Sandra Petrignani: La corsara. Ritratto di Natalia Ginzburg
Vicenza: Neri Pozza Editore, 2018, 459 S., Euro 18,00
ISBN 978-88-545-1118-7

· Ursula Reuter-Mayring ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-DA5E-B

Die Kultur-Journalistin (u. a. Panorama) und arrivierte Schriftstellerin Sandra Petrignani legte im vergangenen Jahr eine Annäherung an Natalia Ginzburg (1916–1991) vor. Von Petrignanis vorangegangenen Bücher wurden etliche bereits in mehrere Sprachen übersetzt.1 Auf Deutsch erschienen u. a. Die Irrfahrten der Circe (übersetzt von Renate Nentwig, 2000; Navigazioni di Circe, 1987) und Haus der Ahnen (übersetzt von Maja Pflug, 2008; Care presenze, 2004).

Der vorliegende, umfangreiche Band ist in vier Teile gegliedert, in denen die Autorin Ginzburgs Lebensabschnitte chronologisch verfolgt und dabei mit dem Werk der Dichterin verbindet. Detailreich erzählt sie von den großen Familiengeflechten, in denen sich Natalia Ginzburgs Leben vollzog, über Begegnungen, Freundschaften, Liebesbeziehungen, Ehen und Kinder, und wie diese auf ihr Leben Einfluss nahmen. Ebenso ausführlich werden die politischen, verlegerischen und schriftstellerischen Tätigkeiten geschildert. Die Zusammenschau all dieser Aspekte beschreibt schließlich nicht nur die individuelle Biografie Natalia Ginzburgs sondern nebenbei auch viele Facetten der Lebensbedingungen von Frauen im Italien des zwanzigsten Jahrhunderts. Etliche Aspekte, zu denen Sandra Petrignani ihr reiches Material präsentiert, sind zwar schon ausführlich bearbeitet und rezipiert worden, jene z. B. die den Widerstand gegen den Faschismus oder die Gründung und frühe Jahren des Einaudi Verlags durch Ikonen der italienischen, intellektuellen Linken zum Gegenstand haben. Doch durch die Methode der Beschreibung sehr weiter Kontexte, die die Autorin als Weg der Annäherung an Natalia Ginzburg wählt, bietet die Lektüre des Bandes entlang des Verlaufes eines individuellen und besonderen Lebens auch ein breiteres Porträt, nämlich vom Leben in verschiedenen Regionen und sozialen Gruppen während entscheidender Phasen der Geschichte und Kultur Italiens. Ausführlich wird uns auch die Materialsuche selbst beschrieben: Über wen Kontakt hergestellt wurde oder wer wo Gastfreundschaft gewährte um Familie, Freunde und Orte, die im Leben Natalia Ginzburgs Bedeutung hatten, aufzusuchen; wir erfahren, wessen Ehefrau, gute Freundin, Enkel etc. all diese Mittelsmänner und -frauen sind und welcher Status ihnen und ihren Familien zugeschrieben wird – ein Verfahren, mit dem die Autorin allerdings hin und wieder Gefahr läuft, ins pure name dropping zu verfallen. Aus den Erinnerungen der vielen befragten (Zeit-)Zeugen des Umfelds von Natalia Ginzburg und den oft recht weitläufigen Passagen, die diese einleiten, erfährt die Leserin durchaus viel Interessantes, auch – womöglich unbeabsichtigt – über die intellektuellen Netzwerke, die im heutigen Italien die Hüter der Erinnerung eines Teils der Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein scheinen. Ein Verfahren, das Petrignani in La scrittrice abita qui, 2002 (deutsch: Wo Dichterinnen zuhause sind, übersetzt von Elisabeth Liebl, 2006) schon anwandte und das z. B. auch Maike Albath in ihren anregenden und fundierten Literatur-Büchern über Turin, Rom und Sizilien verfolgt, nimmt in diesem Zusammenhang ebenfalls breiten Raum ein: das Aufsuchen konkreter Orte, die im Leben Natalia Ginzburgs von Bedeutung waren. Damit mischen sich in Petrignanis Schreiben leichte Facetten von Reiseliteratur, die uns genretypisch in einem deutlich subjektiven Schreibstil entgegentreten.

Sandra Petrignani gibt ihrer Beschäftigung mit der großen italienischen Autorin des zwanzigsten Jahrhunderts insgesamt eine essayistische Form. Bibliografisch exakte Angaben bei den Zitaten2 oder sonstige Anmerkungen fehlen und beschränken den (literatur-)wissenschaftlichen ‹Gebrauch› des Werkes; beigefügt sind jedoch ein Namensregister und eine Bibliografie, die vieles von dem zu Natalia Ginzburg und ihrem Werk reichlich vorliegenden Material dokumentiert, auf das auch Sandra Petrignani offenbar rekurriert.3 Da die philologisch genaue Einordnung von zitierten Textstellen aber eben nicht direkt ermöglicht wird, findet sich die in dieser Hinsicht interessierte Leserin bei der Lektüre des Buches oft im Ungefähren und Zufälligen. Dem vom Untertitel suggerierten Genre, Ritratto di Natalia Ginzburg, wird der Text jedoch insofern gerecht, als tatsächlich die ‹Hand› der Autorin Sandra Petrignani durchgehend sichtbar ist. Durch einen entschieden subjektiven Stil sein Thema zu akzentuieren und beschriebenes und beschreibendes Subjekt gleichzeitig zu zeigen, ist ein reizvolles künstlerisches Mittel – auch in der Literatur. Gleich die ersten Seiten des Buches, auf denen die Autorin die Erinnerung an ihre erste Begegnung mit Natalia Ginzburg schildert, vermitteln dieses Schreib- und Erzählprogramm deutlich:

Intorno alla metà degli anni Ottanta mi trovai a salire una larga scala piuttosto buia all’interno di un palazzo storico romano […]. Un’ottantina di gradini e poi altre ventidue, divisi in due rampe più strette, per arrivare all’attico dove abitava Natalia Ginzburg. Non avevo combinato granché nei miei primi trentanni, un età in cui lei aveva già avuto tre figli, pubblicato una manciata di racconti, una poesia bellissima, un romanzo […] (S. 11)

Den gesamten weiteren Text durchziehen explizite Redeformeln des erzählenden Ichs, «Salgo al secondo piano» (S. 22), «Questo lo scopro durante le mie ricerche all’archivio Centrale dello Stato»(S. 42), «Cosa mi piace pensare» (S. 62), die der Leserin neben der Biografie Ginzburgs auch den Prozess der Spurensuche und Rezeption Petrignanis vor Augen führen. Und wie schon in der Einstiegspassage rückt die Autorin den gesamten Text hindurch selbst in erzählenden Passagen, wie z. B. «Di questa visita in una bella casa sepolta nel verde sul pendio delle colline torinesi, in un giorno piovoso alla fine del maggio 2015, mi resta l’impressione [...]» (S. 68) oder «Con l’aiuto di un racconto […] animo quei suoi giorni da bambina. La vedo che gioca da sola nel giardino [...]» (S. 23) etc., deutlich ins Blickfeld und an die Position einer (Mit-)Protagonistin des Textes.

Diese Schreibstrategie wendet Petrignani besonders häufig dann an, wenn es ihr darum geht, einen Zusammenhang zwischen erzählter Biografie und ein- bzw. zuordnender Interpretation der Werke von Natalia Ginzburg herzustellen. In der folgenden Leseprobe werden die fließenden Übergänge zwischen dem äußerem und inneren Erleben der Autorin, das deren Rezeption des Romans È stato così ebenso wie die melancholische Erinnerung daran bestimmt, und der assoziativen Etablierung erster Interpretationsspuren sichtbar:

Ricordo perfettamente il giorno in cui mi sono imbattuta in È stato così. Ero nel salotto di un amico, un giovane scrittore allora, una trentina di anni fa, nella sua casa di campagna, d’estate, dopo un pranzo domenicale. I maschi si erano messi a giocare al calcetto. Mogli e fidanzate non so dove fossero finite. Forse chiacchieravano sull’erba, facevano giocare i bambini. Mi ero ritirata nel salotto in penombra perché avevo caldo, subito affascinata della libreria stracolma, subito attratta dal primo nome che mi era venuto sotto il naso, quella della Ginzburg. Fra i tanti titoli ho sfilato È stato così perché non l’avevo letto e perché era una prima edizione, col sapore di qualcosa speciale che hanno le vecchie edizioni. Ne ricordo ancora il peso fra le mani e la porosità della copertina con un inquietante pittura di Cesare Peverelli […] L’ho aperto alla prima pagina. […] Mi sono seduta comoda sul divano. Ho guardato la dedica «A Leone»4. Ho continuato a leggere. «Un marito è qualcuno che sai sempre dov’è.» Dopo un’ora cero ancora lì. Sono venuti a cercarmi. Ho rimesso il libro nello scaffale con dispiacere. E il giorno dopo sono corsa a comprarlo. E ho ancora oggi la memoria del dolore che mi dava leggere quella storia triste. La storia di una donna innamorata e delusa, una donna «scialba e senza attrattive» che sperava di essere amata […] Perché ha dedicato a Leone un romanzo tanto desolato e cattivo? Perché ha fatto esplodere un colpo di pistola in mezzo alla fronte di un marito che in nulla sembra somigliare al marito che è stato il suo? […] Forse ha ucciso psicanaliticamente il padre; lei che nella creatività, nel lavoro vuole essere equiparata a un maschio e non tollera di essere tenuta in scacco dai sentimenti. E un romanzo, quando va alla radice delle verità nascoste che misteriosamente lo nutrono, è sempre un’opera riuscita. (S. 159–161)

Die Passage führt die Leserin aber nicht zu einer literaturwissenschaftlichen Analyse des Werks; dass die Autorin am Ende dagegen eine wagt, die sich der Psyche Natalia Ginzburgs widmet, wirkt befremdlich. Vollends ärgerlich schließlich sind eingestreute astrologische und graphologische Spekulationen, die die Autorin zu esoterischen Deutungen veranlassen.

E allora lei conservò sempre un tratto infantile, lo conservò nel carattere e nel modo di esprimersi, nella scrittura e nella calligrafia. «La scrittura di Natalia Ginzburg sconcerta il grafologo: il tratto è spasmodico, l’inclinazione variabile, il gesto grafico maldestro con interruzioni e ritocchi, la dimensione ineguale» leggo in un’ analisi grafologica scovata in Internet. In questo studio, di un’acutissima Susanna Casoni, trovo indicazioni preziose per capire la donna e la narratrice che la piccola Natalia diventerà: «Il puerile come via alla compassione, all’accettazione del destino e alla saggezza. Il puerile come via al vero.» (S. 28)

Diese Stelle wird sogar noch ein zweites Mal aufgegriffen. Petrignani zitiert zunächst, um Ginzburgs sogenannten «antiinttellettualismo» zu belegen, Enzo Siciliano, der schreibt: «Il titolo stesso di Mai devi domandarmi è chiarissimo: sta a significare un metodico rifiuto ad avvolgere la propria figura di scrittore dentro i panni curiali che la cultura di oggi esige da chiunque prenda la penna in mano.» An die literaturwissenschaftlich präzise, analytische Bemerkung Sicilianos anknüpfend und nicht ohne sich auch hier mittels der vorgeschlagenen gedanklichen Assoziationen quasi als Nebenfigur weiterhin präsent zu halten, fährt Petrignani dann unmittelbar so fort: «Un bambino è sincero e preculturale. Vengono in mente le parole della grafologa Susanna Casoni: ‹Il puerile come via alla compassione [...]›» (S. 323)
Auch andere esoterische ‹Expertisen› werden in verblüffender Distanzlosigkeit, ja geradezu ‹geadelt› durch die einleitenden quasi existenzphilosophischen Fragen, an die Leserin weitergeben:

Da dove comincia una vita? Dalla data di nascita, da quella dei genitori? O ancora prima? Il 14 luglio del 1916 a Palermo, in via Libertà 101, alle sei del mattino, ultima dopo tre fratelli e una sorella, nasce una bambina che viene chiamata Natalia come la protagonista di Guerra e pace. […] nasce nel segno zodiacale del Cancro. Sole in congiunzione all’ascendente, che si trova anch’esso nel Cancro insieme a una folla di altri pianeti: Mercurio, Venere, Saturno e Plutone. La Luna è in Capricorno, Giove nel Toro, Marte in Vergine. Confronto tutto quello che so e quello che ho intuito sulla scrittrice con le cinquanta pagine di un suo oroscopo di nascita redatto per me da un’ amica astrologa. Natalia amava farsi leggere le carte e non disdegnava gli oroscopi. […] Confesso di aver sperato di trovare un oroscopo di Natalia fra le due carte, ma non ve nè traccia. (S. 19)

Will die Leserin vom Atmosphärischen der Welt von Sandra Petrignani lieber direkt zu Natalia Ginzburg gelangen, müssen solche Passagen also während der Lektüre ebenso umschifft werden wie die zahlreich mit-erzählten Beschreibungen der Befindlichkeiten der Autorin bei der Arbeit. Vielerlei Vermutungen und Vorschläge dazu, wie deren Leben und Werk in Verbindung stehen könnten, werden – in einer Biographie durchaus legitim – präsentiert. Analysen einzelner Werke oder des Gesamt-Opus Ginzburgs im strengen literaturwissenschaftlichen oder literaturkritischen Sinn aber werden nirgends geboten. So finden sich auch nur vereinzelte Aussagen, die die Wahl des Titels La corsara begründen könnten; lediglich in wenigen Zeilen verortet die Autorin Natalia Ginzburg nahe der «Freibeuter»-Poetik Pier Paolo Pasolinis, ohne dies jedoch weiter zu belegen:

Lei adesso era diventata «La Ginzburg», l’autrice del Lessico familiare, un libro-mito. Era il potere editoriale, negato a ogni altra creatura di sesso femminile. Era un’autrice teatrale inconsueta eppure di successo. Era l’opinionista battagliera di grandi giornali italiani e le sue posizioni ci stordivano, irritavano, innamoravano. Come il corsaro Pasolini sapeva scombussolare gli animi ribelli del post-sessantotto. (S. 12)

Wer sich auf die Lektüre dieses Ritratto di Natalia Ginzburg einlässt, findet also Sandra Petrignanis persönliche Geschichte(-n) ihrer Spurensuche und Rezeption, aber am Ende doch auch ein Buch «denso di racconti e di informazioni preziose»5 zum Leben Natalia Ginzburgs.

  1. Vgl. auch http://www.sandrapetrignani.it/
  2. Im Anhang Ringraziamenti e bibliografia wird lediglich kursorisch auf die Werkausgaben bzw. Neuherausgaben bei Einaudi durch Domenico Scarpa hingewiesen, «[...] e a poco altro»; deshalb sind in dieser Rezension da, wo Zitate Dritter erwähnt werden lediglich die Seitenzahlen aus Petrignanis Buch angegeben. Sandra Petrignani: La corsara. Ritratto di Natalia Ginzburg, Vicenza: Neri Pozza Editore, 2018, S. 443.
  3. So verweist sie an verschiedenen Stellen auf Maja Pflugs Biografie Natalia Ginzburg. Eine Biografie, 1995 (ital: Natalia Ginzburg, arditamente timida: una biografia, übersetzt von Barbara Griffini, 1997). Diese bietet weiterhin eine kompakte und differenzierte Biografie, deren Substanz nicht zuletzt der langjährigen intensiven Beschäftigung der Übersetzerin mit den Texten Ginzburgs geschuldet ist.
  4. Leone Ginzburg, der erste Ehemann Natalia Ginzburgs.
  5. Pierluigi Battista, in Corriere della sera,https://www.corriere.it/cultura/18_febbraio_13/corsare-natalia-ginzburg-sandra-petrigani-neri-pozza-5f6fb8b6-10ea-11e8-ae74-6fc70a32f18b.shtml