Alda Merini (1931–2009) ist eine der meistgelesenen italienischen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts und zumindest in Italien eine der bekanntesten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Gerade weil ihre Texte zum größeren Teil lyrisch sind, ist das eine Besonderheit. Diese Besonderheit liegt nicht zuletzt darin begründet, dass im Fall von Alda Merini ein kaum zu entwirrendes Geflecht an Parallelen, Spiegelungen und Bezugnahmen zwischen dichterischem Werk und Biographie, zwischen Kunst und Leben besteht. Merini, die diesen Verbindungen nicht nur Raum lässt, sondern sie auf verschiedenen Ebenen bewusst setzt, kommt damit dem seit 1800 zunehmenden Interesse der Rezipienten am ‹echten› Leben der Künstler entgegen. Was schon in ihren frühen Veröffentlichungen durch Widmungen an reale Personen, die in ihrem Leben eine Rolle spielten, wie ein roter Faden ihr Werk durchzieht, geht in ihrer letzten Schaffensphase über in eine Vermarktung, die sie in Interviews und Bühnenauftritten, zuletzt an der Seite des Sängers Giovanni Nuti, nicht nur zulässt, sondern auch aktiv vorantreibt.1 Vor allem in diesem Schaffensabschnitt Merinis ist es fast unmöglich, zwischen Selbstinszenierung und Fremdinszenierung zu unterscheiden, die Grenze zwischen der exhibitionistischen Lust der Autorin und den kommerziellen Interessen von Verlagen und Theatern zu ziehen. Dazwischen liegt ein Leben, das die Autorin im wahrsten Sinn des Wortes zwischen Genie und Wahnsinn verbracht hat: Zwischen 1965, dem Jahr ihrer ersten Einweisung, und 1979 war sie über mehr oder weniger lange Zeiträume, die unterbrochen wurden von kurzen Heimurlauben oder, ab 1972, auch Entlassungen als Patientin in der psychiatrischen Einrichtung Paolo Pini in Mailand untergebracht2 , eine Phase, in der sie zunächst das Schreiben völlig einstellt, um es dann, auf Anregung des Arztes Enzo Gabrici – dem später auch Gedichte und Briefe gewidmet sein werden – als Form der Therapie wieder aufzunehmen.3 Jahre später wird sie die Erfahrungen in der Psychiatrie in die Gedichtsammlung La Terra Santa4 sowie das Prosawerk L’altra verità. Diario di una diversa5 ein- und jene damit aufarbeiten.
Dieses Ineinanderfließen von biographischem Erleben und schriftstellerischer Tätigkeit hat unweigerlich zu einer biographistischen Rezeption ihrer Werke geführt, die nicht nur zu kurz greift, sondern auch Merinis eigene Stellungnahmen hierzu ignoriert, wenn sie beispielsweise in der «Conclusione» zu L’altra verità schreibt: «La conclusione di questo Diario non è veritiera né verisimile. Si tratta di una storia che potrebbe essere inventata [...]»6 . So lesen wir bei Maria Corti, Literaturkritikerin und Schriftstellerin, die die damals 16-jährige Merini im Kreis der Mailänder Dichter Giorgio Manganelli, Luciano Erba und David Maria Turoldo kennenlernte7 :
La Merini scrive in momenti di una sua speciale lucidità benché i fantasmi che recitano da protagonisti nel teatro della mente provengano spesso dai luoghi frequentati durante la follia. In altre parole, vi è prima una realtà tragica vissuta in modo allucinato e in cui lei è vinta; poi la stessa realtà irrompe nell’universo della memoria e viene proiettata in una visione poetica in cui è lei con la penna in mano a vincere.8
Feststellungen wie diese, zumal postuliert von einer engen Freundin Merinis, wie Maria Corti es war, führen unweigerlich zu einer Engführung von Biographie und schriftstellerischem Werk, die Gefahr läuft, die literarische Komplexität zu verkennen. So beschreibt Theresia Prammer Merinis Lyrik als «Lebenslyrik», «Überlebenslyrik» oder gar «feminine Bekenntnisdichtung».9
Was mit Prammers Worten eine Überlebensstrategie ist und in Cortis Zitat als der Sieg des Schriftstellers über die Realität definiert wird, ist keineswegs eine mehr oder weniger naive, biographische Bekenntnislyrik. «Vincere con la penna in mano» ist vielmehr der Kern einer poetologischen Ebene, die das gesamte Werk von Merini durchzieht und die Frage nach den Voraussetzungen des Dichtens und der Kreativität allgemein zu beantworten sucht. Die dichterische Produktivität und die Stellung des Dichters in der Gesellschaft sind zentrale Themen im Werk von Alda Merini. Dabei geht Merini zunächst von Motiven aus, die das Sprechen über Poesie und Poeten seit dem Anbeginn der europäischen Literatur begleiten: das Anderssein des Dichters, seine daraus entstehende Einsamkeit sowie, damit untrennbar verknüpft, das Dichten als existentielle Erfahrung. Dabei bezieht sich Merini ausdrücklich auf den antiken Mythos von Orpheus, den Sänger und Dichter, der mit seinem Gesang Tiere zähmen, Steine zum Weinen bringen und sogar Götter betören konnte. Als Sohn der Muse Kalliope, der Muse der Epik, des Saitenspiels und der Elegie, gilt er als Vater der Musik und wurde von Apollon mit einer Lyra beschenkt. Ein zentraler Aspekt des Orpheus-Mythos ist die Reise in die Unterwelt, wo er selbst den Höllenhund zum Verstummen bringt und Hades dermaßen rührt, dass er sich zur Herausgabe von Orpheus’ Ehefrau Eurydike bewegen lässt – die Orpheus allerdings am Ende doch in der Unterwelt lassen muss, da er sich entgegen dem Verbot nach ihr umwendet. Die Unterweltfahrt des Sängers wird innerhalb der europäischen Literatur zu einem Signum des Dichters, der sich zwischen den Welten bewegt: zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen der Götterwelt und den Menschen, zwischen Tod und Leben.
Die Zugehörigkeit des Orpheus/Dichters zu beiden Sphären ist begründet in seiner Sonderstellung als Wanderer zwischen den Welten, die sich aber nicht in der Transgression von Grenzen erschöpft. Orpheus kann diese Grenzen überschreiten, weil er als Schöpfer von Gesang eine Welt erschafft, die keine Grenzen respektiert. Im Mythos wird das nicht nur durch Orpheus’ Abstieg in die Unterwelt, sondern auch dadurch deutlich, dass Orpheus’ Kopf, nachdem jener von den Mänaden in Stücke gerissen und in die Ägäis geworfen wurde, zusammen mit der Lyra auf Lesbos wieder auftaucht – und noch immer singt. Der Gesang überlebt den Sänger – die Dichtung kann also den Tod überwinden, sowohl den des Bedichteten als auch den des Dichters. In Alda Merinis Gedicht «La presenza di Orfeo»10 (1949) ist das Oszillieren zwischen den Welten ein zentrales Thema, doch in einer noch radikaleren Wendung.
La presenza di Orfeo
a Paolo Bonomini11
Non ti preparerò col mio mostrarmiti
ad una confidenza limitata,
ma perché nel toccarmi la tua mano
non abbia una memoria di presagi,
giacerò nell’informe
fusa io stessa, sciolta dentro il buio,
per quanto possa, elaborata e viva,
ridivenire caos ...
Orfeo novello, amico dell’assenza,
modulerai di nuovo dalla cetra
la figura nascente di me stessa.
Sarai alle soglie piano e divinante
di un mistero assoluto di silenzio,
ignorando i miei limiti di un tempo,
godrai il possesso della sola essenza.
Allora, concretandomi in un primo
accenno di presenza,
sarò un ramo fiorito di consenso,
e poi, trovato un punto di contatto,
ammetterò una timida coscienza
di vita d’animale
e mi dirò che non andrò più oltre,
mentre già mi sviluppi,
sapienza ineluttabile e sicura,
in un gioco insperato di armonie,
in una conclusione di fanciulla ...
Fanciulla: è questo il termine raggiunto?
E per l’addietro non l’ho maturato
e non l’ho poi distrutto
delusa, offesa in ogni volontà?
Che vuol dire fanciulla
se non superamento di coscienza?
Era questo di me che non volevo:
condurmi, trascurando ogni mia forma,
al vertice mortale della vita ...
Ma la presenza d’ogni mia sembianza
quale urgenza incalzante di sviluppo,
quale presto proporsi
e più presto risolversi d’enigmi!
E quando poi, dal mio aderire stesso,
la forma scivolò in un altro tempo
di più rare e più estranee conclusioni,
quando del mio «sentirmi» voluttuoso
rimase un’aderenza di dolore,
allora, allora preferii la morte
che ribadisse in me questo possesso.
Ma ci si può avanzare nella vita
mano che regge e fiaccola portata
e ci si può liberamente dare
alle dimenticanze più serene
quando gli anelli multipli di noi
si sciolgano e riprendano in accordo,
quando la garanzia dell’immanenza
ci fasci di un benessere assoluto.
Così, nelle tue braccia ordinatrici
io mi riverso, minima ed immensa;
dato sereno, dato irrefrenabile,
attività perenne di sviluppo.
Dem Inventar des Orpheus-Mythos wird das Motiv des Pygmalion hinzugefügt, dessen Geschichte in Ovids Metamorphosen passenderweise von Orpheus erzählt wird12 , sowie Verweise auf Schöpfungsmythen wie den des Prometheus und den christlichen einer Erschaffung des Menschen aus Lehm. Das lyrische Ich kündigt an: «giacerò nell’informe», und präsentiert sich in diesem Zustand dem Du: «nel toccarmi la tua mano» findet die Hand des Du eine formlose und dadurch formbare Masse vor, nachdem das Ich den Prozess des «ridivenire caos» durchlaufen hat. Es folgt die erneute Formwerdung, die Wiedergeburt durch die Hand des Du: «modulerai di nuovo dalla cetra / la figura nascente di me stessa». Um nicht in den «vortice mortale della vita» zu geraten, «perferii la morte», um schließlich aber festzuhalten: «nelle tue braccia ordinatrici / io mi riverso, minima ed immensa; dato sereno, dato irrefrenabile, / attività perenne di sviluppo».
Dabei verwischen die Grenzen zwischen Ich und Du, zwischen formbarer Materie und formendem Schöpfer, wenn das lyrische Ich sagt: «concretandomi in un primo / accenno di presenza», um schließlich die Frage zu stellen: «Ma ci si può avanzare nella vita / mano che regge e fiaccola portata». Christine Ott bemerkt in ihrer Analyse des Gedichts treffend, dass Merini hier die topische Situation einer «donna che diventa materia poetica nelle mani dell’uomo plasmatore» überwindet, wenn sie diesbezüglich zu bedenken gibt: «A meno che il tu-Orfeo non rappresenti una parte dello stesso io, e cioè quella parte che organizza in forma poetica l’io»13 . Dieser «atto di auto-creazione» ist der Schlüssel zum Verständnis der Verstrickungen von Biographie und Fiktion im Werk von Alda Merini, die nicht nur «con la penna in mano» siegt, indem sie das Erlebte zu ihrer eigenen Geschichte macht, sondern sich selbst in einem literarischen Alter Ego neu erschafft, nachdem sie sich zerstört hat. Damit vereint die Dichterin nicht nur die Figuren von Orpheus und Eurydike in sich, sondern auch die des Pygmalion und seiner Statue. Sie überschreitet nicht nur die Grenze zwischen Leben und Tod in der Bewegung der ständigen Selbstauflösung und Wiederauferstehung mehrfach, sondern besetzt zugleich auch die übergeordnete Position eines Pygmalion oder Schöpfer-Gottes, der aus Lehm den Menschen schafft, ihm mit seinem Atem/Gesang Leben einhaucht und dessen Wort eine Welt erschaffen kann (vgl. Joh 1,1–3).
Vor dem Hintergrund dieser pluralen Persönlichkeit des Dichters ist auch die Passage in L’altra verità zu lesen, in der das Ich erzählt, dass «ognuno di noi poteva ribattezzarsi con un nome diverso. Oggio io mi chiamo Beatrice»14 . Der Akt des «ribattezzare» gleicht dem Akt der Schöpfung (auch Gott schöpft durch das Wort) und führt den biblischen Schöpfungsakt und den dichterischen durch den gemeinsamen Gestus eng. Indem das Ich sich selbst einen Namen gibt, vollzieht es einen Akt der auto-creazione. Mit dem Namen Beatrice wird außerdem Dante Alighieri aufgerufen, eine weitere Figur der abendländischen Dichtung, die auf die Tradition des poeta vates verweist.15 Auch Dante beschreibt in seiner Divina Commedia (entstanden 1307–1321) die Unterweltreise seines Alter Ego (und damit eines Dichters), bei der zunächst der Dichter Vergil, später die Angebetete Beatrice als Führer auftreten. Die Figur der Beatrice ist hier in mehrfacher Hinsicht interessant: In Dantes Schaffen stellt sie die unerreichbare Geliebte dar, die Anlass zu (Liebes-)Schmerz und zum Dichten zugleich ist und die im Laufe der Zeit immer mehr madonnenhaft-göttliche Züge erhält und schließlich als engelsgleiche Gestalt nicht nur den Dichter in der Divina Commedia ins Paradies begleitet, sondern auch in anderen Werken zum Seelenheil des liebenden Dichters beiträgt. Ist sie bei Dante als geliebtes Gegenüber Grund und Inhalt der Dichtung, so wird sie bei Merini zu einem Teil des Dichter-Ichs selbst. Die Dichterin schafft damit den Anlass zu dichten aus sich selbst heraus. Was zunächst – passend zu Merinis biographischen und literarischen ‹Irrenhaus›-Aufenthalten – wie der Ausdruck einer Schizophrenie erscheint, ist nichts anderes als die konsequente Umsetzung dessen, was im Bild des Dichters als Schöpfer einer Welt schon immer enthalten ist: Die Einheit von Schöpfer und Geschöpf in der Gestalt des Dichters, der die äußere Realität zerstört, um sie in anderer Form neu zu erschaffen.16 Damit rückt Merini den Orpheus- und Pygmalion-Mythos in die Nähe moderner Literaturtheorien, die das Schreiben als schöpferischen Akt getrennt von Person des Dichters sehen: Der Schreibende löst sich gewissermaßen im Akt des Schreibens auf, um sich dadurch selbst neu zu kreieren. Neben der écriture automatique der Surrealisten ist hier an den Diskurs von Abwesenheit und Anwesenheit in der Schrift zu denken, den Derrida in Die différance greifbar zu machen sucht:
Schreiben ist das Produzieren eines Zeichens [marque], das eine Art Maschine darstellt, die ihrerseits produktiv ist und die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert wird, zu funktionieren und sich lesen und umschreiben zu lassen.17
Gleichzeitig enthält ein geschriebenes Zeichen [signe] eine Kraft zum Bruch mit seinem Kontext, das heißt mit der Gesamtheit der Anwesenheiten, die den Moment seiner Einschreibung organisieren. Diese Kraft zum Bruch ist nicht ein zufälliges Prädikat, sondern die Struktur des Geschriebenen selbst.18
Während die Abwesenheit des Absenders der literarischen Botschaft in den Kontext moderner Literaturtheorien gehört, ist die Abwesenheit des Adressaten eine Voraussetzung der lyrischen Dichtung seit jeher. Sie führt zu einem zentralen Moment sowohl der mit Dante und Petrarca entstandenen Tradition des Dichtens aus unerwiderter Liebe als auch des Orpheus-Mythos, und zwar der Erfahrung von Trauer und Schmerz. Diese entstehen zunächst aus der Situation der unerwiderten Liebe, wie sie bei Petrarca und der ihm folgenden Strömung der petrarkistischen Lyrik als Schema zugrunde liegt. Indem die Konstellation der unerwiderten Liebe zum Anlass für das Dichten wird, sind Schmerz und Dichten untrennbar miteinander verbunden. Die Trauer über die unerreichbare Liebe wird zu einer Absage an die Welt, die sich in Motiven der Einsamkeit und Melancholie auch im Canzoniere findet.19 Die Abwendung von der Welt partizipiert an zwei Traditionen: Zum einen ist mit der Absage an die irdische Welt eine Hinwendung zur himmlischen, jenseitigen verbunden, die im Sinn des christlichen Heilswegs die Seele ihrem Schöpfer näherbringt – Beatrice als Heilsbringern bei Dante sowie Laura in ihrer zunehmenden Überblendung und schließlich Identifikation mit der Muttergottes im Canzoniere begleiten den Dichter auf seinem spirituellen Weg. Zum anderen sind die Verzweiflung an der Welt und das Anderssein Merkmale des Melancholikers, der, bereits in der Antike als Typus definiert, zwischen Wahnsinn und Genie oszilliert20 und auf den auch Petrarca wiederholt motivisch Bezug nimmt. Auch bei Alda Merini finden sich beide Tendenzen: Die Hinwendung zum Spirituell-Religiösen, die sich durch ihr Werk zieht und in der letzten Schaffensphase besonders explizit wird21 , und auf der anderen Seite die Motive der Tradition der Melancholie.
Im Melancholiker sind Einsamkeit und Entfremdungserfahrung verbunden mit besonderer Begabung und Kreativität, der Wahnsinn unweigerlich die andere Seite des Genies.22 Der Melancholiker ist gekennzeichnet von Nachdenklichkeit bis hin zur Verzweiflung an der Welt, wobei das Leiden bis zur Handlungsunfähigkeit führen kann.23 Gegen Ende des 18. und besonders im 19. Jahrhundert und mit der Romantik findet die Figur des Melancholikers starke Beachtung, da der sich im 18. Jahrhundert entwickelnde Genie-Gedanke und die pseudo-religiöse Erhöhung von Kunst und Künstler im Zuge der Romantik letztlich auf einer Vorstellung des Künstlers basieren, die sich mit dem Typus des Melancholikers weitgehend deckt oder zumindest zentrale Aspekte von diesem übernimmt.
Auch in Merinis Poetik bildet der Zusammenhang von Kreativität und Leiden die zentrale Achse. Wie schon an «La presenza di Orfeo» gezeigt, geht bereits hier dem Akt der (literarischen) Schöpfung eine (Selbst-)Zerstörung voraus, das Schreiben ist in Merinis Werk immer wieder mit Leiden verbunden. Wenn Merini sagt, «il dolore, per un poeta è una delle tante strade che deve seguire per scrivere. Io scrivo con dolore, ma voglio vivere con gioia. Aspiro alla felicità, anche se i mali del mattino mi rovinano la giornata»24 , dann wird das Leiden des Melancholikers konkret im Motiv des manicomio. Ist in der Tradition der Beschäftigung mit der Melancholie von der Antike über Marsilio Ficinos Drei Bücher über das Leben (1489) und Robert Burtons Anatomie der Melancholie (1621) der Melancholiker und damit auch der Künstler als Außenseiter angelegt, durch Anderssein gekennzeichnet und steht der Gesellschaft gegenüber, so transponiert Merini diese symbolische Distanz des Künstlers in ein konkretes Ausgestoßensein, den Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Immer wieder wird dies sowohl in L’altra verità und in La pazza della porta accanto als auch in ihrer Lyrik, wie z. B. im Zyklus La Terra Santa, thematisiert. Dabei werden die Zuweisungen von «normal» und «anders» oftmals problematisiert, die «Irren» werden als die eigentlich normalen von der nur vermeintlich normalen Gesellschaft abgelehnt – und wiederholen damit das Schicksal von mythischen Sehern wie Kassandra, die ausgestoßen wurden, weil sie als vates die Wahrheit erkannten.
Ciò che il poeta chiede alla società è di avere un posto qualsiasi nella vita e, guarda caso, un posto coerente. La diversità di cui si accusa un poeta è falsa. Ce la mette tutta, per esempio, per essere ugugale alla pazza della porta accanto, visto che lei è incoerente e folle ma ammirata da tutti.
Ciò che ho chiesto in tutti questi anni è di partecipare ai dialoghi insensati delle mie vicine di casa, che mi chiudevano la porta in faccia non appena aprivo l’uscio.25
Das Anderssein des poeta vates und des Kreativen manifestiert sich im Wahnsinn oder der Schizophrenie, die Alda Merini bzw. ihrem Alter Ego attestiert wurden. Durch die Dimension des manicomio als zeitlicher und räumlicher A-topos wird dem seelischen Schmerz des Melancholikers der körperliche an die Seite gestellt: der Schmerz der Demütigungen, Therapien und Elektroschocks. Das «disfarsi» aus «La presenza di Orfeo» wird wörtlich genommen. Dadurch ist Merinis Lyrik extrem körperlich, die Sinnlichkeit und der Körper werden dem Geist an die Seite gestellt, wodurch die Körperlosigkeit der Lyrik, wie sie Robert Fajen Heinz Schlaffer folgend darstellt, überwunden wird. Fajen stellt fest, dass «la lirica è un gioco assoluto di assenze», was sich aus der spezifischen Kondition der Lyrik ergibt, in der «è il linguaggio stesso che agisce»26 , eine Aktion, die allerdings dennoch den Körper als ihren letzten Bezugspunkt erinnert, da es sich handelt um «una voce immaginaria a cui solo un corpo – immaginario anch’esso – può aver dato timbro e suono»27 .
Dieser Anschluss an die Tradition der Melancholiker bei gleichzeitiger Distanzierung lässt sich an zwei Gedichten Merinis, «Canto alla luna» und «La luna s’apre nei giardini del manicomio» beispielhaft zeigen. Mit dem Motiv des Mondes, der untrennbar mit der Tätigkeit des Dichtens verbunden ist, wenn Merini beispielsweise in La pazza della porta accanto schreibt: «Il grande polmone del poeta, come la grande follia del custode, si alza col levare della luna. In quell’ora il poeta diventa un dromedario eccellente che attraversa il deserto della sua solitudine, cosparsa da tante mine che sono le sue parole»28 , schließt die Dichterin nicht nur allgemein an die Tradition der romantischen Gedichte an, innerhalb derer der Mond zu einem festen Topos wurde, sondern sie nimmt dezidiert Bezug auf Giacomo Leopardi. Merinis «Canto alla luna»29 ruft Leopardis «Alla luna» auf, das zu den Gedichten des Zyklus’ der Canti30 gehört.
Canto alla luna
La luna geme sui fondali del mare,
o Dio quanta morta paura
di queste siepi terrene,
o quanti sguardi attoniti
che salgono dal buio
a ghermirti nell’anima ferita.
La luna grava su tutto il nostro io
e anche quando sei prossima alla fine
senti odore di luna
sempre sui cespugli martoriati
dai mantici
dalle parodie del destino.
Io sono nata zingara, non ho posto fisso nel mondo,
ma forse al chiaro di luna
mi fermerò il tuo momento,
quanto basti per darti
un unico bacio d’amore.
Während der Mond bei Leopardi «quella selva [...] tutta la rischiar[a]», heißt es bei Merini: «La luna grava su tutto il nostro io». Statt des milden und Hoffnung spendenden Lichts, das Leopardis Mond verbreitet, ist der Mond bei Merini eine Last, wenn er selbst die «cespugli martoriati» mit seinem Geruch überdeckt. Die intertextuellen Bezüge zu Leopardi stellen nicht zufällig eine noch stärkere Verbindung zu Leopardis berühmtestem Gedicht «L’infinito» her, wenn bei Merini von den «siepi terrene» die Rede ist und von den «sguardi», die ähnlich Leopardis «mirando» aufsteigen («salgono dal buio»). Die synästhetische Erfahrung des «Infinito», in dem Auge und Ohr sich der Erfahrung des Unendlichen öffnen, wird bei Merini auf andere Sinne verlagert, neben dem Ohr («geme») wird der Geruchssinn («odore di luna») angesprochen, während das himmlische «stormir» in einem ironischen Bild durch die «mantici» ersetzt und zu «parodie del destino» deklariert wird. In den letzten Versen geht Merini dann in eine deutliche Distanz zu Leopardi, der sich in «Alla luna» zwischen Erinnern («rimembranza») und Hoffnung («speme») bewegt. Auch bei Merini ist das Mondlicht («chiaro di luna») am Ende in einem versöhnlichen Bild mit Hoffnung verbunden, doch unterscheidet sich diese Hoffnung deutlich von der bei Leopardi, wenn das lyrische Ich mit den Worten endet: «mi fermerò il tuo momento, / quanto basti per darti / un unico bacio d’amore.» Was bei Leopardi innerlich-geistig bleibt, erhält bei Merini eine körperliche Dimension, dem ewig unerfüllte Verlangen bei Leopardi steht die Erfüllung in der Liebesbegegnung bei Merini gegenüber.
Noch drastischer wandelt Merini das Bild des Mondes in einem weiteren, dem Mond gewidmeten Gedicht, «La luna s’apre nei giardini del manicomio»31 :
La luna s’apre nei giardini del manicomio,
qualche malato sospira,
mano nella tasca nuda.
La luna chiede tormento
e chiede sangue ai reclusi:
ho visto un malato
morire dissanguato
sotto la luna accesa.
Hier tritt der Mond als Figur auf, die eher unheilvoll auf die Kranken blickt, gewissermaßen eine Bedrohung darstellt, denn «[l]a luna chiede tormento, e chiede sangue ai reclusi» – «ho visto un malato / morire dissanguato / sotto la luna accesa». Das vor dem Hintergrund romantischer Mond-Lyrik verstörende Bild ist eine Transposition des Motivs in den Diskurs von Wahnsinn und manicomio: Ist der Mond traditionell Ansprechpartner des Dichters und damit stimulierendes Moment der Kreativität, so wird er bei Merini zu einer fordernden Instanz, die die Dichterin regelrecht aussaugt. Die Dichterin, die nicht mehr der Melancholiker, sondern die Wahnsinnige im manicomio ist, muss dem Mond alles von sich preisgeben, sich leer schreiben, bis sie kein Blut mehr in den Adern hat – eine andere Form des «disfarsi», wie wir es schon aus «La presenza di Orfeo» kennen. Auch in den beiden Mond-Gedichten ist der Schmerz der Selbstauflösung zentral, das Dichten wird somit zu einer Grenzerfahrung, vor deren Hintergrund Kreativität erst möglich wird. Das Schreiben wird rückgebunden an den Körper, wie Fajen zurecht bemerkt: «Il proprio corpo è un limite da violare, un ostacolo da vincere, scrivendo e cantando, anche se questo porta a un dolore insopportabile»32 .
Noch deutlicher wird diese Grenzerfahrung, wenn Merini mehrfach das manicomio als «inferno» bezeichnet33 – eine Grenzerfahrung im körperlichen Sinn, die mit Erniedrigungen, Gewalt und Schmerzen verbunden ist, aber auch eine Grenzerfahrung im Sinn des die Grenzen zwischen Leben und Tod/inferno überschreitenden Dichters. Die Reise in den Hades eines Orpheus oder die ins christliche Jenseits eines Dante werden bei Merini zur Reise durch die höllische Anderwelt des manicomio. Damit wird die biographistische Lesart obsolet, die Figur «Merini» sowie die anderen, sie umgebenden Figuren werden als Funktionen und als «Masken» erkennbar.34 In diesem Vexierspiel der Rollen und Maskierungen wird dem Schmerz des Leidenden, dessen Inkarnation in der christlichen Philosophie und Literatur Christus und seine Passion darstellen und die an verschiedenen Stellen aufgerufen werden, der Schmerz der Gebärenden an die Seite gestellt. Damit wird aber nicht in erster Linie die Figur der Muttergottes aufgerufen; Merini gelingt es vielmehr, in der Gebärenden eine Metapher für den Künstler zu schaffen, die den Akt des Dichtens und Schöpfens zu einem dezidiert weiblichen macht. Die Schmerzen der Geburt werden zu den Schmerzen der künstlerischen Produktion. Wenn Merini in L’altra verità berichtet, dass die Schwangerschaften sie aus dem Wahnsinn holen konnten, sie während Schwangerschaften keine Medikamente brauchte und zeitweise nach Hause entlassen wurde, dann wird zugleich die dichterische Produktivität nicht nur zu einer Überlebensstrategie, sondern zu einer Tätigkeit des «Sich-neu-Zusammensetzens»35 . Das Ich in «La presenza di Orfeo», das zunächst als die zu formende Materie erscheint, wird zum diese Materie überhaupt erst aus sich erschaffenden Mutterleib, das literarische Schreiben zu einem Akt der auto-generazione. In diesem Bild der kreativen Schöpfung schafft Merini auf eine neue Art die Ineinssetzung von Schöpfer und Geschöpf: Pygmalion und seine Statue verschmelzen in der Gestalt der kreativen, dichtenden Frau.
Vor diesem Hintergrund erhält die in Merinis Texten stark präsente Körperlichkeit, die sich nicht nur in der Form von Leiden und Schmerz, sondern auch von Liebe und Erotik zeigt, eine metapoetische Dimension. Ihre Feststellung, dass «[i] poeti sono eternamente innamorati di qualcosa, die qualcuno, di una presenza, di un sogno»36 , wird zur conditio sine qua non der Kreativität. Dabei wird die Liebe nicht nur unglücklich, sondern schmerzhaft dargestellt, das Du ist immer abwesend. Zwar entspricht dies einer Konvention der (vor allem lyrischen) Dichtungstradition, doch geht Merini einen Schritt weiter, indem sie das Du als Konstruktion des Ich, als Folie und als Funktion innerhalb der von ihr geschaffenen Welt erkennt und thematisiert. Einprägsame Beispiele für diese funktionale Abwesenheit des Gegenübers sind der tote Ehemann, den sie mehrfach anspricht, sowie der Liebhaber in der Psychiatrie, der trotz seiner wichtigen Stellung, die er innerhalb von L’altra verità einnimmt, immer stumm, also ohne eigene Stimme bleibt.
Durch die Ausweitung der Melancholie-Tradition auf die Depression gelingt es Merini nicht nur, ein grundlegendes Theorem des Sprechens über Kreativität und der Genieästhetik zu aktualisieren und damit ins 20. Jahrhundert zu übertragen.37 Sie ermöglicht es, der a-körperlichen lyrischen Sprache eine Körperlichkeit zu verleihen, indem sie neue Räume eröffnet für einen poetologischen Ansatz, der das bislang rein innerlich-psychische Leiden um den Aspekt des physischen Leidens erweitert und hierbei die Vitalität als einen wichtigen Bestandteil begreift. Eine Vitalität, die nicht zuletzt an die Figur der Gebärenden geknüpft ist, womit Merini in einer emanzipatorischen Geste, die viel weiter geht als das Tabus überschreitende oder verletzende Thematisieren weiblicher Sexualität in der Lyrik, endlich der Figur des männlichen Schöpfers eine weibliche Schöpferin an die Seite stellt, ja diese letztlich sogar über ihn stellt, da die eigentliche Kraft der Kreativität im Schöpfen aus sich selbst heraus besteht. Somit integriert sie den Akt des (bislang dezidiert männlich besetzten) Zeugens in den des per definitionem weiblich konnotierten Akt des Gebärens.
Der letzte Text der Ausgabe von L’altra verità von 1997 thematisiert genau dies, wenn das lyrische Ich im Dialog mit dem Du sagt:
Io sono la tua carne,
la carne eletta del tuo spirito.
Non potrai mai visitarmi nel giorno
prima che il puro lavacro del sogno
mi abbia incenerita
per restiturmi a te in pagine di poesia
[...]
Io e te siamo esangui,
senza voglia di finire questo incantesimo.
Incolori e indomiti, siamo soli
nel limbo del nostro piacere
perché io e te
siamo pieni di amore carnale,
io e te.38
Damit komplettiert Merini nach über 2000 Jahren, in denen sich die Figur des melancholischen Dichters aus dem Pseudo-Aristotelischen Problem XXX speist, den Diskurs um Kreativität und Melacnholie um einen Aspekt, der zuvor eher untergegangen oder überlesen zu werden schien. Bei Pseudo-Aristoteles heißt es nämlich, dass «die meisten Melancholiker [...] wollüstig» seien, «stark erotisch veranlagt oder leicht zu Zorn oder Begierde zu erregen».39 Erotik und Wollust scheinen in Merinis Werk in verschiedenen Facetten weiblicher Begierde auf, die vom körperlichen Begehren über verzehrende Liebesleidenschaft bis zu platonischer Zuneigung und Liebe spiritueller Natur reichen. Diese Begierde, die bis zum Selbstzerstörerischen reicht und eine existentielle Erfahrung darstellt, bildet Grundlage und Essenz einer dichterischen Produktivität, die ganz im orphischen Sinn durch Transgressionen und Grenzerfahrungen gekennzeichnet ist, jedoch um die Dimension des Weiblichen ergänzt wird, wie beispielsweise im folgenden Gedicht:
Pensiero, io non ho più parole.
Ma cosa sei tu in sostanza?
Qualcosa che lacrima a volte,
e a volte dà luce.
Pensiero, dove hai le radici?
Nella mia anima folle
o nel mio grembo distrutto?
Sei così ardito vorace,
consumi ogni distanza;
dimmi che io mi ritorca
come ha già fatto Orfeo
guardando la sua Euridice,
e così possa perderti
nell’antro della follia.40
Der Ursprung des Gedankens und damit des Wortes als Folge des Gedankens wird zugleich in der Seele («anima folle») und im Körper («grembo distrutto») gesucht, wobei beiden das Moment der Auflösung, des disfarsi immanent ist – der Seele in Form der follia, die zugleich Zersetzung und Voraussetzung für die dichterische Kreation ist, dem Schoß als Ort der Entstehung von neuem Leben und im Kontext des weiblichen Künstlers von neuer Dichtung in Form der Zerstörung («distrutto»). Orpheus als Referenzfigur wird aufgerufen im Bild dessen, der die Geliebte verliert – bei Orpheus ist dies Eurydike, für das lyrische Ich der Gedanke selbst. Doch ist der Gedanke nicht unwiederbringlich verloren, sondern in der Höhle des Wahnsinns, die eine weitere Metapher des Weiblichen, des Uterus darstellt. Wenn Alda Merini in La pazza della porta accanto feststellt: «Non esiste la donna poeta, esiste la donna e basta, la donna letteraria, la donna evangelica, epistolare, la donna che batte i marciapiedi. La donna poeta fa solo il mestiere di poeta», dann ist das nicht nur die Konstatation eines Mangels, sondern zugleich ein roter Faden, der sich wie eine Lebensader durch Merinis Werk zieht: die donna poeta. Sie ist gewissermaßen die «andere Wahrheit» und ist nur vollständig erfassbar unter der Prämisse einer dezidiert weiblichen Kreativität, die in den Bildern von Schoß, Schwangerschaft und Geburt immer wieder auftauchen. Wie auch die männliche Kreativität ist sie mit Schmerzen verbunden, allerdings zusätzlich mit ebenfalls dezidiert weiblichen, den Schmerzen der Geburt. Dabei nimmt die donna poeta, die zum weiblichen Schöpfergott der Dichtung wird, sowohl die Gestalt des leidenden Christus, als auch der Jungfrau Maria und Muttergottes an. Deutlich wird dies zum Beispiel in L’altra verità, wenn Merini eine Behandlung im manicomio parallel zum Leiden Christi setzt:
Ma tutto ciò mi pareva scontato, some scontata poteva essere la crocefissione dell’Uomo.
Mi misero a letto, ma nessuno mi carezzò la fronte. Anzi mi legarono mani e piedi e in quel momento, in quel preciso momento, vissi la passione di Cristo.41
Später erzählt sie von einem Kind, das im manicomio gezeugt wurde. Die Protagonistin und Pierre pflücken gemeinsam Rosen, aus denen sie in einem metaphorisch aufgeladenen Bild ein Bett machen:
Così, io e Pierre, adagiati sulle rose e sulle spine godemmo del primo amplesso del nostro amore. E fu amplesso che durò millenni, il tempo della nostra esecrazione. E da quell’amplesso senza peccato nacque una bimba.
[...] Ma non facevamo più all’amore: ciò che noi desideravamo in quel luogo dissacrante era di «creare»; e ci eravamo riusciti, noi due giudicato pazzi avevamo dato vita a una creatura e ora nessuno poteva dividerci.42
Pierre, der schon zuvor auftaucht, stellt sich zunächst als Piero vor, und sein erster Auftritt wird begleitet von der Überlegung der Protagonistin, dass «l’amore che io immaginavo apparteneva a qualche cosa di inconsistente, qualche cosa che forse stava solo nella mia immaginazione»43 . Diese Inkonsistenz wird sofort bestätigt, wenn Piero ohne Kommentar zu Pierre wird, ein Name, der sicher nicht zufällig an den Dichter und späteren zweiten Ehemann Merinis, Michele Pierri, erinnert. In diesem Geflecht aus Verweisen und Metaphern, angefangen beim Bett aus Rosen und Dornen, das auf Maria, die Dornenkrone Christi, aber auch die Rose als Symbol der Liebe allgemein verweist, ist der zentrale Gedanke der einer Empfängnis um des «creare» willen, der Geburt als Akt der Schöpfung und, in einem Vexierspiel aus symbolisch-metaphorischem und konkretem Sprechen, die weibliche Brust als nahrungsspendend: «Una volta mi disse [Pierre]: ‹Questo seno darà buon latte alla nostra piccina›.»44
Die Engführung von männlich konnotierter Melancholie-Tradition und moderner Diagnose weiblicher Schizophrenie in einem Konzept der weiblichen Kreativität, die das poetologische Konzept der donna poeta in einem modernen, emanzipierten Sinn begründet, ist in all seinen Facetten in folgendem Gedicht enthalten, das Petrarca und seinen Canzoniere als Intertext aufruft, um ihm die Stimme nicht nur eines weiblichen lyrischen Ichs, sondern eine donna poeta folle entgegenzustellen:
Io mi sono una donna
a Salvatore Quasimodo
Io mi sono una donna che dispera
che non ha pace in nessun luogo mai,
che la gente disprezza, che i passanti
guardano con attesa e con furore;
sono un’anima appesa ad una croce
calpestata, derisa sputacchiata:
mi son rimasti solo gli occhi ormai
che io levo nel cielo a Te gridando:
toglimi dal mio grembo ogni sospiro!45