Disziplinen zu etablieren suchten und gerade erst das übergreifende, synthetisierende Gelehrtentum des 18. Jahrhunderts hinter sich zu lassen wünschten. Schwidtals detaillierte Informationen über die allgemeinen und individuellen Bedingungen von Hehns Karriere, über seine Forschungsmöglichkeiten und die Reaktionen seiner Zeitgenossen, Wissenschaftler verschiedenster Fachbereiche, auf seine Arbeiten, geben auch kulturhistorische Einblicke in das, was heute ‹Wissenschaftsbetrieb› genannt werden würde.

Michael Schwidtals Buch über Victor Hehn ist also reiche Quelle und kluger Kommentar zu den Werken dieses Autors, der in zeitlos eleganter und stilsicherer (Wissenschafts-)Prosa wie schon Goethe, dem Hehn ausführliche Reflexionen widmete3, eben auch über Italien schrieb, über jenen bis heute immer weiter thematisierten und dabei doch so oft undeutlich begriffenen «Contrast»4 zu den nördlich der Alpen gelegenen Gegenden, über die italienischen Landschaften, wo «in Gestalten und Profilen eine reife Milde [herrscht], plastischer Schwung, weicherer Wellenfluss, der aber den Ernst, die Bestimmtheit und Energie nicht ausschließt.»

  1. Klaus von See: «Victor Hehns Kulturtheorie», in: Olive, Wein und Feige. Kulturhistorische Notizen von Victor Hehn, hg. von Klaus von See, Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1992, S. 109.
  2. Zu Geschichte und Begriff des Philologischen Kommentars s. z. B.: Nikolaus Wegmann: «Philologischer Kommentar», in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, 1998, S. 268 f., oder Marcel Lepper: Philologie. Zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag, 2012.
  3. Victor Hehn: Gedanken über Goethe, erstm. Berlin 1887-88.
  4. Victor Hehn: Italien. Ansichten und Lebensbilder, Kap. I «Contrast», Darmstadt 1992, S. 1–5, erstm. 1867.