Horizonte Ausgabe 8 Titelkunst
Artikel

Der narratore popolare in den Dorfromanen von Saša Stanišić und Giovanni Verga. Ein Vergleich.

Marijana Erstić – Marina Rančić

Mit seinem Erzählen Siziliens in den Novelle siciliane und im gleichzeitig entstandenen, unvollendeten Ciclo dei Vinti, angefangen mit dem Roman I Malavoglia (1881), erhebt Giovanni Verga den italienischen, ‹provinziellen› Süden zum Gegenstand der Weltliteratur. Etwas Ähnliches lässt sich ca. 140 Jahre später in Saša Stanišićs Roman Vor dem Fest von 2014 beobachten, in dem ironisch, aber wohlwollend ein Dorf in der Uckermark, einer Provinz im Osten Deutschlands, zur Sprache kommt. In diesem Roman behandelt der deutsch-bosnische Autor die in seinem Werk wiederkehrenden Themen von Herkunft und Heimat. Auch die Erzählperspektiven beider Werke – I Malavoglia und Vor dem Fest – sind vergleichbar. Hier wie dort werden ein narratore popolare und das chorische Erzählen, ein Erzählerkollektiv also, eingesetzt, wenn auch mit völlig unterschiedlichen Handlungsorten und Sujets versehen. Aber das Aci Trezza aus Vergas Werken ist auch ein realer Ort, der Ort Fürstenfelde bei Stanišić hingegen ist eine Fiktion. Zudem haben sowohl die große zeitliche Spanne vom Verismus bis zur zeitgenössischen Literatur als auch eine neue, postmoderne Sprache bei Saša Štanišić zu einigen Veränderungen beim Erzählerkollektiv geführt.

Zu Beginn dieses Aufsatzes wird die Gattung Dorfgeschichte bzw. Heimatroman vorgestellt. Danach wird der Heimatroman Vor dem Fest von Saša Stanišić analysiert und anhand einer Textpassage vom Romananfang mit dem Beginn von Giovanni Vergas Roman I Malavoglia verglichen. Auch andere moderne Werke der Weltliteratur werden in den Blick genommen.

Dorfgeschichte, Dorfroman, Heimatroman1

Dorfromane werden im deutschsprachigen Raum auch Heimatromane genannt und weisen inhaltlich starke Übereinstimmungen mit der von der Forschung bereits gut erschlossenen Gattung Dorfgeschichte auf, die kurz gesagt von einem Dorf und seinen Bewohnern handelt. Diese Gattung ist, Marcus Twellmann zufolge, eine «Gattung der Weltliteratur»2 – historisch wie aktuell. Mehr noch: «[d]as Landleben ist», so Twellmann, nicht nur international, es ist aktuell auch «neu zu imaginieren».3 Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definierte Uwe Baur im Jahr 2007 Dorfgeschichten als ein

[…] in ganz Europa entstehendes Phänomen, an [das] sich die Herausbildung einer realistischen Literatur knüpft sowie – in einigen Ländern Ost- und Südosteuropas – die Konstituierung eigenständiger Literaturen im Zuge nationaler Emanzipationsbewegungen. Die Sache der Bauern war in der Literatur eine Sache der Bürger.4

Auch wenn Twellmann die Gattung wesentlich breiter als Baur denkt, die Dorfgeschichte war immer schon das, wovon Twellmann differenziert und ausführlich spricht, nämlich Weltliteratur. Für Baur ist die Dorfgeschichte eine «[e]pische Prosagattung mittlerer Länge, […] deren erzählter Raum eine (reale) überschaubare, abgegrenzte Einheit in der Provinz (im Gegensatz zur Stadt) ist». «Ihr Stoff», so Baur weiter, «umfasst […] das bäuerliche, bzw. kleinbürgerliche Leben, […] den zugehörigen Herrschaftssitz, […] Vorgänge im industriell geprägten Fabrikdorf.» Charakteristisch seien auch «die einfache überschaubare Erzählstruktur und eine dem jeweiligen regionalen Soziolekt angenäherte Sprache».5

Ihre Blütezeit erreichte die Gattung Dorfgeschichte im 19. Jahrhundert. Im deutschsprachigen Raum entfaltete sie sich besonders in der Zeit von Biedermeier und Vormärz. Während dieser Zeit sind Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843–1880), «als Gegenwelt zur reflexionsreichen Salonpoesie der Jungdeutschen»6 populär. Nach 1848 wurde die Dorfgeschichte weiter entpolitisiert und trivialisiert, beispielsweise von Karl May. Zu den realistischen Erzählern, die Dorfgeschichten verfassten, gehören Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Theodor Storm, Marie von Ebner-Eschenbach.7 Es entstehen aber auch große Dorfromane, wie Gottfried Kellers Bildungsroman Der grüne Heinrich (1854/55; 1879/80). Hierzu können auch die großen realistischen Werke aus dem Bereich der Romania gezählt werden, wie beispielsweise Giovanni Vergas veristischer Roman I Malavoglia (1881), vielleicht auch sein gesamter Zyklus I Vinti. Selbst Gustave Flauberts Madame Bovary (1856) stellt eine realistische (Sitten-)Geschichte aus der französischen Provinz dar.8 Den genannten Werken ist die Zugehörigkeit zum Realismus gemeinsam, wie bereits Walther Rehm im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte von 1925/26 betont: «[D]as Werden der D. [Dorfgeschichte, Anm M. E.] ist also zugleich das Werden des Realismus».9 Heute gehen, so Baur, «[n]eue Impulse für die Gattung […] von zivilisationskritischen ökologischen Strömungen» aus.10 Ganze Bücherreihen werden gegenwärtig dem Thema der Dorfliteratur gewidmet.11

Im italienischen Kultur- und Sprachraum ist das ländliche Erzählen bekanntlich an Giovanni Boccaccios Decamerone (1349–53) gebunden, ja man kann von Fiktionen von ‚Dorfgeschichten‘ der erzählenden Personen innerhalb der Fiktion des Decamerone sprechen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts und im Zuge des Risorgimento kann zur Dorfgeschichte im italienischen Raum und im weiten Sinne auch der Roman I promessi sposi (1840–1842) als «antiidyllischer Roman» gezählt werden. In der deutschsprachigen Romanistik hat Richard Schwaderer das Thema eines ländlichen Idylls oder des idillio campestre im 19. Jh. anhand der oben genannten Werke erforscht.12 Ein Vergleich der beiden Literaturen hinsichtlich der aufgeführten Thematik, des beschriebenen Zeitraumes, v. a. aber hinsichtlich der Gattungsvarietäten und -parallelen fehlt jedoch bislang.

Vor dem Fest und I Malavoglia im Vergleich

Die Gattung Dorfgeschichte wird aktuell kulturgeschichtlich, literaturhistorisch und gattungsspezifisch neu gedacht. Auch das Thema des Dorfromans Vor dem Fest ist hochaktuell: Ökologie und Provinz, Kosmopolitismus und Landleben, nahe Heimat und ferne Heimat wechseln sich kaleidoskopartig ab. Alles hat mehrere Fluchtpunkte und alles wird aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Dabei wird das biographisch motivierte Thema der Herkunft leitmotivisch, d. h. immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln hinterfragt: Denn dem Autor zufolge sollte ursprünglich ein Roman über ein Dorf in Bosnien entstehen. Schließlich wurde es dann ein Dorf in der Uckermark… Gelegen zwischen zwei Seen, umgeben von Wäldern, angesiedelt zwischen Ost und West, Mythos und Gegenwart, Stadt und Land.13

Die Handlung ist in der in der Gegenwart angelegt und vollzieht sich am Abend und in der Nacht vor dem alljährlichen Annenfest. Der Handlungsort ist Fürstenfelde. Es handelt sich dabei, wie gesagt, um ein fiktives Dorf, vermutlich nach Fürstenwerder in Brandenburg benannt. Die erzählte Zeit reicht bis in die frühe Neuzeit zurück, indem einzelne Ereignisse aus der Dorfgeschichte in den Erzähltext hineinmontiert werden. Wichtig sind auch die Ereignisse aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.

Die Gegenwart der Handlung wird aus der Perspektive einer Füchsin, einer Fähe (von mhd. ,vohe‘ für Füchsin, auch Jagdbeutetier) erzählt. Sie will für ihren Nachwuchs im Dorf Eier stehlen. Ihre Welpen werden jedoch währenddessen von einem Wolf gefressen. Das Dorf ist also nicht idyllisch. Das idillio campestre, das laut Richard Schwaderer ein Kulturmodell darstellt, wird so hinterfragt und bisweilen auch ironisiert.14

Figuren des Romans sind u. a. Wilfried Schramm, ein Rentner und ehemaliger Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee der DDR, ferner Johann Schwermuth, ein 16-jähriger Auszubildender im Einzelhandel, und seine Mutter Johanna Schwermuth, die für das Dorfmuseum verantwortlich ist, sowie die 90-jährige Malerin Anna Kranz, die 1945 nach einer traumatischen Flucht aus dem Banat in Jugoslawien in das Dorf gekommen ist.15 «,Omne solum forti patria est. Dem Starken ist jeder Ort Heimat.‘»16 – dieses sicher auch autobiographisch motivierte Ovid-Zitat aus dem Roman trifft vorrangig auf diese letztgenannte Figur zu, wird doch an ihr jene Stärke sichtbar, «die das Überleben des Ortes […] gesichert hat»17 . Heimat ist ein variabler Existenz- und Lebensort – ein bei Stanišić leitmotivisch auftretendes Thema. Hanno Möbius zufolge steht sein Wir-Erzähler laut Sekundärliteratur in der Tradition des Chors der griechischen Tragödie als Stimme der Polis18 , aber – wie hier geprüft werden soll – auch und zeitlich ungleich näher in der Tradition des veristischen Erzählens bei Giovanni Verga, denn hier wie dort ist ein kollektiver und weitestgehend «unzuverlässige[r] Erzähler mit begrenztem Wissen»19 zu beobachten. Saša Stanišićs Roman spiele mit dem traditionellen Heimat- oder Dorfroman, bei dem Heimat im Sinne eines regional abgegrenzten Raumes verstanden werde, so Möbius weiter,20 ja im Roman gehe es um die Frage, was Heimat ausmache und was Heimat von Menschen verlange.21 Diese in Zeiten von Flüchtlingskrisen und der Corona-Pandemie hochaktuelle Thematik entfernt Stanišićs Roman von dem Werk I Malavoglia, dessen Sujet zunächst weniger kosmopolitisch wirkt, wenngleich die Folie des Risorgimento, der – wie dies Theresa Vögle mit Blick auf Reinhard Koselleck und Fernand Braudel bewies22 – auch einen Umbruch in der gesellschaftlichen Struktur Italiens bedeutete und einige Migrationsprozesse auslöste. Im Folgenden werden beispielhafte Szenen aus beiden Romanen gegenübergestellt. Der Beginn des Romans Vor dem Fest ist an das mythologische Thema Reisen übers Wasser gebunden:

Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen. Kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.

Um den See kannst du theoretisch zu Fuß, immer am Ufer entlang. Allerdings haben wir den Pfad vernachlässigt. Der Boden ist sumpfig und die Stege morsch und unglücklich, das Gebüsch hat sich ausgebreitet, brusthoch steht es dem Pfad im Weg.

Die Natur erobert sich zurück, was ihr gehört. Würde man woanders sagen. Wir sagen das nicht. Weil es Unfug ist. Die Natur ist inkonsequent. Auf die Natur ist kein Verlass. Und auf was du dich nicht verlassen kannst, damit bau keine Redewendungen.23

Die mythische Figur des Fährmanns (Charon) ist hier von Anfang an ausgeschaltet, es wird zu Beginn des Romans ein Wir-Erzähler eingefügt, der zunächst behauptet, «wir sind traurig», um dann aber schon im nächsten Absatz ironisch und augenzwinkernd über den Standort und seine Umgebung zu sprechen und alles mit Redewendungen anzureichern, deren Bedeutung er sogleich wieder zurücknimmt. Gerade die Redewendungen sind spätestens seit dem europäischen Realismus für die Erzählungen des Dorfes charakteristisch und sind auch der am Beginn des Romans I Malavoglia zu finden:

Un tempo i Malavoglia erano stati numerosi come i sassi della strada vecchia di Trezza; ce n’erano persino ad Ognina, e ad Aci Castello, tutti buona e brava gente di mare, proprio all’opposto di quel che sembrava dal nomignolo, come dev’essere. Veramente nel libro della parrocchia si chiamavano Toscano, ma questo non voleva dir nulla, poichè da che il mondo era mondo, all’Ognina, a Trezza e ad Aci Castello, li avevano sempre conosciuti per Malavoglia, di padre in figlio, che avevano sempre avuto delle barche sull’acqua, e delle tegole al sole. Adesso a Trezza non rimanevano che i Malavoglia di padron ’Ntoni, quelli della casa del nespolo, e della Provvidenza ch’era ammarrata sul greto, sotto il lavatoio, accanto alla Concetta dello zio Cola, e alla paranza di padron Fortunato Cipolla.24

Auch hier wird ein Leben am Wasser geschildert, doch dies unter anderen, mediterranen Gegebenheiten: Im Folgenden wird der Untergang einer sizilianischen Fischersfamilie erzählt. Die Familie Toscano, genannt Malavoglia, versucht durch einen letzlich scheiternden Lupinenhandel gesellschaftlich aufzusteigen, um dann nur noch weiter abzusteigen. Der Untergang wird von einem kollektiven Erzähler beobachtet, begleitet, kommentiert, durch viele Einschübe aufgefächert. Der Großvater patron ʼNtoni kann diesem Verlauf mit seinen Redewendungen, die archaische Bräuche und Ordnungen repräsentieren, nichts entgegensetzen. Die mediterrane Landschaft Siziliens mit ihrer «Knappheit der Ressourcen»25 und der «Unsicherheit des nächsten Tages»26 , von der Giovanni Verga in seinen Texten schreibt und die Fernand Braudel untersucht, unterscheidet sich zwar von Stanišićs bisweilen pittoresker und saftiger Topographie genauso wie Vergas Fatalismus von dessen Witz und Ironie. Auch wird die bei Stanišić exponierte Wir-Stimme bei Verga weniger deutlich und vor allem anhand des Duktus einer scheinbar einfachen Sprache, eines einfachen, mit Redewendungen des Großvaters patron ʼNtoni, also mit den «motti e proverbi che aveva sentito dagli antichi»27 bereicherten Erzählens sichtbar. Denn die Sprache der motti e proverbi erweist sich angesichts der kruden kapitalistischen Gesellschaft der Nuova Italia als ohnmächtig. Der finale Fatalismus des Textes stellt laut Richard Schwaderer neben dem Untergang der titelgebenden Familie «den pervertierten Zustand einer ländlichen Gesellschaft» dar.28 Die Redewendungen, wie «[u]n tempo», «come dev’essere», «ma questo non voleva dir nulla» vom Beginn des Romans gehören dabei zu den typischen Äußerungen eines kollektiven Erzählers, der sich offensichtlich im Dorf bewegt, mit den Augen des Dorfes schaut, über das Wissen des Dorfes verfügt und auch die Sprache des Dorfes, die Sprache des Dorfkollektivs spricht.

All dies wird 140 Jahre später bei Stanišić ironisiert, «[u]nd auf was du dich nicht verlassen kannst, damit bau keine Redewendungen»29 heißt die als Leseransprache formulierte erste Redewendung gleich zu Beginn, das Dorf gibt sich aufgeklärt, das Dorf ‹weiß Bescheid›. Dabei demonstriert der Wir-Erzähler hier wesentlich offensiver einen angeblichen Zusammenhalt, denn wir haben ja, dem Erzähler zufolge, «den Pfad vernachlässigt»30 und «[w]ir sagen das nicht»31 , heißt es am Anfang des Romans. Das Dorfkollektiv spricht lakonisch und laut jenes Wir aus, das im Roman I Malavoglia immer wieder in Abgrenzung zur Dorf-Familie Toscani gemeint ist, aber wesentlich versteckter operiert. Auffällig ist also, dass aus dem Dorf als dem Beobachter der Familiengeschichte der Toscani bzw. der Malavoglia bei Stanišić eine in der Wir-Form sprechende Hauptfigur des Romans wird, die (hier ähnlich wie bei Verga) allwissend ist, den Leser in einem geradezu barocken Gestus direkt anspricht und die mit starkem Humor ausgestattet ist. Und doch ist das narrative Prinzip aus der Sicht eines kollektiven Dorferzählers, eines narratore popolare, in beiden Werken vergleichbar, und bei Stanišić ein postmoderner und kosmopolitischer Akzent inmitten ostdeutscher Befindlichkeiten und Gegebenheiten.

Thomas Möbius hat auch auf die Nähe des Romans Vor dem Fest zu James Joyces Ulysses (1922) aufmerksam gemacht,32 da sich die Handlung beider Werke binnen 24 Stunden vollzieht. Dass Stanišić mittels Montage auch auf weitere Großstadtromane der Moderne Bezug nimmt, wie beispielsweise auf Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929), wurde ebenso bereits gezeigt.33 Ganz so, als ob Stanišić mit seinem Roman Vor dem Fest beweisen wollte, dass der moderne Heimatroman nicht nur die veristisch-realistische Tradition, sondern auch die großen Großstadtromane der klassischen Moderne zitieren, ironisieren und umformen kann. Das fiktive Dorf repräsentiert eine «Gegenwelt zur Stadt im Sinne eines Mikrokosmos-Modells»34 , dies aber kaum als eine rein utopisch-idyllische Welt und auch immer wieder auf eine Weise, in der bisher sowohl über Sizilien als auch über die Stadt gesprochen wurde. Witz und Überlebenskampf, Legende und Geschichte, Tod und Leben, Mensch und Tier, Normalität und Wahnsinn, real und surreal, Montage, auktorialer und im weiteren Handlungsverlauf weitestgehend unzuverlässiger (Wir-)Erzähler, nahe Heimat und ferne Heimat, Humor und Trauer wechseln sich bei Stanišić ab. Mehr noch: Vor dem Fest ist ein Dorfroman, der die Tradition der europäischen Dorfgeschichte und des europäischen Dorfromans aktualisiert. Doch auch das Erzählen der Großstadt wird durch Multiperspektiven, Analepsen, Erzählerwechsel, scheinbare/apokryphe/fiktive Archivmaterialien, Sprachstufenmix u. ä. zitiert. Die omnipräsente Wir-Erzählerfigur rekurriert dabei auf die veristische Tradition, wenngleich Vergas Pessimismus und Fatalismus mitnichten fortgeschrieben werden. Auch setzt man zum Dorf hinüber, der Fährmann/der Tod ist jedoch bereits zu Beginn ausgeschaltet – eine Collage also aus kanonischen Texten und Mythen der Weltliteratur.

Heimat bei Giovanni Verga und bei Saša Stanišić

Im Roman I Malavoglia werden die meisten der Elemente einer Dorfgeschichte bzw. eines Dorfromans angewandt, findet sich dort doch ein sizilianischer Soziolekt und das bäuerliche Milieu. Auch in Vor dem Fest wird das zeitgenössische Leben der Dorfbewohner geschildert. Mittels Montage wird jedoch die Geschichte des Dorfes erzählt. Auch werden mehrere historische Sprachstufen (z. B. Barocksprache, Dialekt, aktuelle Umgangssprache um 2014) verwendet. Die Struktur ist freilich, anders als in den Anfängen der Gattung, weniger überschaubar.

Mit Heimat kann bei Stanišić die alte, verlassene Heimat gemeint sein, aber auch die neue Heimat, die einen neuen Lebensort meint. Mehr noch: Heimat bedeutet in diesem Werk vor allem die Sprache oder/und das (künstlerische) Schaffen überhaupt, wie im Falle der Figur der Anna Kranz. (Mutter-)Sprache als Heimat kann dabei, wie beispielsweise noch bei Heinrich Heine in Deutschland, ein Wintermärchen (1844), die alte Sprache bedeuten, bei deren Vernehmen nach langjährigem Exil «das Herz recht angenehm» verblute.35 Es kann aber auch, wie bei Stanišić, die neu erworbene Sprache des neuen Wohnortes bzw. Landes sein, deren Beherrschen dem Leben einen (neuen) Sinn, eine neue Qualität und neue (Über-)Lebensmöglichkeit verleiht. Heimat bezieht sich also bei ihm, durchaus autobiographisch motiviert, sowohl auf die Herkunft, vor allem aber auch auf die neue, gefundene und beherrschte Sprache. Auf seinen modernisierten Heimatroman Vor dem Fest folgte bekanntlich im Jahr 2019 der Roman Herkunft, in dem Stanišić das gegenwärtig wieder einmal hochaktuelle Problem einer traumatischen Flucht aus der alten Heimat und das Finden eines neuen Heimatlandes, hier Deutschland, thematisiert und das Motiv durchaus in eine unmittelbare Abhängigkeit zu den vorherigen Werken setzt. Denn diese Themen wurden nicht nur bereits im Roman Vor dem Fest problematisiert, sondern auch in anderen Werken des Autors, wie etwa in seinem erstem Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006).

Zugleich verbindet das Thema der Heimat bzw. der patria indirekt auch die Werke von Stanišić mit jenen Giovanni Vergas, ist doch auch Vergas Ciclo dei vinti vor der Folie der gesellschaftlich-politischen Umbrüche des Risorgimento zu verstehen. Idiome, Redewendungen, motti e proverbi, überhaupt das Sizilianische und anderes sind bei Verga nicht nur die Ausdrücke der Provinz, sondern auch eines besonderen Verständnisses der patria jenseits des Pathos des herrschenden politischen Diskurses. Mit einem vergleichbaren und bisweilen auch humoresken Einsatz der Sprache und der Sprachregister arbeitet der deutschsprachige Saša Stanišić ebenfalls. Aber auch die Frage danach, wie sich gesellschaftlich-politische Umbrüche, Kriege und Revolutionen auf die Heimat und auf die Provinz auswirken und was die Heimat für die Provinz bzw. umgekehrt bedeutet, interessiert(e) beide Autoren.

Resümee

Stanišić imaginiert mit Vor dem Fest das Dorf- und Landleben neu. Dabei scheint es, als ob bisher jeder Roman des Autors die Thematik der Heimat durchspielt und als ob jedes seiner Werke auch als ein moderner Heimatroman gelesen werde kann. Sein berühmtester und auf Vor dem Fest folgender Roman von 2019 trägt nicht umsonst den Titel Herkunft und problematisiert das Thema der alten Heimat. Saša Stanišićs Romane sind als eine postmoderne Suche nach einer Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. in Zeiten von Flüchtlingswellen und der Globalisierung zu verstehen, wodurch dieses Thema zu einem der Leitmotive seines Schaffens wird. Giovanni Vergas unvollendeter Zyklus I Vinti wiederum war, wie es im Vorwort heißt, als eine objektive Analyse, als «studio sincero e spassionato»36 der Gesellschaft des italienischen Südens geplant, womit dieser Autor auch seine eigene Heimatgeschichte in den Blick nahm.

Literatur

Primärliteratur

Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen. Mit einem Nachwort von Thomas Rosenlöcher. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 2013.

Stanišić, Saša: «Was erzählt uns ein Fuchs über uns, über die Stadt und das Dorf? Saša Stanišić im Gespräch mit Alexander Gumz und Katrin Schumacher», in: Magdalena Marszalek/Werner Nell/Marc Weiland (Hgg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld: Transcript Verlag 2018, 27–36 (= Rurale Topographien, Bd. 3).

Stanišić, Saša: Vor dem Fest, München: Luchterhand Verlag 2014.

Verga, Giovanni: I Malavoglia, Milano: Mondadori 2004.

Sekundärliteratur

Baur, Uwe: «Dorfgeschichte», in: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin et al.: De Gruyter Verlag 2007, S. 390–392.

Erstić, Marijana: «,Vor dem Fest‘. Saša Stanišićs Dorfroman aus gattungsspezifischer Sicht», in: Goran Lovrić (Hg.): Provinz in der Gegenwartsliteratur, Berlin/Bern/Wien: Peter Lang 2021, S. 149–164.

Hülk, Walburga: «#Dichterdran – Flaubert im Rausch der Jahre», in: Marijana Erstić/Gregor Schuhen/Christian von Tschilschke (Hgg.): Madame Bovary c’est nous. Lektüren eines Jahrhundertromans, Bielefeld: Transcript Verlag 2021.

Marszalek, Magdalena/Werner Nell/Marc Weiland (Hgg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld: Transcript Verlag 2018 (= Rurale Topographien, Bd. 3).

Mecklenburg, Norbert: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 1982.

Möbius, Thomas: «Stanišić, Saša», in: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, URL: http://www.munzinger.de/document/16000000823 (abgerufen von Universitätsbibliothek Siegen am 23.8.2020).

Möbius, Thomas: Textanalyse und Interpretation zu Saša Stanišić «Vor dem Fest», Hollfeld: Bange Verlag 2018 (= Königs Erläuterungen, Bd. 345).

Neumann, Michael/Marcus Twellmann: «Dorfgeschichten. Anthropologie und Weltliteratur», in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 88 (2014) 1, S. 22–45.

Nell, Werner/Marc Weiland (Hgg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld: Transcript Verlag 2014 (= Rurale Topographien, Bd. 1).

Osborne, Dora: «,Irgendwie wird es gehen‘. Trauma, survival, and creativity in Saša Stanišić’s ,Vor dem Fest‘», in: German Life and Letters, 72 (2019) 4, S. 469–483.

Rehm, Walther: «Dorfgeschichte», in: Paul Merker/Wolfgang Stammler (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin: de Gruyter Verlag 1925/26, S. 200–205 (Reprint).

Schwaderer, Richard: Idillio campestre. Ein Kulturmodell in der italienischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, München: Fink Verlag 1987.

Twellmann, Marcus: Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt, Göttingen: Wallstein Verlag 2019.

Vögle, Theresa: Mediale Inszenierungen des ‚Mezzogiorno‘: die ,Südfrage‘ als Prüfstein der Einheit Italiens und der Idee Europas, Heidelberg: Winter 2012.

  1. Die nachfolgenden beiden Abschnitte stützen sich auf den Artikel von Marijana Erstić: «Vor dem Fest. Saša Stanišićs Dorfroman aus gattungsspezifischer Sicht», in: Goran Lovrić (Hg.): Provinz in der Gegenwartsliteratur, Berlin/Bern/Wien: Peter Lang 2021, 149–164. Alle Thesen des Artikels von 2021 wurden für den vorliegenden Beitrag erweitert und neu formuliert.
  2. Marcus Twellmann: Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt, Göttingen: Wallstein Verlag 2019, S. 9. Vgl. auch Michael Neumann/Twellmann: «Dorfgeschichten. Anthropologie und Weltliteratur», in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 88 (2014) 1, S. 22–45. Vgl. auch Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 1982.
  3. Twellmann: Dorfgeschichte, S. 8.
  4. Uwe Baur: «Dorfgeschichte», in: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin et al.: De Gruyter Verlag 2007, S. 390–392, S. 391.
  5. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Vgl. ebd.
  8. Vgl. z. B. Walburga Hülk: «#Dichterdran – Flaubert im Rausch der Jahre», in: Marijana Erstić/Gregor Schuhen/Christian von Tschilschke (Hgg.): Madame Bovary c’est nous. Lektüren eines Jahrhundertromans, Bielefeld: Transcript Verlag 2021. S. 7–34.
  9. Walther Rehm: «Dorfgeschichte», in: Paul Merker/Wolfgang Stammler (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin: de Gruyter Verlag 1925/26, S. 200–205, S. 200 (Reprint).
  10. Baur: «Dorfgeschichte», S. 392.
  11. Vgl. Rurale Topographien des Transcript-Verlages, z. B. Werner Nell/Marc Weiland (Hgg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld: Transcript Verlag 2014 (= Rurale Topographien, Bd. 1) und Magdalena Marszalek/Werner Nell/Marc Weiland (Hgg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld: Transcript Verlag 2018 (= Rurale Topographien, Bd. 3).
  12. Vgl. Richard Schwaderer: Idillio campestre. Ein Kulturmodell in der italienischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, München: Fink Verlag 1987.
  13. Vgl. Saša Stanišić: «Was erzählt uns ein Fuchs über uns, über die Stadt und das Dorf? Saša Stanišić im Gespräch mit Alexander Gumz und Katrin Schumacher», in: Magdalena Marszalek/Werner Nell/Marc Weiland (Hgg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld: Transcript Verlag 2018 (= Rurale Topographien, Bd. 3), S. 27–36.
  14. Vgl. Marc Weiland: «Schöne neue Dörfer? Themen und Tendenzen neuer Dorfgeschichten» in: Marszalek u. a. 2018, S. 81–88.
  15. Vgl. Dora Osborne: «,Irgendwie wird es gehen‘. Trauma, survival, and creativity in Saša Stanišić’s ,Vor dem Fest‘», in: German Life and Letters, 72 (2019) 4, S. 469–483.
  16. Stanišić: Vor dem Fest, München: Luchterhand 2014.
  17. Thomas Möbius: «Stanišić, Saša», in: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, URL: http://www.munzinger.de/document/16000000823 (abgerufen von Universitätsbibliothek Siegen am 23.8.2020).
  18. Vgl. ebd, ohne Seitenzahl.
  19. Ebd.
  20. Ebd.
  21. Ebd.
  22. Theresa Vögle: Mediale Inszenierungen des ‚Mezzogiorno‘: die ,Südfrage‘ als Prüfstein der Einheit Italiens und der Idee Europas, Heidelberg: Winter 2012.
  23. Stanišić: Vor dem Fest, S. 11.
  24. Giovanni Verga: I Malavoglia, Milano: Mondadori 2004, S. 8.
  25. Vögle: Mediale Inszenierungen des ‚Mezzogiorno‘, S. 224.
  26. Ebd.
  27. Verga: I Malavoglia, S. 3 (Hervorhebungen im Original).
  28. Schwaderer: Idillio campestre, S. 261.
  29. Stanišić: Vor dem Fest, S. 11.
  30. Ebd.
  31. Ebd.
  32. Möbius, Thomas: Textanalyse und Interpretation zu Saša Stanišić «Vor dem Fest», Hollfeld: Bange Verlag 2018 (= Königs Erläuterungen, Bd. 345), S. 6, S. 21.
  33. Erstić: «Vor dem Fest. Saša Stanišićs Dorfroman aus gattungsspezifischer Sicht», S. 149–164.
  34. Baur: «Dorfgeschichte», S. 391.
  35. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Mit einem Nachwort von Thomas Rosenlöcher. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 2013, S. 10.
  36. Verga: I Malavoglia, S. 3.