Irmgard Scharold (Hrsg.): Dante intermedial. Die Divina Commedia in Literatur und Medien. Würzburg: Könighausen & Neumann 2022, 474 S., Euro 69,-, ISBN: 978-3-8260-5588-1
Der von Irmgard Scharold 2022 herausgegebene Band Dante intermedial versammelt Vorträge, die bereits 2014 auf einem entsprechenden Studientag in Würzburg gehalten wurden, ergänzt um eine nicht näher spezifizierte Anzahl später eingeworbener Texte. Die insgesamt 18 Beiträge sollen, so das explizite Anliegen, «einen Einblick in aktuelle und einen Ausblick auf zukünftige Themenfelder der multi-, inter- und transmedialen Divina Commedia-Rezeptionsformen» (36) geben. Zuvor berichtet die Herausgeberin im Vorwort von den Schwierigkeiten der Drucklegung und widmet den Band den verstorbenen «Annegret und Willem Bollée» (8). Die Mehrzahl der Beiträge ist auf Deutsch verfasst, vier auf Italienisch, und insgesamt drei stammen aus der Feder der Herausgeberin, die in ihrer Einleitung unter partiellem Rekurs auf den Covertitel zunächst Hinweise zu Dantes «Divina Commedia in Literatur und Medien des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts» gibt. Die anhaltende Popularität Dantes erklärt sie mit dem «‘Markencharakter’ von Autor und Werk» (13), der großen Anschlussfähigkeit, «Affinität zu anderen Künsten» (16) und «medialen ‘Offenheit‘» (19) der Divina Commedia, die mit dem ersten italienischen Stummfilm L’Inferno (1911) die damalige rasante Entwicklung des Mediums entscheidend befördert habe und auch in aktuellen «popkulturellen Genres und in digitalen Medien» (23) wirksam sei. Bevor Scharold die einzelnen Beiträge resümiert, stellt sie noch die These auf, das Potenzial der Divina Commedia bestehe darin, «Mediengrenzen zu überschreiten und neue Medienkombinationen einzugehen oder diese sogar anzustoßen» (23) – warum dies aber in besonderem Maße auf Dantes Werk zutreffen sollte, bleibt offen.
Der Reigen der Beiträge wird eröffnet von der Keynote Peter Kuons, der unter dem affirmativen Titel «Faszination Dante!» Aspekten der «literarischen Rezeption der Divina Commedia im 20. und 21. Jahrhundert» (43) nachgeht und sich dabei auf einen eigenen älteren Beitrag aus dem Jahr 1997 zu Peter Weiss stützt. Nach einem kulturpessimistischen Prolog und einer Präzisierung der eigenen Begrifflichkeit (im Unterschied zu seiner bekannten Publikation ‚lo mio maestro e ’l mio autore’. Die produktive Rezeption der ‚Divina Commedia‘ in der Erzählliteratur der Moderne von 1993 optiert Kuon nun für «kreative Rezeption») arbeitet er in einem recht knappen «systematischen Überblick über ihre kreative Rezeption in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts» (43–44) formale Aspekte der Divina Commedia heraus, die «für Autoren der Moderne» (45) aller ideologischen Ferne zum Trotz faszinierend blieben. Dazu zählten die «lakonische und hierin moderne Erzähltechnik» (46), die «klare formale Strukturierung» (46) in puncto Zahlensymbolik, Aufbau, Personenkonstellation, «Doppelung von erlebendem und erzählendem Ich» (47) – die «leicht wiedererkennbaren patterns» (47) der Commedia, mit deren Hilfe dann das ganze Werk evoziert und so «mit einem Minimum intertextueller Andeutung ein Maximum zusätzlicher Bedeutung geschaffen werden» (47) könne. Diese formalen Merkmale, zu denen auch Dantes vehemente Gesellschaftskritik zähle, ermöglichten es der Literatur der Moderne nach der «Krise der Poetik des Realismus» (48), «die ungeordnete, kontingente, chaotische moderne Wirklichkeit ex negativo mit einem Sinn zu versehen» (48), womit die formale Bezugsebene ja wohl verlassen wäre. Die kreative hochkulturelle Rezeption der Commedia ergänzt Kuon im dritten Teil seines Beitrags durch zwei (niederkulturelle?) «Ausprägungen» (49): einerseits eine «populärliterarische» (49) Unterhaltungsliteratur, die sich Dantes als «trademark» (49) bediene, um «Produkte der Massenliteratur [zu] nobilitieren» (50) und auf diese Weise ein ominöses «populärhermeneutisches Vakuum» (27) zu füllen, wie Scharold Kuon zitiert, der seinerseits jedoch (50) Tabea Kretschmanns Studie Höllenmaschine/Wunschapparat (2012) zitiert. Andererseits überwinde die «postmoderne» (49) experimentelle Kunst in multimedialen Werken «the gap» «zwischen E- und U-Kultur» (50) und rekurriere in diesen Entgrenzungen auf die inhärente «Sinnlichkeit» (51) der Commedia. Die Faszination (!) Dantes in postmodernen Zeiten bleibt in diesem arg verknappten Upcycling zweifellos fundierter Überlegungen jedoch großteils eine Affirmation.
Der folgende Beitrag der Herausgeberin zeichnet unter dem Titel «‘… quel rapporto di attrazione e di repulsione’» «Dante-Bilder im italienischen Novecento» (55) nach, während es Scharold im nächsten Überblicksbeitrag «Intermedialität: Terminologie, Konzepte, Funktionen» (99) unternimmt, die ausufernde Begriffsvielfalt der Sekundärliteratur darzustellen und die «Validität eines intermedialen Deutungsansatzes» (118) am Beispiel der Illuminationen des Codex Altonensis zu erproben, die in qualitativ hochwertigen farbigen Reproduktionen den umfangreichen Beitrag erhellen. Schwarzweiß malt die «Kölner Künstlerin» (28) Hiltrud Gauf Dantes «Himmel und Hölle» (143) in ihrem Zyklus von 2009, sie überschreibt, genauer gesagt, den Text jedes Canto auf einer DIN-A4-Seite, was diesen unlesbar macht. Indem sie sich der vorgängigen künstlerischen Tradition verweigere, schaffe sie einen Text im Sinne Vilém Flussers, wie Sabine Schrader in ihrem kurzen Kommentar «Himmel und Hölle von Hiltrud Gauf – Eine Einführung» (147) schreibt.
Die folgenden Beiträge beschäftigen sich in chronologischer Anordnung mit Dante-Rezeptionen. Zunächst arbeitet Monica Farnetti überzeugend Dante-Bezüge in der Lyrik der Petrarkistin Gaspara Stampa heraus («‘Donne care’ – Gaspara Stampa legge la Commedia» 151), wobei sie sich auf umfangreiche eigene Vorarbeiten stützt; zu den zahlreichen wichtigen Frauenfiguren Dantes, die Farnetti unter Rekurs auf den «pensiero femminile contemporaneo» (176) untersucht, würde doch wohl auch die hier unberücksichtigte Matelda zählen, und das final postulierte Gotteskonzept als «il nome che Dante dà al nostro desiderio quotidiano di un orizzonte più aperto e un cielo più alto» (176) stellt eher einen populärfeministischen laientheologischen Anachronismus als eine kühne Interpretation von Dantes brisant unorthodoxem hochaktuellem Werk dar. Damian Dombrowskis reich bebilderter Beitrag «Delacroix malt Inferno VIII» (181) zeigt überzeugend das Revolutionäre an Delacroix’ intermedialer moderner «Neuschöpfung» (194) des Inferno auf. «Ikonotextuelle Adaptionen von Dantes Inferno» untersucht Monica Biasiolo unter dem Titel «Der sommo poeta und die nuvole parlanti» (213) anhand der Comics L’Inferno di Topolino (1949/50) aus dem Hause Disney, Dante’s Divine Comedy (2010) von Seymour Chwast und Michael Meiers Das Inferno. Frei nach Dante Alighieri (2012). Den vielfältigen und tiefgreifenden Dante-Lektüren des argentinischen Autors Jorge Luis Borges geht Roland Spiller auf der Basis älterer eigener «Vorarbeiten» in seinem Beitrag «‘... quel giorno più non vi leggemmo avante’. Dante bei Borges: der Traum als Intertext und die transkulturelle Rezeption» (251) nach; Dietmar Frenz stellt im Anschluss einen multilingualen Dante-Roman von Julián Ríos unter dem Titel «‘Voi ch’èdentrate…’: Dante-Rezeption in Julian Ríos’ Larva. Babel de una noche de San Juan (1984)» (283) vor. Dem innovativen multimedialen Experiment TV-Dante (1988) von Peter Greenaway und Tom Phillips widmet sich Angela Krewani («‘A good old text is always a blank for new things’: Funktioniert Dante im Fernsehen?» 301), Agnès Morini den unterschiedlichen Dante-Rezitationen von Vittorio Gassman und Roberto Benigni («Dante nell’orecchio… La tradizione delle lecturae Dantis dalla declamazione alla performance dantesca» 317). «Danteske Intertextualität in zeitgenössischen italienischen Prosa-Darstellungen der Po-Ebene» (331) bei Celati, Cavazzoni und Benati beschreibt Gerhild Fuchs und illustriert mit eigenen Fotos die «Po-Ebene als industrielles und urbanes Höllenszenarium» (344), während Tatiana Bisanti «L’intertesto dantesco in Lamerica (1994) di Gianni Amelio» (355) nachgeht. Ina Bergmann präsentiert «Eine Divine Comedy für das 21. Jahrhundert: Matthew Pearls The Dante Club (2003)» (373), Daniela Bombara unter dem Titel «‘L’Inferno non sarà più lo stesso’: Manipolazioni e riscritture della prima cantica dantesca come videogioco, film d’animazione, fumetto» (399) das Videospiel Dante’s Inferno (2010) und seine Franchise-Produkte, dem sie Relevanz und pädagogisches Potenzial attestiert; und Dagmar Reichardt schlägt im letzten Beitrag «Dante jenseits der abendländischen Rezeption. Wie Philalethes’ deutschsprachige Übersetzung der Commedia von 1849 in die Niederlande kam und im dritten Millennium in Kapstadt Afrikaans wurde» (439) unter Rekurs auf eigene Vorarbeiten einen weiten translatorischen Bogen. Informationen «Zu den Autorinnen und Autoren der Beiträge» (465) beschließen das umfangreiche Werk.
Der Sammelband teilt mit manch anderer geisteswissenschaftlicher Publikation das Schicksal der langen Genese und imminenten Verjährung, aller gewollten Aktualität zum Trotz. Das ereignisreiche Jubiläumsjahr 2021 wurde kaum einbezogen, der bibliographische Stand der Beiträge ist in den meisten Fällen nicht nennenswert aktualisiert, was sogar auf die Autor*innen-Präsentationen am Ende des Bandes zutrifft. Auf diese Weise bietet der Band eher Rück- denn Ausblicke, was bereits am Cover abzulesen ist, das einen Kupferstich zu Inferno XXXIV aus dem späten 16. Jahrhundert zeigt. Dantes Commedia wird fast durchgängig als Divina angesprochen, was in postmodernen Zeiten verwunderlich ist und den Blick auf die Sprengkraft dieses in der Tat faszinierend unorthodoxen literarischen Textes ein Stück weit zu verstellen droht. Die recht unterschiedlichen einzelnen Beiträge werden sicher in der diversifizierten Forschung auf Interesse stoßen. Es bleibt bei dieser Gelegenheit aber wieder einmal grundsätzlich zu fragen, ob es nicht für alle Beteiligten sinnvoller wäre, solche Einzelstudien auf kostenfreien und bibliographisch gut erschlossenen universitären Plattformen oder in wissenschaftlichen Zeitschriften der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, anstatt mühsam und langwierig Sammelbände zu kompilieren, deren roter Faden sich leicht verliert und deren aufwendige Publikation lediglich parasitäre Verlage bereichert.