Peripheres Schreiben in einer peripheren Existenz
Dolores Prato: Giù la piazza non c’è nessuno

· Henrieke Markert ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-DA61-6

Es braucht schon einiges an Überzeugung und verlegerischem Mut, den äußerst umfangreichen, nicht eindeutig klassifizierbaren Roman einer unbekannten und seit gut 25 Jahren verstorbenen Autorin erstmals zu übersetzen. Was für ein Glück, dass der Pariser Verlag Verdier mit der Veröffentlichung von Bas la place y’a personne genau das getan hat. Die positive Resonanz auf das Werk in Frankreich hat nun auch Verlage in anderen Ländern zu diesem Schritt ermutigt, sodass die deutsche, englische und niederländische Übersetzungen von Dolores Pratos Giù la piazza non c'è nessuno erscheinen werden.1 Auf die Verlagsvorschauen darf man gespannt sein, hat dieses Buch doch so wenig mit den jüngsten italienischen Romanerfolgen auf dem internationalen Markt zu tun. Denn im Mittelpunkt von Pratos existenziellem Schreiben steht nicht das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, sondern die Erinnerung eines empfindsamen und selbstbewussten Mädchens an seine Kindheit in einem kleinen Dorf in Mittelitalien, Pratos Kindheit. Diese ist von großer Einsamkeit und Nichtbeachtung geprägt, aber auch von Momenten voll Freude und Genuss, die eine feine Wahrnehmung und reiche Gefühlswelt offenbaren. Autobiographisch ja, aber ohne jenes ordnende oder sinnstiftende Selbstverständnis, denn die Erinnerung bleibt bisweilen vage, wird nur hier und da zeitlich verortet. Und auch sprachlich birgt Giù la piazza einige Besonderheiten.

Verschlossene Zugbrücken

Diese jüngste zahlreicher Wiederentdeckungen von Pratos Hauptwerk setzt eine Editions- und Rezeptionsgeschichte fort, die schon seit Erscheinen der Erstausgabe 1980 alles andere als geradlinig verlaufen ist. Um das für sperrig und ausufernd gehaltene Werk ‹lesefreundlicher› zu machen, ließ der Verlag Einaudi das umfangreiche Manuskript damals von Natalia Ginzburg bearbeiten und auf etwas mehr als ein Drittel des Textes eindampfen. Noch bis zu ihrem Tod 1983 überarbeitete Dolores Prato den Originaltext, der erst 1997 von Mondadori in seiner Gesamtheit veröffentlicht und von Quodlibet 2009 erneut aufgelegt wurde.
Was Natalia Ginzburg damals glätten sollte, waren nach Einschätzung Einaudis die Eigenheiten eines Stils, den das Gros des Publikums als eigenwillig und unliterarisch empfinden musste. Prato selbst hatte für Ginzburgs Änderungen an ihrem Text Verständnis, auch wenn sie viele der vermeintlichen Korrekturen in mühsamer Arbeit wieder rückgängig machte:

Mentre faticavamo non capivo le ragioni che l'avevano mossa a manomettere un po' qua e là il testo. Ma poi ho capito e ho finito di volerle bene anche per questo. Lei ha sempre amato questo libro, con quelle manomissioni voleva renderlo più accessibile. Io salto i verbi come se qualcuno mi corresse dietro; i miei passaggi sono ponti levatoi mai abbassati; lei riduceva più intellegibile il mio modo di scrivere; ma io preferivo tenermi ai miei difetti.2

Dabei kann man nicht sagen, Pratos Prosa sei hermetisch. Doch bewegt sich diese mit ihren dialektalen und umgangssprachlichen Elementen, einer elliptischen und ungewöhnlichen Syntax fernab vom literarischen Duktus jener Zeit – ein Aspekt, der die Autorin damals zur Außenseiterin macht.

Mit Wundern gesprenkeltes Elend

In Giù la piazza non c'è nessuno erzählt Dolores Prato ihre Kindheit in dem kleinen Ort Treja (heute Treia) in den Marken, wo sie kurz nach ihrer Geburt am 10. April 1892 von der Mutter bei einem verwandten Geschwisterpaar in Pflege gegeben wurde und bei denen sie bis ins Jugendalter wohnte. Diese können ihr Bedürfnis nach Zuwendung und Beachtung nur sehr ungenügend erfüllen und Dolores fühlt sich die meiste Zeit wie ein Störelement. Zudem ist sie als uneheliches und verstoßenes Kind einer verarmten Oberschicht in dem kleinen Ort auch gesellschaftlich ausgeschlossen. In dieser menschlichen Isolation wird die sinnlich erfahrbare Umwelt für Dolores zur einzigen Quelle von Lust und Freude. «Le persone non mi parlavano ma le cose sì; erano una folla; riempivano la casa.» (S. 75) Die vielfältige Beschaffenheit von Stoffen und deren Farben haben dabei eine besonders anziehende und tröstende Wirkung auf sie: «Fili d'argento, fili d'oro, riflessi di tinte cangianti, fissità di rosa, azzurro, mauve; morbidezze di sete, di rasi, di velluti; stoffi di trine, lucentezze di lustrini, carezze di un'estatica solitudine.» (S. 74) Aus Angst, erneut verlassen zu werden, schafft sich Dolores ein mentales Refugium, das von äußeren Ereignissen nicht erschüttert werden kann, und wird zur Entdeckerin einer von magischen Alltagsgegenständen bewohnten Welt:

‹La lanterna cieca› fu la mia lanterna magica: nel suo nome, frammenti tenebrosi. Nella sua funerea forma assomigliava ai confratelli della buona morte: sacco nero col cappuccio nero. Era un cilindro nero con davanti una parte di se stessa girevole per nascondere o svelare la fiamma interna. Il cappuccio, un comignolo a punta, forato qua e là per il respiro della fiamma; e perché la luce non trapelasse, i buchi avevano sopra un tettuccio come gli abbaini. (S. 85)

Ein Knäuel Fragmente

Prato folgt in ihrem Werk nur sehr grob einer übergeordneten Chronologie. Vielmehr entspinnen sich zahlreiche Erzählfäden anhand gleichberechtigt nebeneinander stehender Themen, die von Zeit zu Zeit wieder aufgenommen werden. Zwar beginnt der Roman mit Dolores' erster Erinnerung und endet mit ihrem Eintritt in die Klosterschule als Jugendliche, darüber hinaus erinnert das Erzählen aber eher an konzentrische, assoziativ miteinander verknüpfte Kreise. Diese Struktur steht in metaphorischer Verbindung zu den zahlreichen Absätzen über das Spinnen, Weben, Sticken und Nähen. Denn es war üblich, Mädchen zunächst in Handarbeit zu unterrichten, bevor man ihnen das Lesen und Schreiben beibrachte. Während die Autorin die Zimmer, Straßen, Gebäude, Menschen und Träume ihrer Kindheit durchmisst, verknüpft sie ihre Erinnerungen zu einem detailreichen Bild. Ihre Beschreibungen entwickeln dabei eine mitreißende Dynamik, die jeden Gegenstand, jedes Ereignis in poetische Materie verwandeln:

In principio, alla fine della fiammata, c'era un breve momento mio eterno: seguire l'andare annientandosi della carta bruciata. Per un attimo conservava la forma di quando aveva finito di fiammare, un attimo forse inesistente perché anche ardendo si distruggeva, anche dopo la fiammata, durante quel germogliare di fiammelle che lingueggiavano qua e là in tentativi di fatua ripresa, la distruzione continuava, nero edificio in demolizione che si abbassava, che rovinava andando sempre verso il meno. Da apparente massa nera si schiariva col suo diminuire, fino a restare un mucchietto di inconsistente velo grigio-topo, su cui brillava ad archetti, a serpentine, a lineette e punti un discorso di fuoco, singhiozzante, saltellante, scritto in un più ricco alfabeto Morse, apparente e sfuggente; imprevedibile minuscolo gioco di fuoco che apparendo su quel che stava diventando niente, scompariva; i più tenaci a risorgere saltellanti erano i punti; quando neppure questi s'accendevano più, avevo davanti l'immagine di un ciuffetto di velo; col pollice e l'indice ne pizzicavo un poco: non prendevo mai niente; sulle dita solo il suo colore come dopo avere stretto le ali di una farfalla. (S. 58)

Bühnen des Alltags

Mit der Beschreibung ihrer Umwelt liefert uns Dolores gleichzeitig das Bild einer verschwundenen und als marginal empfundenen Lebenswirklichkeit: des Alltags in einem kleinen Ort in Mittelitalien an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert. Dabei bekommen Pratos Erinnerungen bisweilen sogar einen anthropologischen Charakter, beispielsweise bei der Beschreibung der Frauen aus Monte Sole, die zum Schutz vor Regen ihre Überröcke über den Kopf zogen:

Il gesto era stato così naturale che se in un improvviso scroscio di pioggia sul mercato, qualcuna non l'avesse fatto, l'avrebbero guardata. È difficile alzare di colpo con grazia e precisione una veste larghissima; ma per quelle era una trasmissione atavica diventata facile e leggera, nessuno pensava di riderci. (S. 273)

Die spannenden Beschreibungen alter Bräuche und Aberglauben wie auch obsolet gewordener Gegenstände und Werkzeuge verleihen dem Werk einen zeitgeschichtlichen Aspekt. Dank Dolores' ungeniertem und imaginierendem Blick haftet den Figuren und Gebäuden dieser alten Welt aber immer auch etwas Theatralisches, Mystisches und oft Groteskes an:

La moglie, la signora Marianna, era senz'altro la donna meno appariscente. Tanto evanescente e incolore che di lei prendevano consistenza solo il nero della veste e dello scialle come se camminassero da soli. Nell'apertura dello scialle s'intravvedevano un volto appuntito e slavato con l'attaccatura dei capelli biondi così tirati che parevano dipinti sulla pelle. Parlava come se succhiasse le uova. (S. 327)

Der Höhepunkt des Dorflebens sind die katholischen Feste und Riten mit ihrer immer gleichen Dramaturgie, die auch Dolores mit großer Spannung erwartet und die sich wie ein Krimi vor ihren Augen abspielen:

‹Ufficio delle tenebre.› Quelle tre parole che cadevano in pieno sole, erano un dolore desiderato, una melanconia amata, un dolce turbamento. Alla fine di ogni salmo si alzava un chierico e col cappuccio in cima alle canne, spegneva una candela; cominciava dal basso; non aspettavo che quello e contavo le fiammelle rimaste; quando ce n'erano rimaste due o tre, cominciavano a spegnere anche quelle dell'altare finché Gesù restava solo in cima al triangolo: senza spegnerlo lo toglievano di lì e lo nascondevano dietro l'altare. Le tenebre erano fatte; gli apostoli erano fuggiti, Gesù era morto e non morto; nascondendolo dicevano che Gesù era nel sepolcro, che aspettava solo di riapparire. (S. 380f.)

Wir haben keinen Anfang

Als Dolores Prato mit siebzig schreibend an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, vollführt sie einen Akt der Auferstehung. Obwohl ihr Blick in die Vergangenheit gerichtet ist, hat man den Eindruck eines direkten und unmittelbaren Geschehens. Es gibt zwar immer wieder auch Vor- und Rückblenden sowie reflektierende Momente, aber dank der unmittelbaren Sprache und assoziativen Struktur erscheint die Erinnerung nicht durch die vergangene Zeit gefiltert und geordnet, sondern präsentiert sich als unvoreingenommene Gegenwart. So entsteht der Eindruck eines endlosen Selbstgesprächs, in welchem Prato zur Anwältin ihrer Kindheit wird und die mangelnde Zuwendung ihrer Zieheltern anklagt: «Se mi avessero amati di più e l'isolamento che subdolamente mi ha frenata, avrebbe nociuto meno. Invece dalla loro vita ero assente come dal gioco di campana.» (S. 233) Mit dem Erinnern erlangt Prato über ihre Existenz eine Gewissheit, die ihr von ihrem frühen Umfeld versagt blieb: «Noi cominciamo ad essere col primo ricordo che riponiamo in magazzino.» (S. 4) Die Sprache, die sie sich dafür schafft, entfaltet eine mitreißende und hypnotisierende Wirkung und bringt diese innere Stärke facettenreich zur Geltung. Sich auf Pratos mäanderndes und ausgedehntes Erzählen einzulassen, verlangt nichtsdestotrotz auch von Leserseite einiges an Mut.

  1. Die deutsche Übersetzung des Buches erscheint im Hanser Verlag, angesichts der Komplexität und des Umfangs aber voraussichtlich erst in zwei Jahren.
  2. Brief von Dolores Prato an den Direktor des Espresso Enzo Golino am 12. Juli 1980, zitiert aus Prato, Dolores: Giù la piazza non c'è nessuno, Roma: Quodlibet 2016, p. XXVII. Alle folgenden Zitate stammen ebenfalls aus dieser Ausgabe und werden mit einer Seitenangabe in Klammern belegt.