Vincenzo Gueglio: Lorenzino e l’Apologia del tirannicidio
Genova: Gammarò edizioni 2021

• Franca Janowski •


PID: http://hdl.handle.net/0000-0007-F995-8
Vincenzo Gueglio (a c. d.): Lorenzino e l’Apologia del tirannicidio, con documenti e testimonianze sull’uccisione di Alessandro de’ Medici e sulla conseguente esecuzione del ‹Bruto Toscano› da parte dei sicari di Carlo V e Cosimo de’ Medici, con un saggio introduttivo di Francesca Russo. Genova: Gammarò edizioni 2021, 401 pp., Euro 49,-, ISBN: 978-8899415938

Die Besucher der Galleria del Bargello in Florenz, die die Brutus-Büste Michelangelos betrachten, werden daran erinnert, dass die Skulptur in Wirklichkeit Lorenzinos de’ Medici gedenkt, einer heute vielfach in Vergessenheit geratenen Gestalt. Mit den Worten Horst Bredekamps:

«Michelangelo hat Brutus, dem Verteidiger der Republik, ein Denkmal gesetzt, aber er hat ihm mit den Zügen Caracallas die Merkmale jener Macht eingegeben, gegen die Brutus’ Tat gerichtet war. In seinem Brutus, der doch als Hoffnungsträger dienen sollte, sind keine Gewissheiten, sondern Widersprüche formuliert.»1

Das Kunstwerk Michelangelos sei also nicht als eine Aufforderung zum Tyrannenmord, sondern als Reflexion über dessen Tragik zu begreifen. Diese Problematik bildet den Hintergrund des Bandes von Vincenzo Gueglio, der den Leser zu einer nicht eindimensionalen Interpretation einer historischen Figur auffordert.

Bereits der lange Titel macht auf das Beziehungsgeflecht bei Autorschaft und Komposition dieses außergewöhnlichen Bandes aufmerksam: Autor, Editor, Kommentator, Zeugnisse, literarische und historische Dokumente – wie soll sich der Leser im Labyrinth dieser Schrift orientieren, who is who: Theseus, Ariadne, Minotauros oder gar Minos?

Es trägt zum wissenschaftlichen Zauber des Werks bei, dass der Autor Vincenzo Gueglio2, der weder in einer Einführung noch in einem Nachwort erscheint – deren Aufgaben werden dem «saggio introduttivo» von Francesca Russo anvertraut –, überall im Buch präsent ist. Wie ein Kapitän zur See segelt er listig durch die Klippen und führt den Leser mit zahlreichen Annotationen und vor allem mit der meisterhaften Auswahl von Dokumenten sicher in den Hafen der Geschichte. Bei dieser Arbeit beweist Gueglio seine profunde Kenntnis des historischen, philosophischen und literarischen Materials und zeigt sich nicht als Herausgeber im üblichen Sinn, sondern vielmehr tatsächlich als Autor. Bei der Rekonstruktion der Tat von Lorenzino de’ Medici haben wir es mit einem Palimpsest zu tun, der alle Schichten einer Existenz aufbewahrt, einem komplexen Metatext, der als romanhafte Einheit zu erfassen ist.

Die Frage, die das Buch aufwirft, ist brennend aktuell: Ist derjenige, der einen Tyrannen tötet, ein Held oder ein Mörder? Von Brutus bis Stauffenberg, darüber herrscht kein Konsens. Im immaginario der Italiener konturiert sich der Disput um zwei literarische Gestalten. Auf der einen Seite Brutus, der Mörder Caesars, der von Dante als Verräter in den tiefsten Kreis der Hölle verbannt wird, und auf der anderen derselbe Brutus als melancholischer Held in Giacomo Leopardis Gedicht Bruto minore. Hier ist er der von den Göttern verratene, tugendhafte Vertreter republikanischer Werte. Das vorliegende Buch ergreift nicht Partei und doch bleibt es nicht neutral. Daher stellt sich die Gestalt des Lorenzino de’ Medici, dessen Schrift «Apologia del tirannicidio» das Kernstück des Bandes bildet, vor allem als geistige Schöpfung des Autors dar. Denn Vincenzo Gueglios passioniert vorgetragene Recherche zielt vor allem auf das Zwiespältige, das die Seele des Menschen kennzeichnet.

Die Lektüre beginnt mit einer raffinierten Premessa: Leopardis scambio epistolare mit Pietro Giordani.3 Dem Literaten und Freund des Recanatese ist die Wiederentdeckung der Schrift Lorenzinos nach Jahrhunderten des Vergessens zu verdanken. Diese Korrespondenz ist von besonderer Bedeutung, weil ihr ein sinnreiches Bekenntnis zur autobiographischen Form zu entnehmen ist: ein erster Hinweis auf die zwiespältige Beziehung zwischen Identität und Alterität des personaggio letterario. Denn eine autobiographische Schrift – die Leser von Gueglio wissen es – ist eine «forma ambigua», sie zeigt «lo spazio del possibile che non si è attuato».4

Die zahlreichen historischen Quellen, die verwendet werden, gründen immer auf einem historischen Dokument, zielen aber auf die Schaffung eines personaggio letterario, welcher ‹wahrer› ist als jedes festgelegte Bild. Wie Francesca Russo in der Einführung erklärt: «Gueglio intende oltrepassare i canoni della narrazione storica per restituire tutti gli effetti fondativi dell’ambivalente mito del ‹Bruto toscano›» (S. 45).

Das historische Ereignis ist schnell zusammengefasst. In der Nacht zum 6. Januar des Jahres 1537 tötete Lorenzino de’ Medici in Florenz seinen Vetter und Saufkumpanen, den Herzog Alessandro de’ Medici. Der Herrscher war vermutlich ein unehelicher Sohn von Papst Clemens VII, der ihm zur Macht verholfen hatte, und Gemahl von Margherita, einer Tochter des Kaisers Karl V. Der Mord, ausgeführt nach allen Regeln macchiavellistischer Kunst, gelang, die Unterstützung der republikanischen Opposition blieb aber aus. Lorenzino floh und nach vielen Irrungen wurde er schließlich 1548 in Venedig von Meuchelmördern im Auftrag des Herzogs Cosimo, des neuen Herrschers von Florenz, und mit dem Segen des Habsburger Kaisers ermordet.

Die Apologia Lorenzinos, die uns nicht im Original vorliegt, aber in zahlreichen Codices überliefert wurde, ist kurz nach der Tat geschrieben worden, wie ein erhaltener Brief belegt. Im rhetorisch und stilistisch glänzend geschriebenen Text, der die Lektüre antiker Klassiker (Plutarch) verrät, verteidigt sich Lorenzino vor allem gegen den Vorwurf des Verrats. Er sei kein Diener Alessandros gewesen und wegen dessen unehelicher Geburt nicht einmal ein Verwandter. Alessandro hätte die republikanische Verfassung von Florenz aufgehoben, die Gesetzte übertreten und daher den Tod verdient: «Sì che io concludo che i tiranni, in qualunque modo si ammazzino e si spenghino, sien ben morti» (S. 98).

Bei Gueglio wird die Apologia zum Anlass genommen, eine historische Reise anzutreten, begleitet von den Stimmen von Zeitgenossen aus der Epoche der Spätrenaissance: Domenico Varchi, Benvenuto Cellini, Giorgio Vasari, Pietro Aretino, Margherita von Navarra – um nur die bekanntesten zu erwähnen. Sie führt bis zur Moderne und endet mit der poetischen Stimme von Ezra Pound. Dank zahlreicher Appendici wird ein Gesamtkunstwerk geschaffen, in dem auch dramatische und musikalische Werke, die dem Mythos «Lorenzino» gewidmet wurden, einen angemessenen Raum erhalten. Literatur5 und Oper haben einen großen Beitrag zum Mythos «Lorenzino» geleistet. Sehr interessant ist zum Beispiel Appendice XIV, «Lorenzino in scena», mit einer reichen Dokumentation des Nachlebens der Figur in der Oper und auf den dramatischen Bühnen besonders in Italien und Frankreich.

Wir haben es mit einer passioniert vorgetragenen Recherche zu tun, bei der das Zwiespältige, das die Seele des Menschen auszeichnet, immer wieder in Erscheinung tritt. Wie viele andere Gestalten, die Gueglio untersucht hat (Seneca, Mazzini, Leopardi, Gozzano), war auch Lorenzino ein Literat. Er ist Verfasser der brillanten Komödie Aridosia und eines nur zum Teil erhaltenen lyrischen Werks (davon einige Beispiele in Appendice IX «Lorenzino, Versi»). Unter diesen Gedichten verdient das rabiate Sonett gegen seinen Feind Karl V besondere Erwähnung. Bemerkenswert ist die Verurteilung der Eroberungspolitik des Kaisers.6

Bekanntlich warfen die Tat und wohl auch der schwierige, undurchsichtige Charakter einen dunklen Schatten auf die tragische Gestalt des ‹Bruto toscano›. Als Verräter und Herausforderer der politischen Ordnung seiner Zeit wurde er Opfer einer damnatio memoriae, stieg aber auch zum Helden einer Mythographie empor. Das Buch spiegelt die Komplexität eines Lebens wieder, das Spuren in der politischen und historischen Reflexion ebenso wie in Kunst und Literatur hinterlassen hat. Seine Intention ist es, Unterschiede und Widersprüche in der Beurteilung Lorenzinos zu beleuchten und vor allem zu zeigen, wie entscheidend die politische Überzeugung der jeweiligen Autoren ihr Urteil geprägt hat. Eine große Hilfe für den Leser ist der Beitrag von Giuseppe Lisio (1897), der nüchtern und präzise die Ereignisse der schicksalhaften Epiphanias-Nacht des Jahres 1537 beschreibt.

Einen bitteren Einblick in die Moral der Epoche bietet der Bericht von Lorenzinos Meuchelmörder, Francesco Bibboni. Dieser schildert stolz seine Tat und wartet auf seine Belohnung durch Cosimo de’ Medici. Unter den vielen seltenen, mit großer Sachkenntnis und Empathie ausgewählten Texten stößt der Leser mit Vergnügen auf die bekannte XII Novelle des Heptameron von Margherita von Navarra. Zartgefühl und Interesse für eine weibliche Perspektive charakterisieren den Text, der vermutlich bereits vor dem Tod Lorenzinos im Jahr 1548 geschrieben wurde. Für die Autorin liefert nicht die republikanische Überzeugung, sondern die Ehre der Schwester und der Familie die Motivation für den Mord.7

Ein besonderer Vorzug des Bandes ist sein ikonologischer Teil «Galleria d’immagini». Von Lorenzino ist kein Bild erhalten, wohl aber eine Medaille, die auf den ersten Seiten des Bandes gezeigt wird. Auf einer Seite ist sein antikisierendes Porträt in der Gestalt des Brutus zu sehen, auf der anderen ein pileus, Symbol der republikanischen Freiheit. Zu sehen sind auch mehrere Darstellungen von Alessandro de’ Medici und eine Dokumentation historischer Bilder von großen Künstlern der Renaissance.

Die Beschäftigung mit diesem eleganten Buch bietet nicht nur dem wissenschaftlich gebildeten Leser ein ungewöhnlich reiches Panorama. Die Mühe, die die Lektüre den mit Texten aus der Renaissance nicht vertrauten Lesern zuweilen abfordert, wird durch die Gewissheit belohnt, ein Labyrinth von fernen, undurchsichtigen Ereignissen dank einer wissenden Hand in ein geordnetes Szenario verwandelt zu sehen. Es bleibt das Gefühl, mit einer Grundfigur des Lebens konfrontiert worden zu sein, die mehr Fragen aufwirft als Antworten zu bieten vermag.

  1. Horst Bredekamp, Michelangelo, Berlin: Wagenbach 2021, S. 563.
  2. Vincenzo Gueglio, geboren in Sestri Levante/Genua, Schriftsteller und Verleger, war Autor von Romanen, Dramen, philosophischen Texten sowie Kinderbüchern. Zu seinem Opus gehören auch Editionen und Übersetzungen: Jonathan Swift, Renato Serra, Giacomo Leopardi, Carlo Bo, Francesco de Sanctis, Giuseppe Mazzini, Guido Gozzano. Beiträge zu namhaften italienischen Literatur-Zeitschriften. Er starb am 11.04.2022.
  3. Leopardi schreibt an Giordani: «Mio dilettissimo […] Solamente a forza di dolore sono riuscito a leggere l’Apologia di Lorenzino de’ Medici. E confermatomi nel parere che le scritture e i luoghi più eloquenti siano dove altri parli di se medesimo.» Zit. nach Gueglio, S. 55.
  4. Guido Gozzano: Verso la cuna del mondo, a cura di Vincenzo Gueglio, Milano: Greco&Greco 2007, S. 17.
  5. Besonders erwähnt wird Alfred de Mussets Drama Lorenzaccio (1834). In Italien besang Vittorio Alfieri Lorenzino im Gedicht Etruria liberata und verteidigte den Tyrannenmord in seinen, der Gestalt des Brutus gewidmeten Tragödien.
  6. Die zweite quartina lautet: L’Africa saccheggiata, e l’armi stese / Verso l’occaso poich’in preda aveste / La bell’Europa, altro non so che reste / A rovinar del mondo ogni paese. (S. 327)
  7. Gueglio, S. 178: «Riporto con questo titolo, inventato per l'occasione, la douzième nouvelle dell'Eptamenron della regina Margerita di Navarra. Traduco da L'Heptameron des nouvelles de très haute et très illustre princesse Marguerite d'Angoulème Roine de Navarre, collationnée sur les manuscripts avec préface, notes, variantes et glossaire-index par Benjamin Pifteau; Tome premier, Librairie des Bibliophiles E. Flammarion, Paris, s. d. (1900 ca.): ‹Così liberando la patria da un tale tiranno, salva la vita el’onore della propria famiglia›».