Ich habe Hunger (Ho fame)1
Ich habe Hunger. Es ist zehn Uhr morgens.
Die Ziegen kommen vom Bach herauf.
Ich sitze auf dem Colle di Valle Moretta.
Ich bin elf Jahre alt. Ich habe heute Morgen um fünf Uhr den Stall verlassen. Ich habe Hunger. Ich schaue mich um.
In einem der alten Gemüsegärten am Hang sind noch einige der Obstbäume übriggeblieben.
Ich klettere auf einen Apfelbaum. Der Herbst steht bevor.
Ich mache eine Vesperpause mit einem Apfel, einem Azzeruolo.
Heute kenne ich den Namen. Während ich ihn verschlinge hingegen nicht.
Ich kann nur spüre nur seinen Geschmack im Mund: säuerlich, süßlich, herb.
Erst als ich erwachsen wurde, viele Jahre später, habe ich erfahren, dass ich einen Apfel einer vom Aussterben bedrohten Sorte gegessen hatte.
Ich war schon tausend Mal hier auf dem Colle und ich sollte diese Gedanken,
die einfach kommen, nicht haben.
Ich sollte einfach nur glücklich sein. Ich habe meinen Magen gefüllt.
Von der anderen Seite des Baches Racanello her höre ich den Klang der Hirtenglocken.
Sie leisten mir Gesellschaft.
Ich sollte diese Gedanken nicht haben, ich bin erst elf Jahre alt, und doch kommen sie: Ich weiß, dass alles, was ich vor mir habe, enden wird, aber mir ist nicht klar warum, wie und wann.
Wenn ich sie jetzt nach 37 Jahren aufschreibe, kommt es mir so vor, als wären diese Gedanken nur Erinnerungen, die durch die Linse der Jahre, die ich woanders verbracht habe, verschwommen und verzerrt sind, aber es kann nicht nur das sein, weil andere, diejenigen, die mich kannten, sich auch daran erinnern, als ich die ganze Zeit gefragt habe: «Menschen wie uns, Hirten, wird es nicht mehr geben, oder?»
Ich habe gefragt und gefragt. Ich habe mich an die Erwachsenen gewandt, aber sie schwiegen oder wechselten das Thema. Sie wollten keine Antworten auf die beharrlichen Fragen eines kleinen Jungen finden.
Aber auch sie schlürften die Zeit, als stünden sie ständig auf der Kippe.
Ich spürte, dass sie tief im Inneren Angst hatten. Die alten Hirten zogen fort, einer nach dem anderen, und das Land leerte sich langsam von diesen letzten Baumstümpfen, die in der Erde verwurzelt waren.
Niemand hat sie in ihrem Beruf ersetzt. Kein Generationenwechsel.
Alles andere war besser, sogar der Hunger, anderswo, in Städten, in denen man nicht leben kann, aber bloß nicht dieser Beruf.
Menschen, die bei ihrem Verschwinden ein ganzes Stück Welt mitgenommen haben. Eine Welt, die einen Ausguck, einen Wächter, einen Hüter, einen Beschützer verloren hat.
Alda Merini schreibt in einem ihrer Verse:
«Wenn ein Dichter stirbt,
lächelt das Böse glücklich, weil es einen Gegner verloren hat.»
Ich glaube, dass der Vers auch für den Hirten, den Bauern, den Fischer gilt. Wenn die Welt einen von ihnen verliert, freut sich das Böse, weil es die Erde erobert. Es verbrennt sie, erschüttert sie, stürmt sie, verwüstet sie, entbeint sie.
Ich habe Hunger. Ich bin 48 Jahre alt.
Den Azzeruolo des wilden Gartens gibt es nicht mehr.
Und auch nicht die Hirten.
Es gibt Parks, Foren, Veranstaltungen, Liebhaber von ökologischem Lettering: Resilienz, Biodiversität, Nachhaltigkeit.
Das Böse ist glücklich.
Die Wörter sind schön, sie überdecken die Katastrophe, sie verschleiern die Wahrheit, sie verschweigen die Leere.
Worte spenden Licht, während tief unter ihnen Dunkelheit herrscht.
Lucus (Lucus)
Ich weiß alles über dieses Land und ich weiß nichts.
Ich weiß, wo der Mond zu jeder Jahreszeit untergeht. Ich weiß, wo die Sonne die letzten Lichtstrahlen verklingen lässt. Wo sich die Flut beruhigt. Wo der Wind seinen letzten Atemzug ermüdet. Wo der Regen wie mit Tinte sein erstes Rinnsal aufdrucken wird. Ich weiß, wo der Fluss das aufsteigende Meersalz verzaubert. Ich kenne die feierlichen Hohlräume seiner Höhlen. Die trickreichen Gipfel seiner Berge. Ich weiß alles und weiß nichts über dieses Land der Lukaner.
Ich weiß, dass wir bis 82 v. Chr. keine Römer, sondern Italiker waren, bis zu jenem 2. November, an dem wir die Schlacht von Porta Collina, den ersten Bürgerkrieg der Römischen Republik verloren.
Ich weiß, dass nur wenige Menschen wissen, was die tausend Jahre alten wirklichen Grenzen dieses Lukaniens waren.
Lukanien war eine vorrömische Region, die sich, wie von Strabon (Geographie, VI, 1) minutiös beschrieben, von der Sele bis zum Lao entlang der tyrrhenischen und von Metapont bis Turi an der ionischen Küste erstreckte.
Es schloss den Vulture und das gesamte Gebiet östlich des Bradano aus, also auch Matera.
Stattdessen schloss es Cilento und Vallo di Diano ein und drang in das heute kalabrische Gebiet von Cosenza vor.
Wenn ihr beispielsweise im Cilento baden geht, seid ihr in Lukanien, wenn ihr den Berg Gelbison (ein arabisches Wort, kein englisches) besteigt, seid ihr unter Lukanern.
Wenn ihr jedoch in Matera ankommt, befindet ihr euch im Gebiet von Otranto. Matera wurde erst 1663 Teil des Königreichs Neapel der Provinz Basilikata.
Wenn ihr also etwas anderes machen möchtet, macht nicht die Tour «Basilicata coast to coast» (Maratea und Policoro), sondern macht «Lucania coast to coast», aus der Zeit, als wir Lukaner und Italiker hießen, zwischen Metapontum und Paestum oder Poseidonia, wie es die Griechen nannten.
Der griechische Name der Lukaner, Leukànoi, kann mit dem Adjektiv leukòs in Verbindung gebracht werden, was so viel wie «leuchtend», «strahlend», «weiß» bedeutet; der lateinische Name Lucani wird in Verbindung mit den Worten lux, «Licht», und lucus, «Wald», gebracht.
Lucus kommt von lux und bezeichnet ursprünglich nicht unbedingt den Wald, sondern die Lichtung, den leuchtenden Raum im Wald.
Ich weiß alles und ich weiß nichts über dieses Land und sein Meer, die mich verzaubern.
Und wenn sie mich fragen: «Franc, was habt ihr letztlich da unten in Lukanien?» Wir haben die Leere ... Den Raum des Auges, das kilometerweit die Ränder des Horizonts ohne menschliche Spuren berührt. Und nachts haben wir die Dunkelheit, die den Sternen Platz macht, damit diese ihr wunderbares Werk vollbringen.
Natürlich für diejenigen, die den Kopf zu heben verstehen.
Wir haben den Gesang des Wassers. Wir haben die Dörfer, die so weit voneinander entfernt sind, dass man jedes Mal, wenn man ankommt, eine neue Sprache hört, an die sich die Ohren erst gewöhnen müssen. Selbst dreißig Kilometer von deinem Ausgangspunkt entfernt fühlst du dich wie ein Ausländer und musst daher nochmal von vorne anfangen. Wir haben das uralte Flackern der Einsamkeit. Guten Wein ohne Namen. Pferde in freier Wildbahn, die sich auf Hochebenen, die du dir nicht mal vorstellen kannst, wie ein Fächer ausbreiten. Wir habe Zeit, die ihre Arme öffnet. Wir haben die schlechte Angewohnheit zu glauben, dass wir niemand sind, wenig wert, und es deshalb immer besser machen müssen. Wir haben offene Türen. Das Schweigen und ein Akkordeon, das an der Wand hängt. Wir haben alte Hirtenväter, die immer noch den Namen der Winde kennen, und Mütter, die so stark sind, dass sie deren Richtung ändern können. Wir haben junge Menschen, die von ihren Wegen in der Fremde zurückkehren, und neue Visionen von Ausländern, die sich hier niederlassen. Wir haben die Zeit, um die Wahrnehmung der Dinge zu ändern. Und wir werden es tun. Wir haben einen gedeckten Tisch für diejenigen, die ohne Ankündigung vorbeikommen. Wir haben die Sehnsucht und die Geistesgegenwart, um sie mit Heiterkeit zu besiegen. Wir haben nichts, und wenn du kommst, um dieses Nichts zu sehen, fühlst du, dass es alles bedeutet.
Philòxenoi (Philòxenoi)
Ich habe mich immer gefragt, warum es mir jedes Mal so schlecht ging. Warum mir ein Ort, an dem man keinen Tisch und keine Gastfreundschaft für mich deckte, so elend und arm vorkam, auch wenn er reich war; für mich, der ich in diesem Moment an dem Ort, an dem ich mich befand, der Fremde, der Neue, der Unbekannte war.
Ich habe versucht, es an allen Orten zu akzeptieren, an denen ich war. Ich kann nicht behaupten, dass ich es nicht versucht habe. Um es zu akzeptieren, sagte ich mir: Es sind Gewohnheiten, Breitengrade, Bräuche, jeder hat seine eigenen!
Anschließend habe ich die demographische Ethno-Anthropologie sorgfältig studiert, um ihre Bedeutung zu verstehen. Ich war intellektuell vorbereitet. Mental ist es mir immer gelungen. Ich habe verdaut. Ich habe verstanden.
Aber nicht im Körper, unter der Haut, in den Adern blieb eine dünne Spur, eine unsichtbare Linie, eine Grenze, gegen die ich schließlich stieß. Ungastlichkeit hat mich immer schwer beleidigt.
Ich bin in einem Gebiet in Süditalien aufgewachsen, wo die Väter und Mütter den Tisch immer mit einem zusätzlichen Platz decken. Als ich als Kind zu fragen wagte: «Wer kommt denn heute, wer kommt an, wer schaut vorbei?»
War die Antwort immer die gleiche, lapidar und voller Stolz: «Wer kommt, kommt, wer vorbeischaut, schaut vorbei». Der Tisch ist gedeckt auch für den xénos, den Fremden, den Passanten.
Ich brauchte Jahre, Bücher, Straßen und Orte, um zu verstehen, dass dieses Gesetz meiner Heimat Lukanien seit Jahrtausenden im Blut von Vätern und Müttern eingebrannt war. Und es war ein eindeutiges Gesetz der Lukaner, für das es ein eindeutiges Wort gab: philòxenoi.
Das Wort philòxenoi kommt von der oskischen und indogermanischen Sprachwurzel und mit dem Altgriechischen xénos erhält es die Bedeutung «Liebhaber der Fremden».
Es ist ein Ausdruck, der die Offenheit und die Gastfreundschaft gegenüber ausländischen Besuchern und Fremden ausdrückt.
Wenn die Lukaner im 6. Jahrhundert v. Chr. bei Sonnenuntergang einen «Ausländer» auf der Straße trafen und ihn nicht bewirteten, verhängten sie sich selbst eine Geldstrafe und zahlten den Preis für das Fehlen dieser Gastfreundschaft. Die gewährte Gastfreundschaft brachte andererseits die moralische Verpflichtung für den Fremden mit sich, dem Gastgeber und seinem Land keinen Schaden zuzufügen.
Philòxenoi ist das Gegenteil von xenòphobos, einem Wort, das sich aus den griechischen Wörtern xénos, «fremd», «ungewöhnlich», und phóbos, «Angst», zusammensetzt. Ich gehöre zu einem alten Volk von Hirten, das Hochländer und zwei Meere bewohnte und ein Gesetz der Offenheit gegenüber anderen in sich trug.
Aber um einen Brauch, ein ungeschriebenes Gesetz zu verteidigen, um stolz darauf sein zu können, um einen gesunden Stolz auf seine eigene Herkunft zu haben, muss man seine Geschichte kennen, muss man die Worte kennen, mit denen die Dinge bezeichnet werden.
Lucani Philòxenoi. Lukaner, Liebhaber von Fremden.