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Modellpluralität im Zeichen der Alterität – zu Alda Merinis L’altra verità. Diario di una diversa

Katharina von Harsdorf

«Sono nata il ventuno a primavera / ma non sapevo che nascere folle, / aprire le zolle / potesse scatenar tempesta.»1 So der Beginn des vielleicht berühmtesten und meistzitierten Gedichts Alda Merinis (1931–2009, geboren und gestorben in Mailand), in dem die Aspekte ‹Leben› und ‹Wahnsinn› – die Kernthemen im Werk der Dichterin – in wenigen Versen komprimiert zusammengeführt werden. Die wenigen Zeilen stehen in ihrer Motivik repräsentativ für das Phänomen Alda Merini, die es als Lyrikerin vermocht hat, ein (italienisches) Massenpublikum zu erreichen und zu gewinnen – was neben dem Faszinosum von Dichtung und Wahnsinn auch in dem Charisma ihrer Person begründet liegt. Die außerordentliche Popularität mag für eine zeitgenössische Lyrikerin ungewöhnlich sein, beschränkt sich jedoch auf ihr Heimatland Italien. In Deutschland ist sie immer noch weitgehend unbekannt und kaum übersetzt.

Alda Merini reüssierte als Lyrikerin bereits in jugendlichem Alter und fand sogar unter renommierten Schriftstellerkolleg:innen große Anerkennung: Die ersten Gedichtpublikationen der Neunzehnjährigen erschienen in der von Giacinto Spagnoletti herausgegebenen Anthologie Poesia italiana contemporanea 1909–1949.2 Die Erfolgswelle der Dichterin (bis Ende der 1950er-Jahre wurden mehrere Gedichtbände veröffentlicht) war nicht von langer Dauer, denn Merini, die seit ihrer Jugend mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte, wurde nach der Geburt ihrer zweiten Tochter aufgrund der Diagnose disturbo bipolare in die psychiatrische Anstalt eingewiesen. Es folgte eine Anstalts-Odyssee, die zwanzig Jahre währen sollte − weitestgehend unter den Bedingungen, die vor der großen italienischen Psychiatriereform (bekannt als Basaglia-Reform) herrschten. Während dieser Zeit gab sie ihre dichterische Tätigkeit nahezu vollkommen auf.

Ihre zweite Schaffensphase, in der sie vor allem die Erfahrungen in der Irrenanstalt zum Thema machte, brachte ihr noch einmal Ruhm und zahlreiche Auszeichnungen ein (u. a. Premio Viareggio, Premio Procida – Elsa Morante, Premio Dessì, Premio Nazionale di Poesia). Neben der Lyriksammlung La Terra Santa3 ist das zentrale Werk in diesem Kontext L’altra verità. Diario di una diversa4 . Der Text gilt gemeinhin als die Autobiographie der Anstaltsjahre und einer der wenigen Prosatexte Merinis – Kategorisierungen, die jedoch zu kurz greifen, denn auf den knapp 150 Seiten des Werks versammelt Merini eine Vielzahl von Textsorten, die sie zu einem kunstvollen Konglomerat zusammenwebt, bestehend aus auktorialen Erfahrungsberichten, Gedichten, dokumentarischen Fremdtexten und Briefen. Giorgio Manganelli, langjähriger Weggefährte Merinis, versucht in seinem Vorwort zu L'altra verità den Text wie folgt zu charakterisieren:

Il Diario di una diversa di Alda Merini non è un documento, né una testimonianza sui dieci anni trascorsi dalla scrittrice in manicomio. È una ricognizione, per epifanie, deliri, nenie, canzoni, disvelamenti e apparizioni, di uno spazio – non di un luogo – in cui, venendo meno ogni consuetudine e accortezza quotidiana, irrompe il naturale inferno e il naturale numinoso dell’essere umano.5

Zunächst sei im Folgenden kurz die Situation des Psychiatriewesens in Italien im 20. Jahrhundert beleuchtet. Anschließend soll untersucht werden, wie sich Alda Merini mit ihrem Werk L’altra verità dazu positioniert und inwieweit dieser Text – der zweifelsfrei mehr als eine bloß dokumentarische Aufzeichnung ihrer Internierungszeit in der Anstalt Paolo Pini ist – eigene Wege des Umgangs mit Erkrankungen aufzeigt und den Schubladisierungen von ‹normal› und ‹krank› eine eigenständige poetische Stimme entgegensetzt.

1 Die Psychiatrie in Italien im 20. Jahrhundert: Fakten, Desiderate, Reformen

Die Zahl der psychisch Kranken und deren Einweisung in die manicomi nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich und kontinuierlich zu. In Italien gab es kein Rahmengesetz zur Regelung und Vereinheitlichung der verschiedenen Sozialeinrichtungen und es herrschte fast überall Uneinigkeit und Unordnung.6 Eine im Jahr 1901 von Ernesto Belmondo durchgeführte Untersuchung nennt verschiedene Arten psychiatrischer Anstalten: karitative Einrichtungen, Krankenhausabteilungen und private Institutionen, die weithin mit Problemen wie Überbelegung, fehlendem medizinischen Personal, unzureichend qualifizierten Pflegekräften, vernachlässigten oder baufälligen Räumlichkeiten und schlechter Qualität des Essens zu kämpfen hatten. Der ‹Gipfel des Grauens› («Il culmine degli orrori») offenbarte sich für Belmondo in der psychiatrischen Anstalt San Servolo (Venedig)7 :

Infermieri rozzi, maleducati e in cinica attitudine di carcerieri, una quantità di malati tenuti colle catene e coi ceppi e le balze di ferro alle mani e ai piedi, sulle nude carni contuse, intormentite e sanguinose, per settimane, per mesi, per anni, senza alcuna vigilanza medica, e mantenuti per tanto tempo in sì raccapriccianti condizioni per le stesse ragioni per cui in altri tempi languivano i prigionieri alla Bastiglia: perché nessuno si ricordava più di loro e dell’ordine una volta dato di tenerli chiusi.8

Im Zuge des durch journalistische Untersuchungen und Reportagen ausgelösten Skandals um die venezianischen Anstalten stellte sich heraus, dass die desolaten Zustände von San Servolo kein Einzelfall waren.9 Die Publikationen zeigten Wirkung: Der damalige Innenminister Giovanni Giolitti legte dem Senat einen Gesetzesentwurf über psychiatrische Anstalten vor (Disposizione sui manicomi pubblici e privati).10 Das daraus hervorgehende Gesetz Nr. 36 wurde 1904, nach vierzigjähriger Debatte, verabschiedet. Mit diesem Gesetz sah sich die italienische Psychiatrie in ihrer fast vollständigen Herrschaft über den ‹Wahnsinn› bestätigt; psychischen Erkrankungen wurden klare Raster aufoktroyiert. Auch Alda Merini teilte, Jahrzehnte später, aus Patientensicht noch immer diese Wahrnehmung:

Al momento dell’internamento, l’ammalato sente sopra di sé il peso della condanna, condanna che non può non riversare sulla società tutta ed anche sui congiunti […]. [L]e vere vittime restiamo pur sempre noi, perché una volta a casa ci sentiremo sempre rinfacciare quella degenza come un fatto giuridico, e non di malattia. Insomma, il malato è un gradino più su di colui che è stato in galera.11

Mit dem Beginn der faschistischen Ära wurden neuropsychiatrische Ambulanzen eingerichtet und eine neue Zeitschrift, Igiene mentale, gegründet. 1927 leitete Mussolini «la igienista politica del fascismo» ein, in der die Relevanz von Mutterschaft und Gesundheit sowie Bewahrung der «buona razza italiana» propagiert wurden:12 Das Hauptproblem der italienischen Anstalten in den 1930er-Jahren und darüber hinaus war das fast völlige Fehlen einer therapeutischen Behandlung. Den bereits 1904 in der Legge Giolitti fixierten repressiven Möglichkeiten kam durch eine gesetzliche Erweiterung noch mehr Spielraum und ein größeres Gewicht zu (unter anderem verlangte die Gesetzgebung eine Eintragung der Patienten ins Strafregister). Die Antworten der Psychiatrie auf die durch traumatische Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg ausgelösten Neurosen blieben die gleichen wie die auf jene aus dem Ersten Weltkrieg: Obwohl die Auswirkung der zerstörerischen Kriegsgewalt auf die menschliche Psyche offensichtlich war, wurden die emotionalen Folgen von medizinischer Seite nicht anerkannt.

Ein folgenschwerer und zu Recht nicht unumstrittener Meilenstein der psychiatrischen Behandlungsmethoden war die von Ugo Cerletti erfundene Elektroschocktherapie, die Ende der 30er-Jahre erstmals angewandt wurde. Cerletti war sich als engagierter Forscher der Risiken seiner eigenen Entdeckung bewusst und versuchte, die Methode durch unablässige Studien zu überwinden,13 sie sollte jedoch noch jahrzehntelang zum Standardprogramm der italienischen Psychiatrien gehören. (Alda Merini erlitt in der Anstalt Paolo Pini nach eigenen Aussagen 46 Elektroschockbehandlungen.14 )

Als in den 1950er-Jahren in Paris mit Chlorpromazin experimentiert wurde, setzte die Ära der Psychopharmaka ein, die einen Wendepunkt darstellte. Was in den italienischen Institutionen weiterhin außen vor blieb, war die Psychoanalyse, die sich nur langsam ihren Weg auf die Seiten der meistgelesenen Wochenblätter, insbesondere der Zeitschrift Oggi, bahnte und somit zum Gesprächsthema der Allgemeinheit avancierte. In den 1960er-Jahren entstand ein verstärktes Interesse an kreativen Ansätzen, beispielsweise der Kunsttherapie oder dem Schreiben als therapeutischer Alternative bzw. Ergänzung. Auch der Arzt Enzo Grabrici, der Alda Merini während ihrer Internierung in Mailand zeitweise begleitete und dem sie später die Lettere al Dottore G. widmete,15 ermutigte seine Patienten im Rahmen der Therapie zum künstlerischen Ausdruck. Im Umfeld der Psychiatrie war es in der Folge vor allem Franco Basaglia (1924–1980), der im Rahmen seiner psychiatrischen Tätigkeit in den sichtbaren Fokus von Politik, Gesellschaft und Medien rückte. Trotz einiger Reformversuche während der vorherigen Jahrzehnte galt für die psychiatrischen Anstalten weiterhin das Gesetz aus dem Jahr 1904. Man war sich jedoch im Klaren darüber, dass für eine umfassende Reform ein grundsätzliches Umdenken geschaffen werden musste, das frei von dem Vorurteil einer «pericolosità della follia» war.16 Basaglias zentraler Gedanke, den er in einem Bericht im Rahmen des Londoner Kongresses von 1964 vorstellte,17 drehte sich um die Rückgewinnung der individuellen Freiheit des Patienten und darüber hinaus um die Freiheit der Gesellschaft überhaupt. Daraus folgerte er, dass die psychische Krankheit einen doppelten Ursprung hat: einen psychopathologischen und einen sozialen. Der Patient ist also ein Andersartiger durch seine Krankheit und zudem ein von der Gesellschaft Stigmatisierter. Die Anstalt ist für Basaglia Ausdruck einer Logik der Macht.18 Trotz der zahlreichen, lautstarken Appelle von Basaglia und seinen Mitstreitern und dem Vorstoß des sozialistischen Gesundheitsministers Luigi Mariotti, das Anstaltswesen in seiner bisherigen Form zu schließen, wies ein Großteil der Psychiater die Kritik am Psychiatriewesen noch immer zurück.19 An dieser Stelle können die einzelnen umfangreichen Reformen der Psychiatrie in Italien, die sich nur umständlich und langwierig realisieren ließen, nicht im Detail dargestellt werden. Im Hinblick auf Merini und ähnliche Lebenswege sei vor allem darauf verwiesen, dass erst 1978 das Verfassungsgericht das Referendum zur Abschaffung des Psychiatriegesetzes von 1904 für zulässig erklärte.20 Das Echo auf das neue Gesetz Nr. 180 war groß, vor allem auf internationaler Ebene, wo das Geschehen in der italienischen Psychiatrie mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Es ging in die Geschichte unter dem Namen Legge Basaglia ein.21 Hinsichtlich Merinis Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen – der erste erfolgte bereits 1947, der letzte im Jahre 1979 in einer Mailänder Klinik – ist der Zeitraum bis zur Umsetzung des Gesetzes Nr. 180 relevant. Zu dieser äußert sich Merini in L’altra verità an einer Stelle explizit:

Il manicomio è senz’altro una istituzione falsa, una di quelle istituzioni che, create sotto l’egida della fratellanza e della comprensione umana, altro non servono che a scaricare gli istinti sadici dell’uomo. E noi eravamo le vittime innocenti di queste istituzioni. C’erano, sì, persone che avevano bisogno di cure e di sostentamenti psicologici, ma c’era anche gente che veniva internata per far posto alla bramosia e alla sete di potere di altre persone; e di questo io mi rendevo ben conto. Per questo Basaglia ha pensato bene di chiuderli. Creando, ovviamente, altri problemi non ancora risolti.22

2 Das Diario, das keines ist?

Bereits der Untertitel von Merinis Werk macht in puncto Gattungsbezeichnung eine klare Ansage: Diario di una diversa. Ein Tagebuch also – das sich jedoch im Zuge dieses Untertitels der gattungsspezifischen Einordnung sogleich wieder entzieht: das Tagebuch von einer, die sich unterscheidet, einer Grenzgängerin, einer Außenseiterin, einer Andersartigen. Ein Tagebuch, das damit implizit beansprucht, ein anderes Tagebuch zu sein bzw. sein zu dürfen.

Signifikant ist bei der Gattung Tagebuch der Aspekt der Materialität und der (Hand)Schrift: die verwendete Textur des Textträgers (beispielsweise in Mappen gesammelte lose Papiere oder gebundene Hefte), die graphische Anordnung der Eintragungen (u. a. Leerseiten), Zeugnisse, welche eingeklebt wurden (wie etwa Zeitungsausschnitte oder Eintrittskarten), oder die Spuren, die das Tagebuch im Laufe der Zeit davongetragen hat.23 Bei einer Tagebuch-Lektüre erwarten die Lesenden also nicht ein ‹geglättetes› Endprodukt, sondern die Teilhabe am Entstehungsprozess des Textes. Daraus ergibt sich notwendigerweise die Frage, inwieweit die gedruckte, edierte Fassung dem Original entsprechen kann, will oder muss. Diese Frage scheint sich im Fall von Merinis Diario zu erübrigen: L’altra verità wurde rückblickend mit einem Abstand von rund 20 Jahren geschrieben (daraus macht die Dichterin keinen Hehl) und war von Anfang an für eine Publikation vorgesehen: «Il Diario non è solo sereno come scrittura e come stesura di racconto, ma è anche stato scritto in un momento particolarmente sereno (vent’anni dopo).»24 Die Rezipienten haben es bei dem Text also nicht mit einem (handschriftlichen) Fundstück zu tun, das erst im Nachhinein für die Veröffentlichung aufbereitet wurde. Dennoch ist der Anreiz, durch das Diario einen intimen Einblick in das Leben der Dichterin während einer Extremsituation zu erhalten, nicht zu unterschätzen. Merini war sich dieser Erwartungshaltung bewusst. Darüber hinaus ging es ihr aber vor allem darum, als unmittelbar Betroffene auf die Missstände in den Psychiatrien aufmerksam zu machen und dabei stellvertretend auch für diejenigen zu schreiben, die Ähnliches erlebt hatten, aber über keine öffentliche Stimme verfügten. Am Ende des Werks wechselt sie im Post scriptum 2 folgerichtig von der Perspektive der Ich-Erzählerin in einen objektivierenden, distanzierten Außenblick und nimmt, von sich selbst in der dritten Person sprechend, Stellung zum Text und dem Psychiatriewesen – ein Statement der Zeugin Alda Merini im Sinne einer Allgemeinheit: «Con questo volume Alda Merini mette a disposizione degli altri le sue esperienze, per un proficuo esito della psicoanalisi e per un’emancipazione umanistica della psichiatria.»25

Auf den ca. 150 Seiten findet sich ein Konglomerat verschiedenster Textsorten und Stilmischungen, denen keine offensichtlich zugrunde liegende Struktur innewohnt. Diese vermeintliche Beliebigkeit in der Aneinanderreihung vielfältiger Gattungsformen en miniature wirkt teilweise derart ostentativ ‹ungezügelt›, dass sich der Eindruck einstellt, dieser Melange könnte ein eigenständiges Prinzip zugrunde liegen. Dieser Eindruck ist umso nachhaltiger, als eine Tagebuchaufzeichnung die Rezipierenden zunächst einmal eine unmittelbare, direkte, ungeschönte Schreibweise erwarten lässt. Im Kontext des Tagebuchschreibens ist das Diskontinuierliche und Antiästhetische ein charakteristisches Merkmal, das einem auf den Kategorien der Kontinuität und Ästhetik fußenden Reglement entgegensteht. Der Tagebucheintrag ist als Reflexionsplattform primär ein Zeugnis, ein Festhalten bzw. Festschreiben des eigenen Erlebens. Diese Form setzt voraus, Schilderungen und Gedanken ungefiltert wiederzugeben und sich damit der Bewertung etwaiger ästhetischer Kriterien zu entziehen – wobei jegliche Niederschrift von Dichtenden geradezu unabdingbar im Bewusstsein einer potenziellen Rezipientenseite stattfindet.26

Alda Merini macht sich genau diese (Nicht)Erwartungshaltung zunutze: Formal wie inhaltlich scheint sie im Diario Tagebuch-Marker zu setzen. Zwar gibt es übertitelte mehrseitige Kapitel, die ein bestimmtes Thema behandeln, doch besteht ein Großteil des Textes aus scheinbar losen ‹Spots›, die übergangslos aufeinander folgen. Merini springt in der Chronologie des Erzählten und sprengt jede Linearität. Den präzisen Moment des Erzählens lässt sie intransparent, wenngleich er im Verlauf des Werks immer präsenter wird. Auch graphisch werden die aus jeglichem Kontext gelösten Fragmente in L’altra verità durch Lücken bzw. Leerzeilen deutlich gemacht,27 und damit Gedankensprünge suggeriert:

Sono le sette del mattino. A quest’ora in manicomio spiavamo la giornata; guardavamo se era bella, e poi non potevamo uscire. Ma almeno coccolavamo in seno per delle ore quella probabilità così umana, così necessaria. Anche qui è giorno. Qui, fuori dalla Terra Santa, ma come nel manicomio, tu non sai dove andare.

Il manicomio non finisce più. È una lunga pesante catena che ti porti fuori, che tieni legata ai piedi. Non riuscirai a disfartene mai. E così io continuo a girare per Milano, con questa sorta di peso ai piedi e dentro l’anima. Altro che Terra Santa! Quella era certamente una terra maledetta da Dio.

Il denaro mi fa paura. Forse perché in manicomio non ne avevamo mai. Quando fuori hanno provato a darmelo, non sapevo che farmene, e lo spendevo male. Ma avevo tante voglie segrete. Per esempio, una voglia di piangere, intense, su quelle banconote.

Pierre fu il mio grande amore in manicomio. Un amore fatto solo di sentimento. Ma non per questo fu meno grande. Ma morì, morì sopra un carrozzone il giorno che lo portarono in un cronicario.

Il nostro sonno era quasi sempre agitato, sommamente dolente nelle nostre fibre.28

Formal erinnern diese oft sehr kurzen, für sich stehenden Sequenzen an frei assoziierte Notate, die in einem Tagebuch für gewöhnlich unter dem Datum eines bestimmten Tages stehen und dem Tagebuch die ihm eigene Charakteristik des «Erzählens in Tagen» verleihen.29 Mit Ausnahme der dem Text nachgestellten Lettere a Pierre und einer Angabe unter einem Gedicht fehlt in Merinis Werk jegliche Datierung.30 Das Fehlen von Datumsangaben in Merinis Diario erklärt sich zum einen aus dem Umstand, dass die Dichterin den Text rückblickend verfasst hat und dabei nicht auf Notizen zurückgreift, die mit einem Datum hätten versehen sein können – was wiederum darin begründet liegt, dass sie während ihres Aufenthalts in Paolo Pini geradezu verstummte31 : «L’idea del canto però era totalmente sparita della mia mente. E poi lì dentro mi ero dimenticata di tutto e gli elettroshock avevano fatto il resto. Rimanevo quindi una integrale ignorante, che però, a volte, sapevo ancora riflettere.»32 Zum anderen spricht Merini immer wieder von dem Verlust jeglichen Zeitempfindens während der Klinikaufenthalte:

Come ho detto, dieci anni sono molto lunghi a passare e di ogni secondo, di ogni briciola di tempo, vorrei potere avere un preciso ricordo. Ma le cose non andarono così perché ogni tanto cadevo in confusione e vi rimanevo per mesi e mesi, e di quel tempo non ricordo nulla.33

Die Tage dort seien meist völlig sinnentleert und austauschbar gewesen («di giorno non facevamo nulla»34 ) und nach immer gleichen Schemata abgelaufen: «Cominciai ad abituarmi a quel tipo di esistenza. Ogni giorno una ciotola di minestra. Ogni giorno le fascette alle caviglie e ai polsi. E poi nulla».35 Die Zeitdeiktika «ogni giorno» und «giornalmente» ziehen sich durch den gesamten Text und unterstreichen die trostlosen Mühlen des Psychiatriealltags, dessen ewige Wiederkehr des Gleichen keinen Ausblick gewährt. Ein Tagebuch, welches als unmittelbares Zeugnis das Erleben jener Anstaltsjahre begleitet, wurde nicht nur nicht geschrieben, es hätte gar nicht geschrieben werden können, da die Verfasserin nicht imstande war, ihre Eindrücke augenblicklich festzuhalten. Sie versetzt sich in das Erlebte zurück, ruft das Geschehene wach und bringt es rückwirkend zu Papier. Dabei nimmt sie – im Bewusstsein, den Text für eine Leserschaft zu verfertigen – keine Rücksicht auf eine stringente Chronologie und Linearität des Erzählten, sondern ‹imitiert›, mit dem zeitlichen Abstand von zwanzig Jahren den unmittelbaren Schreibvorgang im (damaligen) Hier und Jetzt. Die prägnanten Datumsangaben, welche in Tagebüchern, zusammenhaltend wie trennend, gleichsam Knotenpunkte einer Kette darstellen,36 realisiert Merini stellvertretend als Leerzeilen.37 Dies ist eine höchst konsequente Realisierungsform der Unmöglichkeit einer zeitlichen Orientierung während jener Anstaltsjahre. Der Realisierungsprozess dieser sequenziellen (Erinnerungs-)Momentaufnahmen ist mit dem Vorgang des Tagebuchführens durchaus vergleichbar.

Ein Prinzip, das im Hinblick auf die Gattung Tagebuch relevant ist, ist jenes der Genauigkeit. Der oft erschreckend nüchternen Präzision in der Schilderung drastischer Vorgänge in der Anstalt begegnet man oftmals auch in Merinis L’altra verità. Ohne jeglichen Anflug von Sentimentalität, mit fast ‹emotionsbefreiter› Klarheit erinnert sich Merini minutiös an die Gegebenheiten. Es geht der Autorin um die möglichst genaue Wiedergabe des Erinnerungsmaterials; sie verzichtet darauf, es auszuschmücken oder es über die exakte Schilderung hinaus in Szene zu setzen. In eben diesem Anspruch an die Genauigkeit der Erinnerung, deren präziser Rekonstruktion und klarer Nachvollziehbarkeit, mag ein dichterischer Beweggrund gelegen haben, den Text als Diario zu bezeichnen. Ein Tagebuch stellt ein Zeitzeugnis dar. Merini ist eine Zeitzeugin und präsentiert sich in diesem Text mittels ihrer persönlichen Erfahrungen als eine solche. Den Vorgang dieses genau erinnernden Schreibens macht Merini nicht nur transparent, sondern zum Ausgangspunkt für eine Lesart des Werkes, indem sie den Leser in den Moment des Schreibens (und Erinnerns) und ihre Empfindung während des Schreibprozesses selbstreflexiv miteinbezieht: «Io, quando scrivo, è come se dormissi ed entrassi nel profondo della mia anima. Mi fa paura il risveglio, il contatto matematico, aggressivo con la realtà dalla quale vorrei finalmente slegarmi.»38

3 «Del resto ero poeta» – die ‹andere Wahrheit› der Dichterin

Alda Merini ist nicht nur Zeitzeugin, sie ist vor allem Dichterin. Diesen Status macht sie in L’altra verità schon im ersten Satz des Werks mit dem knappen, aber unmissverständlichen Einschub «del resto ero poeta»39 deutlich. Die Frage, ob man bei einer Dichterin, die über schriftstellerisches Handwerkszeug verfügt, davon ausgehen kann, dass sie sich in einem mit Diario überschriebenen Text darauf beschränkt, möglichst getreu die Fakten wiederzugeben und damit die ‹Wahrheit› zu erzählen, beantwortet Merini bereits mit dem Titel L’altra verità: Die Wahrheit von einer, die nicht nur gesellschaftlich aus einer behaupteten Norm fällt, sondern sich auch dahingehend unterscheidet, dass sie als Künstlernatur, die ihr inhärent ist, ‹anders› wahrnimmt und sich ‹anders› ausdrückt bzw. ausdrücken darf – und diesen Anspruch im Diario di una diversa geltend macht. Inwieweit in diesem Text ein freier literarischer Umgang mit den faktischen Erlebnissen der Autorin mit zu bedenken ist, gilt es auch deshalb zu hinterfragen, weil man sowohl in der Sekundärliteratur als auch auf öffentlichen Plattformen, die das Werk beschreiben und/oder vermarkten, durchweg auf divergierende Gattungsbezeichnungen stößt: «diario romanzato»40 , «opera […] a carattere autobiografico»41 , «autobiografia»42 , «diario di medicina narrativa»43 oder sogar «Bildungsroman»44 – um nur einige Beispiele zu nennen.

Abgesehen von den Lyrikelementen trifft man in L'altra verità auf weitere eindeutige Literarizitätssignale. Unter anderem macht Merini, trotz oder gerade wegen der inhaltlichen und chronologischen Sprunghaftigkeit der berichteten Ereignisse, immer wieder deutlich, dass ihr dies durchaus bewusst und also auch ein bewusst eingesetztes Mittel ist. Das zeigt sich insbesondere darin, dass sie nicht zuletzt sich selbst als Schreibende dazu auffordert, eine gewisse erzählerische Stringenz im Blick zu behalten: «Ma andiamo avanti col nostro racconto»45 , «Ma andiamo con ordine»46 , «Comunque, torniamo al racconto»47 . Der erzählende, literarische Gestus ist in L’altra verità von der ersten Zeile an dominierend:

Quando venni ricoverata per la prima volta in manicomio ero poco più di una bambina, avevo sì due figlie e qualche esperienza alle spalle, ma il mio animo era rimasto semplice, pulito, sempre in attesa che qualche cosa di bello si configurasse al mio orizzonte; del resto ero poeta e trascorrevo il mio tempo tra le cure delle mie figliole e il dare ripetizione a qualche alunno, e molti ne avevo che venivano a scuola e rallegravano la mia casa con la loro presenza e le loro grida gioiose.48

Das Ringen um faktische Genauigkeit in L’altra verità ist evident, schließt eine fiktionale Erweiterung jedoch keinesfalls aus – beide Ebenen koexistieren, ergänzen sich oder fallen sogar ineinander. Die Grenze zwischen autobiographischem und autofiktionalem Erzählen ist fließend und die Differenzierung zwischen ‹wahrer Geschichte› und Fiktion äußerst heikel, da sie selbst von der Autorin nicht immer zu kontrollieren ist bzw. sie diese unterbewusste Ebenen vorab nicht kontrollieren will, und im Schreibprozess damit experimentiert.49

4 Grauzone Grenzerfahrung und die Transformation des Grauens

In Merinis Diario konstituiert sich ein Ich, welches, obgleich es nach eigenen Aussagen immer wieder in todesähnlichen Zuständen dahinvegetiert, einen unbedingten Willen zum Weiterexistieren aufbringt.

Il manicomio era saturo di fortissimi odori. Molta gente orinava e defecava per terra. Dappertutto era il finimondo. Gente che si strappava i capelli, gente che si lacerava le vesti o cantava sconsce canzoni. Noi sole, io e la Z., sedevamo su di una pancaccia bassa, con le mani in grembo, gli occhi fissi e rassegnati e in cuore una folle paura di diventare come quelle là.50

Merini vergleicht die Eindrücke in der psychiatrischen Anstalt mit dem Ende der Welt («finimondo»), mit einer Art dantesken Vorhölle, in der die Sünder:innen ihre Strafen erwarten. Sie sieht sich von allen erdenklichen Formen des Wahnsinns umgeben, die ihr Angst bereiten und fremd sind. Dieses ‹Fremdkörpergefühl›, das Gefühl, fehl am Platz oder einfach ‹anders› bzw. ‹anders anders› zu sein, ist ein Motor dafür, sich dieser ‹Hölle› zu widersetzen und ihr einen unbedingten (Über)Lebenswillen entgegenzustellen.

Ci svegliavano di buon’ora alle cinque del mattino e ci allineavano su delle pancacce in uno stanzone orrendo che preludeva alla stanza degli elettroshock: così ben presente potevamo avere la punizione che ci sarebbe toccata non appena avessimo sgarrato. Per tutto il giorno no ci facevano fare nulla, non ci davano né sigarette né cibo al di fuori del pranzo e della cena; e vietato era anche il parlare. D’altra parte, trattandosi tutte di forme schizofreniche e paranoidee, ben poco ci sarebbe stato da dire con le altre malate. Ma io inspiegabilmente rimanevo lucida e attenta; io avevo voglia di qualche cosa di buono, di ancora sensibilmente umano […].51

Ausblicke und Orte, mit denen sich die Protagonistin identifizieren kann, sind in L’altra verità keine Utopien, sondern sehr konkret vorhanden und manches Mal in greifbarer Nähe.

Il giardino d’estate era pieno di uccelli: io pensavo a quanto la natura non riuscisse, suo malgrado, a falsare il segno della sua innata bontà. Anche se noi percepivamo quei suoni come si potrebbero percepire in un Eden, dove tutto è possibile e impossibile, pure il sentirci controllati dalla natura, il sentirci serviti dai suoi concetti, dal suo clima, ci faceva gran bene al cuore, e così, l’erba verde ci parlava di fiducia, e così i fiori, e così i ruscelletti che si aprivano dolcemente in mezzo a qualche piccolo aiola, e così il cielo tutto.52

Gleichwohl ist das Thema des Todes bzw. dessen Vorahnung in L’altra verità omnipräsent.53 Das Motiv des Sterbens zieht sich als Konstante durch das gesamte Werk und manifestiert sich u. a. in der fortwährenden Wiederholung bestimmter Wörter, die semantisch alle der Isotopie des Todes (oder dessen Vorstufe) zugehören. Allein auf den ersten zehn Seiten finden sich54 : «morendo, rassegnata alla morte, morta» (13, 15, 22), «fumi del male, male» (14, 16), «impazzire» (14), «labirinto» (14), «scomparire, scomparsa» (14, 15), «caos infernale, inferno» (14, 20), «manicomio, manicomi» (14, 17, 19, 21, 23), «urlo, grida, sussulti strani, miagolii, urlare, urlando a squarciagola» (14, 20), «iniezioni calmanti» (14), «grave shock, elettroshock, shock» (15, 18, 23), «istato di coma» (15), «coercitiva punizione, punizione, punita, degradazione, umiliazione» (15, 18), «finimondo» (15), «internamento» (17), «esistenza puramente vegetativa» (18), «suicidio» (21), «pazzesco» (18, 19), «orrendo» (18, 19), «schizofreniche, paranoide» (19), «regrediti» (19), «connubio di streghe» (20).

Trotz des massierten Grauens zieht sich durch den gesamten Text Merinis der unbedingte und unbezwingbare Drang nach Schönheit und Liebe im Leben. Die vermeintlich unumstößliche Wahrheit wird von ihr transformiert, indem sie ihr ins Gesicht sieht, sie benennt und für sich ihre eigene, eine andere Wahrheit, erkennt und sie in Worte fasst:

Alle volte, negli ospedali psichiatrici allestivano dei letti di fortuna, dei paglierici per terra. E, se levavi gli occhi, vedevi i piedi legati del tuo vicino. Su uno di questi pagliericci, ricordo, ci sono stata per sei mesi, e il pavimento era freddo, ma io alzavo i miei occhi e guardavo il cielo, e poi ancora il sole, e sentivo il calore infinito della mia povertà.55

Als die Protagonistin mit der Gewalttätigkeit einer Patientin konfrontiert wird, unterdrückt sie den unmittelbaren Affekt der Vergeltung und erkennt in dem Verhalten der anderen einen Akt der Hilflosigkeit. In biblischer Manier verwandelt sie ihren Zorn in eine Geste universeller Vergebung.56 In dem Verhalten des Gegenübers sieht sie die Auswirkungen eines Systems und setzt ein Zeichen, indem sie die Kette der Grausamkeiten durchbricht:

Una volta una ammalata mi appioppò un sonore ceffone. Il mio primo istinto fu quello di renderglielo. Ma poi presi quella vecchia mano e la baciai. La vecchia si mise a piangere. «Tu sei mia figlia», mi disse. E allora capii che cosa aveva significato quel gesto di violenza. Di fatto, non esiste pazzia senza giustificazione e ogni gesto che dalla gente comune e sobria viene considerato pazzo coinvolge il mistero di una inaudita sofferenza che non è stata colta dagli uomini.57

Das Gefühl der Einsamkeit löst sich für sie in dem Moment auf, in dem sie die diversen Einsamkeiten der Mitbetroffenen als ein kollektives Alleinsein wahrnimmt, welches zu einem untrennbaren Band und Bund von Gleichgesinnten wird.58

5 Die Peritexte in L’altra verità

Die Mittel, derer sich Alda Merini in der dichterischen Aufarbeitung ihres Schicksals bedient, um ihre, eine ‹andere› Wahrheit zu erzählen, sind vielgestaltig. Dabei ist das Changieren zwischen faktualen und fiktionalen Elementen ein markanter Aspekt, der Merinis Werk eine flirrende Ungreifbarkeit verleiht. Auch in der Vielfalt von Form und Stil überrascht L’altra verità und offeriert den Lesenden unterschiedlichste literarische Modelle und Rahmungen, die sowohl Fremdtexte als auch eigene Kommentare und Supplemente beinhalten und im Folgenden als Peritexte behandelt werden.59 Diese sind ein äußerst augenfälliges Charakteristikum des Textes und es verwundert, dass diese Auffälligkeit in der Forschung bislang unbeachtet geblieben ist. Bereits der Beginn des Textes, noch vor der Anmerkung zur Neuauflage und einem Vorwort, weist zwei Gedichte auf und auch innerhalb des Werkes flicht Merini mehrmals Lyrikelemente und Fremdtexte ein. Am Ende sind eine Briefsammlung, eine Conclusione und Aggiunte in margine angehängt (die wiederum aus mehreren Teilen bestehen: einer Art Motto in gebundenen Versen, einem mehrseitigen Prosateil und zwei Post scripta). Anschließend folgen abermals ein Gedicht, eine erneute Anmerkung zur Neuauflage von 1997 und schlussendlich nochmals drei Gedichte.

5.1 Die Einflechtung von Lyrik

Die auffälligste Abteilung der Peritexte stellen zweifelsohne die Gedichte dar.60 Die zwei Gedichte ganz zu Beginn (noch vor den Vorworten und Anmerkungen) bilden mit den drei am Ende des Werks stehenden einen Rahmen um den Text. Fünf weitere sind in den Prosatext verwoben, wobei sich die Frequenz der Gedichteinfügungen im Verlauf des Textes erhöht. Dies könnte darauf hinweisen, dass Merini sich als Poetin positionieren will, was inhaltlich damit korrespondieren würde, dass sie ihre dichterische Stimme, den «canto»61 ), wiederzuerlangen sucht, worin sie maßgeblich von einem ihrer Ärzte unterstützt wird:

Un giorno, senza che io gli avessi detto mai nulla del mio scrivere, mi aperse il suo studio e mi fece una sorpresa. «Vedi» disse, «quella cosa là? È una macchina da scrivere. È per te per quando avrai voglia di dire le cose tue.» Io rimasi imbarazzata e confusa. Quando avevo scritto il mio nome e chi ero, lo guardai sbalordita. Ma lui, con fare molto paterno, incalzò: «Vai, vai, scrivi». Allora mi misi silenziosamente alla scrivania e cominciai: „Rivedo le tue lettere d’amore…“ Il Dottore G. si avvicinò a me e dolcemente mi sussurrò in un orecchio: «Questa poesia è vecchia. Ne voglio delle nuove». E gradatamente, giorno per giorno, ricominciarono a fiorirmi i versi nella memoria, finché ripresi in pieno la mia attività poetica.62

Diesem Arzt, dessen Name stets mit «dottor G.» abgekürzt wird, kommt im Hinblick auf die Gedichte eine entscheidende Funktion zu. In Merinis Nachwort zur erweiterten Ausgabe von 1997 (Per l’edizione 1997)63 , in dem dessen Name Enzo Gabrici ein einziges Mal ausgeschrieben wird, nennt sie ihn als unmittelbaren, dokumentarischen Referenzpunkt. Er war es, der sie wieder zum Schreiben bewegte und darüber hinaus, so die paratextuelle Behauptung Merinis, die damals in der Anstalt unter seiner Obhut entstandenen Gedichte aufbewahrte.64 Es würde sich bei einigen Gedichten also angeblich um originale schriftliche Zeugnisse der Dichterin aus der Anstaltszeit handeln – den einzigen dokumentierenden Fundstücken in diesem Diario, die als ursprüngliches Material in den rückwirkend stattgefundenen Schreibprozess integriert wurden.65

Im Rahmen dieses Aufsatzes kann lediglich eine exemplarische Auswahl von Gedichten einer näheren Betrachtung unterzogen werden, was insofern möglich ist, als sich der Gedichtkomplex nicht als ein untrennbares Ganzes präsentiert, das einer erkennbar poetischen Linie folgt. Die ersten beiden unbetitelten Gedichte auf Seite 5 und 6 bilden so etwas wie einen Prolog:

Rimuovo
Le antiche muraglie
per trovare
le praterie del sogno
e incontrare te,
pane incontaminato
che prendo con le labbra.
Sentire la tua lingua di bosco
e l’ansia salina del tuo respiro,
il cuore che si ferm
è il battito delle ali di un’anima
che forse se ne va
per morire d’amore.

È inutile che io grida
che a volte io stringo una mano
che non conosco
ed è il fantasma bruno
dell’antica memoria.
Io non dormo mai sola.
Scende dalle propaggini del Signore
l’uomo che ho amato un giorno
e che mi vuole sposare.
Non è né un principe né un depredato,
è soltanto l’idea celeste
di un’entità sconosciuta
che ho chiamato
Dio.

Der allererste Vers besteht aus einem einzigen Wort, das zugleich das erste Wort des gesamten Textes ist: «Rimuovo». Die Stimme spricht als ein Ich – und dies sehr entschieden. Das italienische rimuovere ist im Deutschen zwischen entfernen und niederreißen anzusiedeln – in jedem Fall wird hier etwas vehement in Bewegung gebracht bzw. umgestürzt: Es sind «le antiche muraglie». Seien diese Mauern festgefahrene Konzepte und Ansichten, seien es die Anstaltsmauern oder antike Mauern, die aus grauer Vorzeit unhinterfragt als Festung bestehen – es handelt sich um eine symbolträchtige Wand und mit dem ersten Wort des Textes wird deren Umsturz und ein Aufbegehren proklamiert. «Per trovare te» – das Ich spricht ein ganz bestimmtes Du an. Die nun folgenden Verse künden von der sinnlichen Suche nach einem ursprünglichen Gegenüber («Sentire la tua lingua di bosco e l’ansia salina del tuo respiro») und der erträumten unverdorbenen (Körper-)Landschaft. Doch die lang herbeigesehnte (Liebes-)Erfüllung stellt sich, wenn überhaupt, nur für einen kurzen Moment ein, bevor sie wieder verfliegt – «per morire d’amore.» Aus den Versen dieses Gedichts spricht ein starker Lebens- und Liebesdrang. Merini akzentuiert mit diesen Zeilen, bei aller Melancholie, von der sie gezeichnet sind, einen Kontrapunkt zu sämtlichen Erwartungen, die man an die Lektüre von Schilderungen eines Psychiatriealltags mutmaßlich haben wird. Sie setzt ein Ausrufezeichen gegen die Resignation und für die Hoffnung, welche mit dem ersten Vers des unmittelbar darauffolgenden Gedichts jedoch augenblicklich zerschlagen wird: «È inutile che io grida». Die Lesenden werden unwillkürlich in die Anstaltswelt katapultiert und mit einem verlorenen Subjekt konfrontiert. Auch hier wird das sprechende bzw. schreiende «io» sofort und mehrfach präsent gemacht, welches die Hand ausstreckt, um nach jemandem oder etwas zu greifen und sich festzuhalten. Und auch hier ist es wiederum zunächst ein sehr konkreter Geliebter, der aufgerufen wird, aber sogleich zur ungreifbaren Projektion verschwimmt und sich schließlich als eine überpersönliche, göttliche Instanz offenbart. Eine Instanz, an die man sich halten wollte und zu der man hinaufstieg, um ein Glück zu finden – das es nicht gab. Und hinabsteigend erkennen muss: Gott ist tot!

Die beiden Eingangsgedichte spiegeln eindeutig zwei Stränge des folgenden Geschehens von L’altra verità wider: zum einen den unbedingten Willen an etwas Schönes, Positives, an die Liebe zu glauben («sempre in attesa che qualche cosa di bello si configurasse al mio orizzonte»)66 und sich an die Hoffnung zu klammern, etwas möge herausführen aus dem Grauen, das das erzählende Ich umgibt. Zum anderen die Desillusionierung darüber, dass das, was man suchte, nicht eintreten wird und ein ‹Retter› nicht existiert. Diese Thematik wird sich durch den gesamten Text ziehen: L’altra verità oszilliert fortwährend zwischen den Polen des Erlebens unmenschlicher, entwürdigender Zustände und der Fähigkeit, in scheinbar unspektakulären Dingen und Begebenheiten eine Verheißung zu erkennen und das Glück zu finden. Obwohl das Werk als Ganzes keinen erkennbaren Spannungsbogen der Handlung hat, wird durch diese beiden konträren erzählerischen Linien ein Sog erzeugt, dem man sich kaum entziehen kann.

Es liegt nahe, im Zuge der Lyrikeinflechtungen die Frage aufzuwerfen, ob man es bei Merinis L’altra verità mit einer Art Vita Nova, mit einem Prosimetrum zu tun hat.67 Zwar fällt das quantitative Verhältnis von Lyrik und Prosa in L’altra verità eindeutig zugunsten der Prosa aus. Gleichwohl haben zumindest die ersten beiden Gedichte einen wichtigen Stellenwert für das Handlungsgeschehen und sind an den Prosatext angebunden. Gleiches gilt auch für das dritte Gedicht, das erst vierzig Seiten später68 in den Text eingeflochten wird:

A CIASCUNO HO DA CHIEDERE

A ciascuno ho da chiedere una grazia:
d’essere ferma un’ora
sul quadrante stellato
di un normale orologio di partito
allora la nevrosi è scienza
o sudata opposizione di massa
non esiste la carità dei cristiani
inaudito concetto metaforico
ad ognuno debbo chiedere l’eletto
favore di un ragguardevole saluto
ma perché per via del manicomio?
che accezione infantile
non siamo tutti folli
tutti calati dentro
il mito di Clitennestra
e il destino di Edipo,
non siamo tutti Freudiani?
Già ma la vicina di destra
Freud non lo conosce
e il secolo dei lumi
se ne è andato da un pezzo,
ricoveriamoci dunque
forti di tanto lezzo.

Der Prosa-Abschnitt vor diesem Gedicht stellt innerhalb der Erzählung einen inhaltlichen Lichtblick in Aussicht: Die rigiden Gesetze der Psychiatrien scheinen sich etwas zu lockern («Col tempo cominciarono a darci dei permessi. Qualcuno di noi poteva uscire, tornare a casa propria per un giorno o due»69 ) und aus einem der Heimgänge, die den Insassinnen gewährt werden, resultiert eine Schwangerschaft der Protagonistin, die gleichzeitig eine Aus- bzw. Schonzeit von den Torturen der Anstalt bedeutet:

[E]ro contenta per una cosa: di fatto in gravidanza tutti i miei sintomi scomparivano e tornavo ad essere una persona normale. Furono quindi sospese tutte le terapie e, cessate le mestruazioni, io non avevo più attacchi isterici. Rimasi quindi a casa nove mesi filati, senza dare alcun segno di stanchezza o di decadimento psichico.70

Doch einmal mehr wird die aufkeimende Hoffnung knapp und rigide in einem Satz zerschlagen: «Ma quando generai la mia piccola precipitai nuovamente nel caos e dovetti essere ancora ricoverata e la bambina affidati ad altri.»71 ) Auf diesen erzählerischen Stimmungsumbruch folgt nachsetzend das eben zitierte, mit A ciascuno ho da chiedere betitelte Gedicht, welches unmittelbar in das Geschehen der Erzählung eingebunden ist und als Ausdruck von Wut und dem Hadern mit den gesellschaftspolitischen Umständen gelesen werden kann, gegen die sich das schreibende Subjekt auflehnt: Ein Ich, das von der (Massen)Gesellschaft («sudata opposizione di massa») ausgestoßen wird, in der doch alle mit den gleichen Schwierigkeiten des Lebens zu kämpfen haben («non siamo tutti folli», «tutti calati dentro», «non siamo tutti Freudiani?»). Merini modelliert in diesen Versen die Opposition des isolierten Einzelwesens, das sich einer nicht reflektierenden Menge gegenübersieht, die sich allein über ihre Zugehörigkeit zu einer kollektiven Instanz definiert. Diese erlaubt bzw. fordert es sogar ein, sein Denken in die Hände des unhinterfragten Kollektivs zu legen, dessen Ressentiments als Maßstab gelten, um werten und urteilen zu können, den Einzelnen zu entmündigen und ihn seiner Entscheidungsfreiheit zu berauben. Wer ist diese Instanz?, fragt Merini. Eine Instanz, die ihr «concetto metaforico» je nach Bedarf und Belieben in die jeweils passend erscheinenden Gewänder kleidet, die sich bspw. «carità dei cristiani» oder ‹Freudsche Theorien› nennen. Wer darf sich anmaßen, zu entscheiden, dass ich ‹anders› bin, wer darf mich disqualifizieren und in die Lage bringen, dass ich um das, was für ‹Normale› normal ist, bitten muss?

Das Anders-Sein wird für das lyrische Ich umso schmerzlicher, als es erkennt, dass im Grunde jede und jeder in seiner Weise ‹anders› ist, man sich also eigentlich in einer (Ahnen)Reihe von Schicksalsgenossen wiederfinden könnte («tutti calati dentro il mito di Clitennestra e il destino di Edipo»). Doch Andersartigkeit hat in dieser Gesellschaft keinen Platz, wird nicht als Wert, sondern als Makel angesehen, was zur Konsequenz hat, dass man sich entweder konform gibt oder ausgegrenzt wird. Merini stellt in diesem Gedicht die Kategorisierungen von Verrücktheit und Normalität gegeneinander, um sie dann zusammenzuführen. Das Verrückt-Sein wird auch graphisch nachvollzogen, indem der Vers «non siamo tutti folli» eingerückt steht. Dieser Vers markiert zudem eine Brücke: Die Stimme der Einzelnen (welche hier ganz klar eine weibliche ist) spricht zunächst nur aus der eigenen Perspektive, bezieht aber in der zweiten Hälfte des Gedichts (die wiederum eingerückt ist) die anderen mit ein, als deren Teil sie sich empfindet und die sie in der 1. Person Plural anspricht. Diese Anrede gipfelt in der fast schon sarkastischen Aufforderung: Liefern wir uns also alle ein! A ciascuno devo chiedere stellt eine Schlüsselstelle des Werkes dar: Das Gedicht ist die erste lyrische Setzung innerhalb des Prosatextes, die Merini vornimmt, und fungiert zudem als Schnittstelle zwischen symbolträchtiger abstrakter Poesie und faktualer Schilderung einer real verankerten Situation, die trotz ihrer Abgründigkeit («ma perché per via del manicomio?») in die Akzeptanz des gegebenen Schicksals mündet. Im Anschluss an das Gedicht konstatiert die Erzählerin: «Eravamo così giunti all’accettazione del nostro genere di vita.»72 Daraus resultiert als absurde Konsequenz die Engführung von Ausweglosigkeit aus diesseitigen Qualen und himmlischer Gnade:

Forse gli psichiatri ci avevano messo, senza volerlo, in diretto contatto con la divina provvidenza perché avevamo imparato a considerare tutto ciò che ci veniva dato come un dono del cielo, elettroshock compresi. E così, pregando e andando avanti come i montoni, ci facevamo strada in una strada che non era percorribile e che ovviamente non aveva sbocchi.73

Das Gedicht A ciascuno ho da chiedere hat auch eine rhetorisch-vermittelnde Funktion: Durch den Einbezug von Lyrik, die akute sozialpolitische Missstände und damit Zeitgeschichte aufgreift, tritt die Dichterin Alda Merini als Mittlerin zwischen zwei Welten auf: jener des psychiatrischen Anstaltswesens und jener der ‹Außenwelt›, aus welcher sie und ihre Mitinsassinnen gewissermaßen verbannt werden.

In die Serie von Peritexten am Ende von L’altra verità hinein ist ein einzelnes Gedicht gestellt, das schon aufgrund seines Titels aufmerken lässt: Il testimone.74 Bereits dieser Titel lässt anklingen, dass man es an dieser Stelle mit einem (dokumentarischen) Zeugnis oder einem Zeugen bzw. einer Zeugin zu tun hat. Es ist das einzige Gedicht, das datiert ist: Dicembre 1991. Die geschilderten Ereignisse in der Psychiatrie Paolo Pini liegen zeitlich rund zwanzig Jahre zurück. Auch die Publikation der Erstausgabe von L’altra verità ist zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Jahre her, es handelt sich also um einen Text, der in doppelter Hinsicht zurückblickt und kommentiert.

IL TESTIMONE

Io sono il tuo testimone
sono cieco come Omero
ma ho mille occhi come Argo
anche se mi siedo su di un piedistallo
e sono nudo di silenziosa virtù
ti ascolto e so che tu fremi
perché sai che io ho veduto
e tu hai avuto la tentazione
di togliermi l’unico occhio che avevo
e lo hai quasi fatto
poi hai sentito il bisogno di colpirmi alle gambe
e non ho più ballato
mi hai messo le scarpe ai piedi
quando fuggivo nuda tra i prati
hai anche piantonato la mia povera mente
ma rimango comunque il tuo testimone
hai afflitto i miei amori con mille soste
mi hai tagliato le foglie
e persino il ventre fonte di ogni desiderio e piacere
mi hai fatto deridere da uno storpio
cantare da una musa stonata
affliggere da misere presenze di mercato
ma io rimango il tuo testimone
sono un testimone ad alto alato
che vola oltre la tua possibilità di mescita
e di fatto tu mesci vino amaro
ma sono sempre il tuo testimone
tu sei il male in persona
ma chissà perché
sei anche il mio privato endecasillabo
io sono il tuo testimone
e tu sei il mio cuore.

Das lyrische Ich ist in diesem Fall anfangs nicht durch die weibliche Endungsform markiert («sono cieco», «sono nudo») und spricht daher ganz klar auch aus einer überpersönlichen Stellvertreterfunktion heraus. Im weiteren Verlauf kristallisiert sich jedoch eine weibliche Stimme heraus («nuda»). Dieses Ich positioniert sich mit dem Titel und dem ersten Vers unmissverständlich als Zeuge eines Geschehens: «Io sono il tuo testimone». Diese Aussage wird insistierend insgesamt vier Mal wiederholt.

Wer ist in diesem Gedicht das angesprochene Du? Eine mögliche Interpretation wäre, dass es sich bei dem Gegenüber um das personifizierte Anstaltswesen, das manicomio handelt. Ein manicomio, gegen das man sich widersetzt und einen Kampf aufgenommen hat, aus dem man siegreich hervorgeht. Wird diese Lesart weitergedacht, dann zieht Merini Bilanz und zählt auf, was ihr der Widersacher, die Anstalt, angetan hat: «tu hai avuto la tentazione / di togliermi l’unico occhio che avevo / e lo hai quasi fatto / poi hai sentito il bisogno di colpirmi alle gambe / e non ho più ballato / mi hai messo le scarpe ai piedi / quando fuggivo nuda tra i prati / hai anche piantonato la mia povera mente». Das Ich greift jedoch zu einem entwaffnenden Mittel, indem es Zeugnis ablegt («ma rimango comunque il tuo testimone»), schildert, berichtet und die Dinge benennt. Die (zurück)schlagende Waffe ist die (poetische) Sprache, welche die Anstalt der Dichterin zu nehmen versuchte («mi hai tagliato le foglie» – das physische Blattwerk, das welkt, wie auch das zu beschreibende Blätterwerk), zu der sie aber zurückfindet und so, dichtend, überwindet, was ihr widerfahren ist («sono un testimone alto alato / che vola oltre la tua possibilità di mescita»).

Eine Wendung vollzieht sich am Ende des Gedichts, indem die Schrecken der Anstalt («il male in persona») auf welche wundersame Weise auch immer («chissà perché») zur Dichtung führen und letztlich sogar zu eben dieser werden («sei anche il mio privato endecasillabo»). Das Schicksal kann somit transformiert und schließlich angenommen werden («e tu sei anche il mio cuore»). Die Autorin wendet sich so zugleich metareflexiv an ihr eigenes Schreiben, das sich aus der Anstaltshölle befreite und diese letztlich zu überwinden vermag.

Zusammenfassend lässt sich in der Betrachtung des Gesamtkomplexes der lyrischen Elemente sagen, dass auch innerhalb der Gedichte eine Modellpluralität anzutreffen ist: Die Gedichte haben eine rhetorische Funktion und stehen dabei in einer literarischen Tradition, die der Autorin natürlich bewusst ist. Man begegnet daneben aber auch Gedichten (insbesondere gilt dies für die drei nachgestellten Schlussgedichte), die scheinbar zweckfrei für sich stehen und schlichtweg die Funktion haben, die Darstellung der Handlung und Merinis Positionierung als Lyrikerin zu intensivieren. Die Lyrikelemente spiegeln im Kleinen wider, was für den gesamten Text gilt: Eine eindeutige Absicht oder Lesbarkeit verweigert die Autorin. Die einzige Absicht, die man ihr unterstellen kann, ist jene, sich ganz bewusst einer Einordnung oder ‹Schubladisierung› entziehen zu wollen und damit klarzumachen: Die ultimative Wahrheit, auch bezüglich einer Lesart des Textes, gibt es bei mir und mit mir nicht. Meine Wahrheit ist ‹anders›.

5.2 Dokumentarische Zeugnisse

Bereits auf der vierten Seite der Erzählung zitiert Merini ein Werk, auf das sie, wie sie schreibt, jüngst in einer Buchhandlung gestoßen sei: die Geschichte der Adalgisa Conti,75 in der sie Analogien zu ihrem eigenen Schicksal erkennt und die sie als beispielhaft für die Zustände in den psychiatrischen Anstalten erachtet: «Recentemente ho trovato in una libreria il libro dell’Adalgisa Conti, fatta ricoverare in circostanze analoghe alle mie, dove sta scritto un passo che qui voglio riportare e che mi pare molto indicativo ai fini dei delitti perpetrati nei manicomi.»76

Der ‹Fall› Adalgisa Conti ist ein (negatives) Paradebeispiel für die unhaltbaren Bedingungen des italienischen Psychiatriewesens jener Zeit. Im Zuge der Reformbestrebungen, die in den 1970er-Jahren virulent werden, wird ihr Schicksal publik gemacht und (nicht nur) in Italien einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Causa Conti ist insofern besonders drastisch, als die Patientin fast siebzig Jahre in der Anstalt zubrachte.77 Ihr Fall gilt als exemplarisch für das Ausmaß der «institutionellen Regression» von Patient:innen in den italienischen Anstalten des 20. Jahrhunderts und macht deutlich, dass sich während dieser siebzig Jahre andauernden Internierungszeit nicht viel veränderte. Die Rehistorisierung («verifica») von Krankengeschichten zu Lebensgeschichten wurde zu einem zentralen Konzept von Franco Basaglias Demokratischer Psychiatrie.78 Der überschaubare Umfang der von Merini zitierten Passage aus Contis Bericht erlaubt es, sie an dieser Stelle zur Gänze wiederzugeben:

Vi si legge: D’altronde l’internamento rappresenta già di per sé una violenza enorme per la donna che, identificandosi come persona nel ruolo coperto in famiglia, sottratta a questo perde ogni punto di riferimento e ogni possibilità di essere e di riconoscersi come individuo. Il ruolo di Casalinga-moglie-madre è il solo ruolo possibile per la donna ipotizzato come naturale, come l’essenza stessa del vivere femminile. È necessario quindi perché la donna possa ricoprire questo ruolo il rapporto con quell’uomo che scegliendola le ha consentito di realizzarsi. Se non si rivela capace di rispondere alle sue aspettative, la vittima non è lei, che è anzi colpevole di inadeguatezza, ma il marito che ha socialmente riconosciuto il diritto di rifiutarla o di sostituirla. Esso condanna la donna alla perdita di ogni suo spazio privato e ad una vita collettiva, a violazioni continue di quella riservatezza e di quel pudore cui come „matta“ ha più alcun diritto e che pur tuttavia le vengono continuamente indicati come elementi indispensabili della sua normalità. La vita del manicomio faciliterà la degradazione del suo corpo, divenuto strumento di una esistenza puramente vegetativa e oggetto offerto alla manipolazione e allo sfruttamento che la istituzione ne farà, impegnandolo in attività servili e degradanti.79

Auch in L’altra verità taucht das Motiv der (sozialen) Vergewaltigung und Repression der Frau immer wieder auf.80 Am deutlichsten gleich zu Beginn des Werkes: «Ma allora le leggi erano precise e stava di fatto che ancora nel 1965 la donna era soggetta all’uomo e che l’uomo poteva prendere delle decisioni per ciò che riguardava il suo avvenire.»81 In den Anschuldigungen gegen ihren Ehemann, der zweifelsohne entscheidend mitverantwortlich für Merinis Anstaltsodyssee war, bleibt die Autorin zunächst relativ zurückhaltend und äußert sich nur knapp. Gleich auf der ersten Seite des Haupttextes ist von seinem Unverständnis ihr gegenüber zu lesen, wobei sie ihren Ehemann gleichwohl in Schutz nimmt und ihm keine böse Absicht unterstellt:

Provai a parlare di queste cose a mio marito, ma lui non fece cenno di comprenderle e così il mio esaurimento si aggravò, e morendo mia madre […] le cose andarono di male in peggio tanto che un giorno, esasperata dall’immenso lavoro e dalla continua povertà […] diedi in escandescenze e mio marito non trovò di meglio che chiamare un’ambulanza, non prevedendo certo che mi avrebbero portata in manicomio.82

Merini verurteilt den Ehemann nicht. Stattdessen montiert sie unmittelbar an die Schilderung ihrer häuslichen Situation das autobiographische Zeugnis der Adalgisa Conti und teilt sich damit gewissermaßen ‹über Bande› mit. Eine Funktion der Einbeziehung dieses Fremdtextes besteht für Merini also auch in der Möglichkeit, stellvertretend mit den Worten einer anderen zu sprechen, sich eine ‹verbale Maske aufzusetzen› und bestimmte Dinge indirekt zu formulieren, ohne dabei persönlich anzuklagen. Im Verlauf der Erzählung wird sie in Bezug auf ihren ersten Ehemann entschiedener Position beziehen. Unmissverständlich kritisch und tief enttäuscht äußert sie sich, als es um die Fürsorge ihrer Neugeborenen geht (höchstwahrscheinlich wurde sie während einer ihrer kurzen Aufenthalte zu Hause schwanger):

Ma qualcosa di ancora più grave mi aspettava a casa. Col tempo mio marito aveva perso ogni affetto per me e quando gli feci vedere la bimba non la guardò neppure. Io ero così stremata, avevo tanto bisogno di lui: dovevo accudire la bimba che piangeva in continuazione. Un giorno mi disse: ‹Senti. Tu non stai bene. E, d’altra parte, mi sei venuta a noia. La bimba non so veramente di chi sia. Quindi, portala al brefotrofio›.83

Das aus ihrer Sicht nicht hinnehmbare Verhalten ihres Mannes benennt Merini (auch als persönliches Eingeständnis) zunehmend klarer: «Ciò che mi riusciva incomprensibile è come fossi capitata in quel luogo, e che odio mai avesse potuto ispirare mio marito a chiudermi in una casa di cura.»84 Schließlich stellt sich nur noch Enttäuschung ein und Ernüchterung darüber, dass sie den Partner in seiner Loyalität überschätzt hat: «Mio marito non veniva mai a trovarmi. Ogni giorno mi appostavo davanti all’ingresso e mi accoccolavo per terra, proprio come una geisha, e aspettavo per ore che lui si facesse vivo. Poi, vinta dalla stanchezza, e con le lacrime agli occhi, tornavo nel mio reparto.»85 . Gleichwohl ist sie in der Lage, das Verhalten des ersten Ehemanns und ihr persönliches Schicksal in einem übergeordneten Kontext zu sehen: Sie erkennt darin auch ein Symptom des Irrsinns, an dem nicht sie, sondern die Gesellschaft krankt, welche sich bei jeder Attestierung von Andersartigkeit wieder und wieder in ihrem vermeintlichen Recht und ihrer Macht bestätigt:

Dicono che a ricoverarmi sia stato mio marito ma in effetti è stato un abbandono famigliare e anche sociale. Era facile far sparire i documenti o almeno alleggerire il peso di una coscienza forse priva di coscienza stessa. Ma i medici che continuano ad odiarti e a capovolgere la tua situazione non sono da meno. Rifanno ciò che hanno fatto gli altri secondo un criterio malfidente e malsano che hanno imparato dai parenti stessi.86

Wer einmal in die Mühlen der psychiatrischen Anstalt gerät, entkommt ihnen kaum mehr – das wird sowohl bei Merini als auch bei Conti deutlich. Sobald jemand interniert wird, haftet ihm ein Makel, der Stempel der sozialen Inkompatibilität an, was ihn die Gesellschaft und auch die nächsten Bezugspersonen spüren lassen. Mit der in L’altra verità eingebauten Textpassage aus dem Werk von Adalgisa Conti prangert Alda Merini nicht nur das Anstaltswesen an, es ist eine umfassende Kritik an der Gesellschaft und den grundsätzlich fehlgeleiteten Machtstrukturen.

Geschichten wie jene der Adalgisa sind paradigmatisch, weil sie glasklar zeigen, daß die psychiatrische Heilanstalt nicht nur ein Ort ist, an dem niemand geheilt wird, sondern auch ein Ort, an dem die Personen unerbittlich von einem Apparat erdrückt werden, der sie in die stereotype und von vornherein festgelegte Kategorie der Geisteskranken preßt.87

Neben dem Zeugnis von Adalgisa Conti zieht Merini an späterer Stelle eine weitere Zeugenaussage heran: «Testimonianza della signora B. di Milano, degente al Paolo Pini di Affori, ora in stato di stupore…»88 – eine Betroffene, die in dieselbe Anstalt, in der auch Merini interniert war, eingewiesen wurde und deren Fall offensichtlich später vor Gericht kam. Die Testimonianza della signora B. di Milano beginnt mit den Worten:

Venni ricoverata in seguito a una febbre dovuta a tubercolosi intestinale. Soffrivo moltissimo e di notte ebbi una visione di tipo religioso (io sono terziaria laica). Chiesi a Dio di soffrire moltissimo per suo amore. E iniziò la mia odissea: non l’avessi mai chiesto! Venni quindi ricoverata in manicomio dove cominciarono a propinarmi punture e pillole dall’effetto violentissimo, per togliermi il cosiddetto «delirio» religioso (Questo lo posso testimoniare anche io. Le punture in oggetto erano a base di Largatil, di Serenase, farmaci che producono effetti tremendi in quanto paralizzano i plessi nervosi centrali).89

In die Aussage der Signora B. klinkt sich Alda Merini mehrfach ein und stellt sich der Angeklagten als ‹Mitzeugin› rückwirkend an die Seite, indem sie ihre Darlegungen kommentiert. Sie tut dies dezidiert mit ihrem Namen, was insofern besonders bemerkenswert ist, als Merini in L’altra verità ansonsten äußerst sparsam mit der Nennung ihres Namens ist.

Ho captato una frase, in manicomio, che diceva testualmente «in manicomio ai malati di mente si può fare qualsiasi cosa…». Comunque, ridotta in quello stato, fuori non potevo più stare. (Anche io, Alda Merini, dopo una cura violentissima di Serenase, quando fui dimessa ebbi un collasso e fui di nuovo ricoverata per disintossicarmi.)90

Merini wurde, wie sie schreibt, in einem Radiobeitrag dazu aufgefordert, zu dem Fall der Signora B. Stellung zu nehmen, welche wiederum darum bat, nicht namentlich genannt zu werden, da sie unliebsame Konsequenzen fürchtete. («La signora mi ha vivamente pregato di portare a Radio A., dove appunto ieri ho parlato di queste cose, questa confessione, pregandomi di non fare il suo nome, dalla quale cosa ho capito che la signora in questione è semplicemente terrorizzata.»91 ) Merini steht also mit ihrer Person und ihrem Namen für die Wahrhaftigkeit des Berichteten ein, welches sie aus eigener Erfahrung heraus bezeugen kann. Die Schilderungen der Signora B. gleichen erschreckend exakt jenen von Alda Merini – beide Fälle scheinen wechselseitig füreinander einzustehen.

Zusammenfassend lässt sich, in Bezug auf die Einflechtung der beiden Fremdtexte festhalten, dass diese zum einen die Funktion haben, in die Erzählung eine (wenngleich höchst persönliche) Außenperspektive hineinzubringen. Diese reflektierenden, bezeugenden Stellungnahmen sind von Merini mit einer Metaperspektive auf das eigene Werk wohlüberlegt platziert. Deren Schilderungen haben stets die Intention, an ein überpersönliches Anliegen angebunden zu sein, wobei die Zeugenaussagen den Fall Merinis verifizieren und unterfüttern. L’altra verità steckt in der Rezipientenwahrnehmung gerade auch durch die Einbindung solcher Fremdtexte nie in der Ebene einer rein persönlichen Misere fest. Das Hinzuziehen anderer Stimmen, welche öffentlich gemacht wurden, trägt wesentlich dazu bei, dass die in L’altra verità berichteten Erlebnisse nicht nur als die Berichte einer psychisch labilen Dichterin wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite steht Merini wiederum mit ihrem Namen und ihrem Schicksal für das Schicksal vieler Frauen ein, denen Ähnliches widerfahren ist. Die Aussagen aller Frauen changieren zwischen der vehementen Anklage des Systems und einer irrigen Selbstanklage, die eben jenes System ganz bewusst als Machtinstrument herbeizuführen weiß: Es konstatiert eine nicht tolerierbare Andersartigkeit und brandmarkt die ausgemachten Fälle mit einem gesellschaftsschädigenden Makel, indem das Abweichen von einer vorgesehenen Norm diagnostiziert wird.

5.3 Lettere a Pierre

Die Lettere a Pierre bilden einen eigenen, autonomen Block am Ende des Werks. Der Beziehung zwischen der Protagonistin und dem ebenfalls in der Anstalt Paolo Pini internierten Pierre kommt innerhalb der Erzählung ein bedeutender Stellenwert zu. Zunächst sei diesbezüglich eine kurze inhaltliche Standortbestimmung vorgenommen: Zwischen einem Kranken namens Pierre (von dem die Leser außer seiner behutsamen, zärtlichen Art und seinem sanften Wesen nicht viel erfahren) und der Erzählerin bahnt sich eine innige Liebesbeziehung an. Ihre Treffen finden im Geheimen statt, da Begegnungen zwischen Frauen und Männern, die auf strikt getrennten Stationen behandelt werden, mit wenigen Ausnahmen untersagt sind. Aus dieser Verbindung resultiert angeblich eine Schwangerschaft – wobei aufgrund von Merinis Angaben zu vermuten ist, dass die Zeugung des Kindes während einer ihrer wenigen kurzen Heimgänge passierte. Die Beziehung zu Pierre nimmt ein jähes Ende, als dieser in ein Krankenhaus für chronisch Kranke verlegt wird. Ob der Grund dafür in der Aufdeckung der Liaison liegt, bleibt offen.

Die kurze Briefsammlung Lettere a Pierre folgt auf den erzählerischen Teil von L’altra verità und ist datiert mit «Dal Paolo Pini di Affori, anno 1965». Es ist das einzige Textzeugnis dieses Werks, welches sowohl den Entstehungsort als auch eine Datumsangabe aufweist und das zudem an einen konkreten Adressaten gerichtet ist. Die Briefe an Pierre werden somit von der Autorin als originales, schriftliches Zeugnis aus den Anstaltsjahren vorgestellt. Weitere Angaben werden den Lesern nicht gegeben, die Lettere werden kommentarlos an den Haupttext angehängt und stellen einen separaten Teil des Gesamtwerks dar, der in der Forschungsliteratur bislang nie besprochen wurde.

Merini bedient sich in dieser Briefsammlung exzessiv des Stilmittels der Apostrophe. Ihre Worte richten sich nicht an eine potenzielle Leserschaft des Tagebuchs, sondern werden zu einer Invokation des Geliebten (vgl. bspw. «Amore mio, vorrei che tu venissi a vedermi stasera qui»92 , «Oh, se ti avessi qui vicino, contro il mio grembo!»93 , «O Pierre, basterebbe poco a morire»94 , «Oh, sì, Pierre, proprio qui dentro, credimi, è venuto il momento di amarci.»95 ) Es handelt sich um sieben Briefe, die ohne Antwortschreiben für sich stehen. Auffällig deutlich werden darin, besonders in den ersten beiden Schreiben, christlich-religiöse Motive evoziert. Auch die Zahl 7 – die Anzahl der Briefe – spielt in der christlichen Religion eine bedeutende Rolle: Es gibt sieben Hauptsünden, die Erschaffung der Welt erfolgte in sieben Tagen – den letzten, den siebten Tag, segnete Gott als den heiligen Tag, in der Bibel treten sieben Erzengel auf, zahlreiche biblische Familien haben sieben Söhne und das erste Buch Mose spricht davon, dass je sieben Paare aller Tiere mit in die Arche genommen wurden. Im Evangelium nach Matthäus, Kap. 18 ist zu lesen: «Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.»96 Jesus spricht zu Petrus – Pierre – dem ‹Fels in der Brandung›, auf dem er seine Kirche erbauen will und dem er die ‹Schlüssel zum Himmel› übergeben haben soll. Der Name Petrus (bzw. Pierre oder Pietro) zieht sich durch das Gesamtwerk Alda Merinis. Ihr letzter Gedichtband (bevor sie zwanzig Jahre lang, bedingt durch die Aufenthalte in verschiedenen Psychiatrien, schweigen würde) trägt den Titel: Tu sei Pietro97 . Darüber hinaus könnte man mutmaßen, dass die Modifikation von Pietro in Pierre eine Referenz an ihren zweiten Ehemann Michele Pierri ist – der sie wesentlich bei der Verfertigung von L’altra verità unterstützte und ihr grundsätzlich eine große Stütze im Leben war – ein ‹Fels in der Brandung›.98 Diesem Fels, Pierre, wird gleich im ersten Brief gehuldigt: «E tu mi terresti come un uccellino piccolo piccolo, e saresti il mio buon carceriere.» Die Liebe zu Pierre verleiht ihr Flügel und erdet sie gleichwohl.

In der kurzen Briefsammlung werden sieben Etappen, sieben Stufen ihrer Liebesbeziehung rekapituliert, die dabei besonders zu Anfang hochgradig (religiös) symbolisch aufgeladen sind. Der erste Brief zeugt vom momentanen Hochgefühl der Liebe: Die Schreibende sehnt den Geliebten (der sich im Schreibmoment auf einer anderen Krankenstation befindet) an ihre Seite – in aller Unschuld, im unbefleckten Bett («nel mio lettino tutto bianco»99 ). Es wird deutlich, dass sie ihm täglich schreibt («Non mi hai ancora mandato un biglietto, ma io ogni sera ti scrivo lunghissime lettere Pierre, e su quelle lettere piango […] piango di gioia e piango di amore perché io e te siamo due esseri felici nella nostra nudità: siamo come Adamo ed Eva.»)100 Diese Aussage steht im Widerspruch zu der Artifizialität, die diese Briefe doch auch aufweisen. Die sieben Epistel machen in der Tat nicht den Anschein, eine Auswahl aus einer Sammlung täglich geschriebener Briefe zu sein, sondern folgen (im Gegensatz zur Erzählung) einem klaren dramaturgischen Bogen, den der Leser nachvollziehen kann. Merini erwähnt im ersten Brief zudem den Rosenstrauß, den ihr Pierre am vorigen Tag gebracht hat («Sto pensando alle rose rosse che mi hai dato ieri»101 ). Es wird somit eine im Haupttext bereits erzählte Begebenheit wieder aufgenommen, bekräftigt und zeitlich präzisiert. Ihre Liebe vergleicht sie mit jener der Tauben («Hai mai pensato che ci si possa amare come le colombe? Io sì.»102 ) – in der Antike Sinnbild für Sanftmut, Einfalt und Unschuld, in der christlichen Religion vor allem Symbol des Heiligen Geistes. Wie schon in der Erzählung wird die Liebe zu Pierre als eine geistig-seelische geschildert.103 Im zweiten Brief berichtet Merini von der Schwangerschaft, die ihr soeben bestätigt wurde:

[H]o saputo della mia, della nostra bambina. Che cosa meravigliosa. Meravigliosa. […] Mentre tutto si ostinava a negarci la vita, io e te soli, inconosciuti ed offesi, abbiamo fatto un figlio. O Pierre, quel grembo che tu guardavi con tanta meraviglia, l’hai forse gittato nel miracolo? Improvvisamente a me è apparsa l’annunciazione. E tu eri l’Angelo e io Maria e nostro figlio, Pierre, sarà il Cristo, ma se nasce da noi, verrà al mondo già coperto di spine.104

Eindeutiger könnte die biblische Bezugnahme wohl kaum ausfallen. Die Verfasserin des Briefes spricht von der «annunciazione», der Verkündigung des Kindes, die sie mehrfach als Wunder bezeichnet («meravigliosa», «meraviglia», «miracolo»). Das Kind wird ein Mädchen («bambina») sein – eine Tatsache, die sie im Moment des Schreibens eigentlich noch gar nicht wissen kann. Auch dieses Faktum lässt Zweifel aufkommen, ob diese Briefe wirklich zum behaupteten Zeitpunkt geschrieben wurden, und in Konsequenz den Verdacht, dass diese Unstimmigkeit von Merini möglicherweise beabsichtigt ist. Das ungeborene Mädchen wird in Merinis Worten unmittelbar darauf zum «figlio». Es handelt sich dabei aber keinesfalls einfach um einen Sohn, sondern um den Gottessohn selbst, der einer unbefleckten Empfängnis entsprang. Nicht erst an dieser Stelle wackelt der Faktualitätsgehalt der Beziehung zu Pierre bzw. muss diese (auch) als eine metaphorische Verbindung angesehen werden. Der dritte Brief sorgt beim Leser zunächst für Verwirrung. Merini schreibt von einer «signora Z., che era di guardia, mi guardava con un poco di commiserazione. Era, è l’unica infermiera che ha un po’ di pietà, forse perché è tanto malata.»105 Über eine Frau, die Merini als «la Z.» bezeichnet und der sie in der Erzählung von L’altra verità ein ganzes Kapitel widmet, weiß man durch die Lektüre bereits Einiges: Die junge, psychisch kranke Frau mit eindeutig homosexuellen Neigungen ist auf der gleichen Station wie die Protagonistin interniert, bedrängt diese in höchstem Maße und wird sexuell übergriffig. In diesem dritten Brief schreibt die Dichterin abermals von einer «signora Z.», bei der es sich jedoch offensichtlich um eine andere Frau, nämlich eine 60-jährige Krankenschwester zu handeln scheint:

La signora Z., che era di guardia, mi guardava con un poco di commiserazione. Era, è l’unica infermiera che ha un po’ di pietà, forse perché è tanto malata. Ma spesso si mette a chiacchierare con me e spesso si sfoga. Lei che è tanto più vecchia di me, chiede il mio consiglio e dice (a sessant’anni) che sarebbe disposta ad amare un uomo.106

Es ist zwar durchaus möglich, dass zwei unterschiedliche Frauen, die in dem Diario eine Rolle spielen, die Initiale Z. tragen, dass jedoch beide Frauen von der Autorin als «la Z.» bezeichnet werden, lässt in einem literarischen Text keinesfalls auf einen unbedachten Zufall rückschließen. Die Möglichkeit, dass die Erzählerin damit einen verwirrten Geisteszustand zeigen will, bei dem die klare Wahrnehmung verschwimmt, besteht zwar (und wird an späterer Stelle nochmals aufgegriffen werden), scheint aber als alleiniges Motiv wenig plausibel. Eine andere Hypothese wäre, dass Merini dadurch auf die Austauschbarkeit von (scheinbar) kranken Insassen und (scheinbar) gesundem Pflegepersonal rekurriert bzw. die Frage aufwirft: Wer sind in diesem System die eigentlich Kranken? Dies formulierte sie sehr deutlich in dem bereits besprochenen Gedicht A ciascuno ho da chiedere: «non siamo tutti folli? […] Non siamo tutti Freudiani?»107 . Beide Möglichkeiten – jene des Imitierens von Unzurechnungsfähigkeit und jene der Frage nach der Perspektive hinsichtlich der Kategorien von krank und gesund (die auch eine Frage nach der Berechtigung von Machtpositionen ist) – müssen sich jedoch nicht ausschließen. In jedem Fall gibt auch dieser dritte Brief Hinweise, die die Vermutung untermauern, Merini führe absichtsvoll Lektüremomente der Irritation herbei. Bevor diese These an späterer Stelle weiterverfolgt werden soll, sei hier zunächst noch auf die Briefe vier bis sieben eingegangen, die man unter die Überschrift Klagegesänge stellen könnte.

Inhaltlich wird in jedem der Briefe jeweils ein einschneidendes Ereignis ‹besungen›, das eine Stufe der gemeinsam erklommenen ‹Liebesleiter› markiert, angefangen bei der ersten Verabredung im Park des Anstaltsgeländes, zu dem Pierre Shakespeares Romeo und Julia mitbrachte: «Oh, come erano dolci quelle parole d’amore. […] Ero io la tua Giulietta e tu il mio Romeo. Ma noi non vogliamo morire, vero Pierre? Non vogliamo morire qui dentro, amore mio.»108 Im fünften Brief folgt die abrupte Trennung, als er unerwartet in ein Krankenhaus für chronisch Kranke abtransportiert wird,109 und in Folge dessen der verzweifelte Entschluss, ihn zu suchen und zu finden: «Setaccerò tutta l’Italia. Ti raggiungerò. Non posso arrendermi. […] Verrò. Ti cercherò in capo al mondo.»110 Die nächste Stufe ist der erste Tag ohne die physische Anwesenheit des anderen, was die Klagende in eine tiefe Krise und Zweifel stürzen lässt: «Non ho senso neanche della mia vita. Mi sono svegliata intontita come dopo una lunga sbornia […] Oh, dimmi che tutto ciò non è vero, che il genere umano non è così esecrando come si vede, che c’è in ognuno di noi una parte, sia pur piccola, di buona fede, di bontà.»111 Im letzten Brief wird im Stundentakt berichtet (was keinesfalls mehr als realistisches, sondern als symbolisches Zeitmaß angesehen werden kann). Offenbar kehrte die Protagonistin erfolglos in die Anstalt zurück, ist jedoch (so der Bericht zur «Ore 11») erneut aufgebrochen und sich sicher, dass sie den Geliebten früher oder später finden wird. Die symbolische zwölfte Stunde kündet von einer kurzen Wiedervereinigung: Sie hat ihn in dem abgelegenen Teil eines nicht näher bestimmten Gartens gefunden. Die Begegnung gleicht einem Offenbarungserlebnis, in dem beide einander und alles verstehen. Die Briefreihe endet abermals mit einem unverkennbar christlichen Motiv: in der Erkenntnis, die Mühen auf sich laden zu wollen, um andere zu erlösen: «Un bagliore di fiamma mi ha illuminato le idee: Sì! È ora che anche noi prendiamo la nostra parte di martirio per salvare gli altri.»112

Die Lettere a Pierre bilden eine geschlossene Einheit, in der eine klare lineare Chronologie erkennbar wird – was man vom erzählerischen Hauptteil ganz und gar nicht behaupten kann. Der Ton, den Merini in diesen Briefen anschlägt, ist ein völlig anderer als jener, um nüchterne Präzision bemühte der Erzählung. Ungebremst lässt die Protagonistin ihren Emotionen in den Briefen an den Geliebten freien Lauf: Die Schreibende beklagt, beweint, preist und beschwört das Schicksal im Stil großer griechischer Tragödinnen und tatsächlich könnte diese kurze Briefsammlung als Reminiszenz an Ovids Heroides gelesen werden – welche Merini bekannt gewesen sein dürften.113

Auch wenn die Erzählerinneninstanz bereits im Hauptteil von L’altra verità (mit Ausnahmen) eine intradiegetisch-homodiegetische ist,114 findet mit der Briefsammlung eine Zuspitzung in der Fokalisierung statt: Die Autorin gibt ihre bisherige Rolle als Erzählerin auf und geht zu einer rein subjektiven Gefühlsvermittlung über, denn die Briefsequenzen werden, wenngleich sie sich an einen Adressaten richten, zum inneren Monolog, dem der Leser als Publikum lauscht. Die Tatsache, dass der Leser die Briefe vor Augen hat (gewissermaßen stellvertretend für den Adressaten Pierre, der die Nachrichten kaum erhalten haben kann) zeigt, dass sie angekommen sind. Dies stellt eine Verdoppelung des Kommunikationsangebots der Autorin dar. Die Rezipienten können die vorgebrachten Worte aus einer Position heraus betrachten, in der sie auf Basis des bisher Erzählten sowohl den Vorlauf als auch den Fortgang der Geschichte kennen115 – oder zu kennen glauben: Denn die Ereignisse der Briefe sind keinesfalls deckungsgleich mit dem, was in der erzählten Handlung geschildert wurde. Beispielsweise berichtet Merini in der Erzählung, dass ihr Pierre, nachdem er «deportiert» wurde und sie ihn schließlich ausfindig machen konnte, mit Ablehnung begegnet sei: «Raggiunsi finalmente il suo cronicario, ma quando mi vide, Pierre mi insultò, probabilmente stava male, e mi disse di andare via e che ero stata io l’autrice di quel sacrilegio. Sicché tornai sui miei passi e decisi di scordarmelo.»116 Zu einem Moment der Wiedervereinigung der beiden Liebenden kommt es hier nicht. Im letzten Brief hingegen wird dem Leser eine zuversichtlichere, religiös konnotierte Version offeriert:

Ore 12. Ti ho trovato. Eri in un angolo del giardino, solo e disperato. Quando mi hai visto, ti sei messo a piangere, e abbiamo pianto insieme. […] O Pierre, tra poco andrò via. Dovrò andare via, perché io ho il mio rifugio. Ma ho capito tutto in un’attimo. Un bagliore di fiamma mi hai illuminato le idee: Sì! È ora che anche noi prendiamo la nostra parte di martirio per salvare gli altri.117

Merini bietet den Lesenden einerseits einen Wissensvorsprung – sie kennen die Geschichte um Pierre bereits aus der Erzählung. Anderseits wird ihnen in den Briefen eine abgewandelte Version vorgestellt, die nur in Teilen dem entspricht, was sie zuvor erfahren haben. Es werden also Varianten des Handlungsverlaufs angeboten, die sie annehmen können oder nicht. Die bereits angesprochene Verwirrstrategie, mit der man es in Merinis Werk des Öfteren zu tun zu haben scheint, drückt sich auch darin aus, dass der erzählerische Bezugsrahmen durch die Divergenzen der verschiedenen Versionen in Frage gestellt wird, wodurch eine Neuinterpretation offensteht. Es wird eine Art Schwebezustand erzeugt, indem die Vorgeschichte der Erzählung und die gegenwärtige Situation der Briefe miteinander verknüpft werden, die inhaltliche Kongruenz jedoch aufgelöst wird.

In Merinis Briefen werden bestimmte literaturtheoretische Sachverhalte sichtbar gemacht. Sie (re)interpretiert ihren eigenen Text, indem sie ihn fort- und umschreibt und dabei seine Literarizität offenlegt. In den Briefen erfolgt eine intratextuelle Referenz an die vorhergehende Erzählung: Die Briefe und der Prosateil beleuchten sich wechselseitig. Auch macht Merini das Briefeschreiben selbst zum Thema und reflektiert darin die (Un)Möglichkeiten des Schreibens: «[M]a io ogni sera ti scrivo lunghissime lettere, Pierre, e su quelle lettere piango. […] È possibile, Pierre, scrivere di queste lettere in manicomio?»118

5.4 Zahlreiche Nachworte

Die mannigfachen Nachworte bzw. angehängten Beigaben von L’altra verità sind schon allein aufgrund ihrer Quantität bemerkenswert. Nach den Lettere a Pierre, die sich zwar außerhalb des erzählenden Hauptteils befinden, aber dennoch Teil des Textes sind, folgen: eine halbseitige Conclusione, eine ganze Reihe von vielgestaltigen Aggiunte in margine, das Gedicht Il testimone, eine Anmerkung der Autorin zur Neuausgabe und schließlich noch einmal drei Gedichte (Mia sorella, Canto dell’ombra della luce, La carne e il sospiro). Ein solcher Nachwortapparat ist nicht nur angesichts der relativen Kürze des Gesamttextes (von ca. 150 Seiten) ungewöhnlich. In diesem Unterkapitel soll der Fokus nun auf der Conclusione und den Aggiunte in margine liegen.

Die Conclusione ist der einzige nachgestellte Peritext, der sich bereits in der Erstauflage findet. Sie übernimmt eine Mittlerfunktion zwischen Text und Nachwort(en):

La conclusione di questo Diario non è veritiera né verisimile. Si tratta di una storia che potrebbe essere inventata ed è invece un atto d’amore e di spietate constatazioni dei fatti. Il Diario è un’opera lirica in prosa ma è anche una esegesi, una implorazione e la completa distruzione di ogni filosofia e di ogni atto concettuale. È stato scritto con il linguaggio semplice di chi nel manicomio ha scordato tutto e non vuole né vuole più ricordare. Rimane la velata e struggente nostalgia del manicomio come tempio di una aberrante religione. I fatti sono simbolici – e così i protagonisti, ma l’autrice ancora vive e vorrebbe che questo crimine cadesse dalle carni di chi come lei ha patito e continua a patire il più efferato degli Inferni.119

Mit dem ersten Satz ‹attackiert› Merini offensiv die potenzielle Erwartungshaltung der Leser und stellt provokativ klar: Die ‹andere Wahrheit› ist weder glaubhaft bzw. wahrscheinlich («verisimile») noch wahrheitsgetreu bzw. wahrheitsgemäß («veritiera»)120 – solltet ihr den Text als wahrheitsgemäßes Zeugnis gelesen und verstanden haben, so irrt ihr! Eine solche Aussage ist in einem Nachwort wesentlich besser platziert als in einem Vorwort, denn Merini will die Leser gerade nicht im Voraus auf eine bestimmte Lesart vorbereiten.121 Ihre Taktik ist eine andere: Sie führt den Leser ‹auf’s Glatteis›, um ihm anschließend vorzuführen, dass er sich schnellstmöglich eine Meinung, ein Urteil bilden wollte, um sich in seinem Betrachtungsstandpunkt sicher zu sein. Das Verfahren Merinis ist in mehrfacher Hinsicht bloßstellend: Sie demontiert nicht nur die Erwartungshaltung der Leser, sondern mit ihrer Erzählung ein System, das psychisch Kranke in Schubladen steckt und sich anmaßt, über sie zu richten und zu verfügen. Auch ihren eigenen Standpunkt stellt sie zur Diskussion, indem sie mit dem ersten Satz der Conclusione ihrem eigenen Text den Wahrheitsgehalt abspricht.

Doch Merini geht in der Subtilität ihrer Bloßstellungstaktik noch einen Schritt weiter: Die Bekundung «La conclusione di questo Diario non è veritiera né verisimile» ist ambig, da sie sich genau genommen gar nicht notwendigerweise auf den Text bezieht, sondern auf die Conclusione selbst und die nun folgenden Aussage «Si tratta di una storia che potrebbe essere inventata ed è invece un atto d’amore e di spietate constatazioni dei fatti.» Man hat es also mit einer Geschichte zu tun, die erfunden sein könnte, gleichzeitig aber ein schonungsloses Konstatieren von Fakten ist. Da die Autorin hier im Konditional spricht («potrebbe»), wird der Leser mit multiplen Infragestellungen von Infragestellungen konfrontiert, mit der Konsequenz, dass es geradezu unmöglich wird, zu entscheiden, was man nun glauben kann oder soll. Und genau darin scheint Merinis Intention zu liegen. Unter der Prämisse, dass alles, was sie im Rahmen ihrer Conclusione aussagt, nicht unbedingt glaubhaft sein muss, nimmt die Autorin dezidiert Stellung zur Gattungsfrage von L’altra verità: «Il Diario è un’opera lirica in prosa». Mit dieser Aussage wird nicht nur der Erzählstil verortet, sondern auch der Stellenwert der Gedichte untermauert. Die Absicht der Dichterin, dem Werk eine lyrische Grundkomponente beizugeben bzw. die Lyrikelemente im Rahmen der Neuausgabe zu stärken, erklärt auch die Tatsache, dass sich in dieser wesentlich mehr davon finden als noch in der Erstausgabe. Ihr Diario ist laut Conclusione klar als literarisch-lyrischer Text einzuordnen, was eine symbolische und fiktive Ebene impliziert. Des Weiteren spricht Merini von einer «completa distruzione di ogni filosofia e di ogni atto concettuale» und bestätigt damit die Wahrnehmung der bewussten Dekonstruktion einer eindeutigen Verortung des Werkes. Dies kommt auch in der Verwendung des Adjektivs velata zum Ausdruck, was die Verschleierung bzw. Verschlüsselung des Textinhalts und Textgebäudes impliziert, welche potenziell mit einer Mehrfachkodierung aufgeladen zu sein scheinen (u. a. auch durch Lyrik). Mit dem folgenden Satz zerlegt Merini die Fakten noch weiter: «I fatti sono simbolici – e così i protagonisti» – der fortgeführt wird mit einem eindeutigen Dante-Bezug: «ma l’autrice ancora vive e vorrebbe che questo crimine cadesse dalle carni di chi come lei ha patito e continua a patire il più efferato degli Inferni.» Die Hölle der Anstalt reiht sich damit auch in die Tradition literarischer Höllen ein, die durch den Schreibprozess erzählt und überwunden werden.

Die Aggiunte in margine beginnen mit einem, auch in graphischer Hinsicht bemerkenswerten kurzen Text, einer Art Motto in deutlich kleinerer Schrift:

Come ho già ammesso pubblica-
mente il vero Diario non è mai sta-
to scritto e io sola – la mia anima –
ne è l’unica depositaria. Su questi
terreni sepolti giocano finemente
gli psichiatri per aprire ancora oggi
nuovi alveoli di incessante dolore.
Un grazie a Chiara e Marina, che
sono state le testimoni amorevoli
di questa ultima parte.

A. M.

In wenigen Zeilen vereint diese Aggiunta eine entschiedene Stellungnahme zur (Un)Möglichkeit einer Verortung des Werkes, eine lyrisch anmutende Explikation und eine Danksagung, unterzeichnet mit den Initialen der Autorin. Das Motto präsentiert sich optisch als ein in Versen gebundener Textblock und gleicht einem Gedicht. Auch dieses kurze Statement weist also in sich eine Modellpluralität auf Mikroebene auf. Der erste Satz erinnert in Duktus und Wortwahl einer Zeugenaussage vor Gericht. Hier spricht klar die Stimme der Autorin, die zu ihrem Werk, dem Diario, Stellung bezieht – indem sie ihm abgründigerweise seine wahrhaftige Existenz abspricht. Auch hier ist einmal mehr der Wahrheitsbegriff zentral. Dieser korrespondiert mit dem Begriff testimone, der auch titelgebend für eines der noch folgenden Gedichte sein wird.

Die Achse Wahrheit / Zeugnis, die u. a. für präzise Klarheit der Faktenlage steht, verhält sich dem Anschein nach diametral zur Achse Verschleierung / Symbolik, die vor allem in der Conclusione im Fokus stand, aber auch dieser Aggiunta eingeschrieben ist: Augenscheinlich in ihrer graphischen Form und inhaltlich in dem zynischen Abgesang auf die Psychiatrie in lyrischem Gewand («Su questi / terreni sepolti giocano finemente / gli psichiatri per aprire ancora oggi / nuovi alveoli di incessante dolore»). Beide Achsen werden jedoch zusammengeführt und treffen in dem Begriff testimone aufeinander, denn dieser wird bei Merini immer auch mit der Dichtung selbst verbunden (vgl. das Gedicht Il testimone) und steht dabei für eine Überwindung der faktischen Ausweglosigkeit, indem der Akt der testimonianza den Ausgangspunkt des Auswegs (durch das Schreiben) markiert. Die Sprecherin tritt in diesem Text in der Rolle der Anklägerin auf, die (zu Unrecht?) als psychisch krank verurteilt wurde und ihre Strafe in der Anstalt, die einer Vorhölle gleichkommt, abzusitzen hat. Angeklagt wird nicht nur die Psychiatrie, sondern ein umfassendes gesellschaftliches System, das über diejenigen richtet, die vermeintlich ‹anders› sind (vgl. hierzu bspw. auch die folgende Stelle in der Erzählung: «Ma le vere vittime restiamo pur sempre noi, perché una volta a casa ci sentiremo sempre rinfacciare quella degenza come un fatto giuridico, e non di malattia. Insomma il malato è un gradino più su di colui che è stato in galera.»122 )

Auf diese erste, kurze, als eine Art Motto gestaltete Aggiunta folgt ein neunseitiger, wiederum symbolisch hochgradig aufgeladener Prosatext, in dem noch einmal sämtliche Aspekte des Werks aufgegriffen und einander gegenübergestellt werden: die schonungslose Abrechnung mit einer verbrecherischen Institution und deren unmenschlicher Behandlung ‹Andersartiger› («Cattivi invece sono i medici quando vogliono far scaturire il molto da una grande voragine»123 , «In fondo il cammino all’interno del manicomio non è altro che il cammino nella truffa e nelle cloache dove l’umano sapere diventa infingimento e menzogna»124 ), die persönliche Transformation des Bösen in einen Akt der Liebe mittels schöpferischer Dichtung und dem überpersönlichen Anspruch, damit der Allgemeinheit gedient zu haben. Dieser längere Prosatext beginnt abermals mit einem Paukenschlag, der den Begriff der verità zum Klingen bringt: «Tengo a dire che non è del tutto vero che io in manicomio abbia sofferto pene inverosimili; la solerzia dei medici, l’attenzione degli infermieri e la spazialità stessa della malattia mentale hanno giostrato in me un chiaro rito d’amore.»125 Mit einem Mal werden die Erfahrungen des manicomio nicht nur relativiert, sondern gutgeheißen – was einer 180°-Wendung zu sämtlichen vorherigen Aussagen gleichkommt. Das manicomio wird zu einem Ort der Martyrien, durch den die Dichterin schließlich zu einem allumfassenden Liebesgefühl gelangt. (Der Begriff amore fällt in dieser zweiten Aggiunta dreizehnmal!). Zwar hatte Merini bereits zuvor an mehreren Stellen bekundet, dass es ihr trotz all der unerträglichen Zumutungen gelungen sei, dem Leid etwas Gutes abzugewinnen, aber die Radikalität dieser Aussage überrascht gleichwohl. Doch Merini erklärt: «Il manicomio che ho vissuto fuori e che sto vivendo non è paragonabile a quell’altro supplizio che però lasciava la speranza della parola. Il vero inferno è fuori, qui a contatto degli altri, che ti giudicano, ti criticano e non ti amano.»126 Noch grausamer als das System der Psychiatrie ist für sie die Konfrontation mit einer Gesellschaft, die sie ächtet und bewertet.

Die zweite Aggiunta gleicht einer Predigt, einem canto, in dem die Erzählerstimme den Ort besingt, durch den ihr Leidensweg hin zur Erlösung führt.

È strano come a volte dai nostri segreti doni, dalle nostre disperazioni più profonde nascano dei ponticelli gentili e nasca un Eden privato, colmo di risorse e di mutevoli compagnie. Su questi ponticelli si avventura l’anima disperata che canta un canto liquido e ci si immagina vestiti di un manto rosso.127

Abermals sind Wortwahl und Rhetorik deutlich christlich-religiös konnotiert («vangelo», «rinascita», «colpa benedetta», «purificato», «un Eden», «manto rosso», «miracolo», «verginità», «chiostri», «santi», «estasi sante dell’amore», «vaticini»).128 Merini setzt diesen ‹hohen Ton› sehr bewusst ein und verwendet ihn teils auch als zynische Waffe: «Non si possono educare gli infermi della criminalità umana ad amare coloro che hanno sofferto di una frusta ingiustificata, né possiamo andare di casa in casa a portare il nostro vangelo e a discolparci.»129 Ihre ‹religiösen Anwandlungen› sieht Merini aber auch augenzwinkernd und selbstironisch:

Mi ricordo anche di certe povere donne che si fingevano miracolate e che invece erano solo allucinate o forse erano veramente visitate da qualche cosa di supremo. Sta di fatto che alcune cadevano ad esempio in uno stato di vagante allucinazione e guardavano teneramente in un’unica direzione.130

Dieser Teil der Aggiunte in margine eröffnet zudem einen Blickwinkel der Autorin, der die Sicht auf das Werk um eine neue Komponente bereichert: die Leichtigkeit dieses Textes, die trotz des Ballastes der Erlebnisse immer auch durchscheinen soll: «Il Diario non è solo sereno come scrittura e come stesura di racconto, ma è anche stato scritto in un momento particolarmente sereno (vent’anni dopo).»131

Das Konzept der verità wird in den zahlreichen Nachworten noch einmal zum Dreh- und Angelpunkt des Werks. Doch die Autorin unternimmt alles andere, als sich dahingehend eindeutig zu positionieren und dem Leser ihre Auffassung der verità darzulegen – diese wird hingegen immer wieder gedreht, gewendet und auf den Kopf gestellt.

6 Erzählstrategien der Unzuverlässigkeit

Die Verunsicherung des Lesers und das Obstruieren der Festlegung auf eine bestimmte Lesart des Textes wird in L’altra verità nicht nur durch die vielfachen Rahmungen und Überschreibungen provoziert, sondern auch durch diverse Strategien der Unzuverlässigkeit innerhalb der Erzählung.132 Neben den inhaltlichen Widersprüchlichkeiten (wie den unterschiedlichen Schilderungen der Begebenheiten mit Pierre oder der antagonistischen Bewertung des Arztes Dottor G. sowie des Klinikaufenthalts und der Verweigerung einer linearen erzählerischen Chronologie), trifft man auch auf auffallend divergierende Stilhöhen. Dieses ‹Stil-Gefälle› drückt sich wohl am deutlichsten in der Kontrastierung einer bewusst einfach gehaltenen, ‹ungeformten› Erzählweise und Poesie par excellence in Gestalt der Lyrikeinflechtungen aus, welche Merinis Proklamation entgegenstehen, auf eine ihrer mentalen Verfassung geschuldete schlichte Sprache zurückzugreifen: «È stato scritto in un linguaggio semplice di chi nel manicomio ha scordato tutto e non vuole né vuole più ricordare.»133 Über weite Strecken der Erzählung berichtet die Erzählerin in kurzen, grammatikalisch unkomplizierten Sätzen, was dem geschilderten psychischen und physischen Zustand entspricht (und darin wiederum auch ein gekonntes Stilmittel darstellt):

Ci era proibito tutto; anche di soffrire d’insonnia. E l’insonnia spesso ci visitava, come visita qualsiasi persona su questa terra. Era un’insonnia strana, forse perché non eravamo stanche. Comunque era insonnia, e lì si curava con pesanti elettroshock. Perciò molte notti stavo a guardare il soffitto e non dicevo nulla.134

Doch selbst in diesen nüchternen, fast trockenen Konstatierungen scheint fast unmerklich die Dichterin durch (die nicht einfach unter Schlaflosigkeit leidet, sondern von dieser als Personifizierung aufgesucht wird: «E l’insonnia spesso ci visitava»). Diese unterschwelligen poetischen Anklänge, die oftmals auch in den schlichtesten Sätze durchklingen, erlauben es Merini, elegant nahtlos in ein höheres Register überzugehen, in dem die genaue Beobachtung in bestechenden Vergleichen und einem reichen Vokabular anschaulich dargeboten wird – eine knappe Seite später begegnet man deutlich komplexeren Sätze wie:

Ma lui aveva un fare così untuoso, proprio come il Mangiafuoco di Pinocchio, che a lei non rimaneva che stare ad ascoltare, con gli occhi bassi, fissi sul carrello dei medicinali, e ascoltava delle profferte d’amore che saranno state anche oscene, o che forse volevano essere dolci, ma, dette da labbra così sottili e sarcastiche, non potevano che nascondere la vigliaccheria.135

Häufig begegnet man in L’altra verità Textstellen, bei denen es geradezu unmöglich wird, zu unterscheiden, ob man es mit literarischen Stilmitteln zu tun hat oder (beabsichtigter) stilistischer Ignoranz. So beispielsweise im Falle der Häufung von Satzanfängen mit der Konjunktion ma, die sich durch das gesamte Werk zieht. Exemplarisch sei die folgende Stelle zitiert: «Avrei dato la mia vita per tenermi mia figlia, ma altri me l’aveva impedito. Ma il destino volle che io guarissi. Ma intanto lei è stata adottata e non la vedo ormai da cinque anni.»136 Das Stilmittel der Repetitio ist in solchen Fällen nicht klar ersichtlich. Dass Merini jedoch unbeabsichtigt Wortwiederholungen gebraucht, die in der stilistischen Konvention gemeinhin als unbeholfen und wenig eloquent gelten, ist kaum anzunehmen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Autorin in voller Absicht einen ‹uneleganten› Stil imitiert, um sich einmal mehr einer Etikettierung zu entziehen, die in diesem Fall hieße: Die Dichterin steht über den Dingen und hat sowohl die Erzählung als auch die Erlebnisse ‹im Griff› und weiß diese in eine vollendete Form zu kleiden. Auch in diesem teilweise irritierenden Sprachgebrauch könnte man also ein Zurücktreten der Autorin von dem Anspruch, die eine, sich für die Lesenden manifestierende Wahrheit verkünden zu wollen, lesen. Hingegen spricht aus Zeilen, wie den eben zitierten, evident ein Bekenntnis zur Unmöglichkeit, das Geschehene auf ein Maß herunterzubrechen, das man in formschöne Worte fassen kann und ‹beherrscht› (dies demonstriert Merini allenfalls in der Lyrik – der Gattung, in der ihre Dichtung beheimatet ist). Merini scheint – auch und gerade in solchen Wortwiederholungen um Atem und um Worte zu ringen, um etwas auszudrücken, für das es keine Worte gibt.

Bei aller Bekundung einer absichtsvoll schlichten Schreibweise gibt die Autorin sehr deutlich zu verstehen, dass sie sich mit ihrem Text in ihrem schriftstellerischen Selbstverständnis fortwährend in literarische Bezüge und Traditionen stellt. Kontinuierlich trifft man auf Referenzen auf literarische Fremdtexte bzw. Autoren (Dante, Teresa Martin, Shakespeare, Manganelli, D’Annunzio, Tasso, Rilke, Kafka, Collodi, Verga, Piave, Michelangelo). Vor allem Dante, Shakespeare (Romeo und Julia, Macbeth und Hamlet) und Kafka (Die Verwandlung, Der Prozess) sind Autoren, die direkt oder durch ihre Werke in L’altra verità mehrfach Erwähnung finden. Die zahllosen Dante-Bezüge gipfeln darin, dass sich die Erzählerin selbst Beatrice nennt (nicht ohne Selbstironie, aber vielleicht doch auch mit dem Anspruch, eine Leitfigur zu sein – indem die Hölle erzählend überwunden wird): «La sua bella testolina ne usciva mutilata da orrende ferrite. Eppure si chiamava Grazia, o forse no, si chiamava Ofelia, ognuno di noi poteva ribattezzarsi con un nome diverso. Oggi io mi chiamo Beatrice.»137 Dieser Aussage haftet fast schon etwas Irrwitziges an, wenn man bedenkt, dass sich die Erzählerin wenige Seiten zuvor wiederum als Ofelia bezeichnet hatte:

Ma è incredibile i segni che si avvertono su quelle facce di reclusi, lo schifo che fanno. E poi tu diventi una di loro e fuori nessuno ti riconosce più e tu diventi il protagonista delle metamorfosi kafkiane. Così la mia bellezza si era inghirlandata di follia, ed ora ero Ofelia, perennemente innamorata del vuoto e del silenzio, Ofelia bella che amava e rifiutava Amleto.138

Das Spiel mit den Namen diverser Frauenfiguren großer Literatur und der Identifikation mit selbigen ist zum einen Ausdruck von Realitätsflucht: Der fiktive Raum wird zum einzigen Ort, der unter den Torturen der Anstalt erträglich bleibt. Des Weiteren ist dieses (durchaus ernst gemeinte) Spiel mit verschiedenen Identitäten aber auch Ausdruck des ‹Wahnsinns›. Eine der Strategien der Unzuverlässigkeit besteht bei Merini darin, zur Disposition zu stellen, ob sie als Erzählerin tatsächlich für gänzlich zurechnungsfähig gehalten werden kann oder man ihr als Leser geistige Verwirrung unterstellen muss.

Ein eindeutiger Fall von Unzuverlässigkeitsstrategie liegt bei L’altra verità auch in den fortwährenden Schilderungen des desolaten psychischen Zustands der Erzählerin vor, die Anlass geben, ihr Erinnerungs- und Reflexionsvermögen anzuzweifeln. So berichtet Merini vielfach davon, unter stärkstem Medikamenteneinfluss gestanden zu haben, der komaähnliche Zustände herbeiführte, wie beispielsweise kurz nach ihrer Einlieferung in die Anstalt: «Un po’ per l’effetto delle medicine e un po’ per il grave shock che avevo subito, rimasi in istato di coma per tre giorni e avvertivo solo qualche voce, ma la paura era scomparsa e mi sentivo rassegnata alla morte.» Sie erklärt, aufgrund von Pharmazeutika und unerträglicher Einsamkeit, Visionen gehabt zu haben, bezeichnet sich in ihrer Selbsteinschätzung als paranoid, realitätsfern und bekennt Erinnerungslücken:

Le notti, mi passavano davanti agli occhi come delle visioni assurde. Io ero diventata, mio malgrado, un po’ paranoica. Avevo imparato a sognare ad occhi aperti, un po’ per i farmaci, un po’ per la solitudine. […] Per tutta quella notte, sveglia, impotente, con le gambe divaricate strette dalle fascette di canapa, non ebbi che orrende visioni.139

Auch äußert sie sich zu folgenschweren Handlungen, die sie aus ‹Notwehr› gegen die Anstaltsbedingungen verübte, wie beispielsweise der Versuch, die Klinik niederzubrennen:

Purtuttavia cercai di portare le mie sofferenze senza darlo a vedere, solo che avevo voglie strane, come quella, per esempio, di odorare l’alcool. Da una infermiera compiacente ne ottenevo un battufolino ogni tanto, e ciò mi dava sollievo. Ma l’attesa era esasperante, i maltrattamenti inumani e, un giorno che ero particolarmente depressa, presi quel batuffolino e lo buttai su un mucchio di immondizie. Poi vi diedi fuoco. Volevo bruciare l’ospedale. Per fortuna non successe nulla, ma me ne dettero la colpa e fui isolata.140

Merinis Strategien der Unzuverlässigkeit sind geradezu eine Steilvorlage dafür, den Text in all seiner undeutbaren Pluralität als Symptom von Wahnsinn zu interpretieren und daraus zu folgern, die Erzählerin habe nicht nur den Überblick, sondern auch den Verstand verloren – einer Deutungsweise, die nahe liegt, die sich aber schnell erschöpft. Mit dieser simplen Interpretation würde man der Qualität dieses Texts nicht gerecht werden und zudem die Tatsache ignorieren, dass Merini ihr Diario mit einem beträchtlichen zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen verfasst hat und das metareflexive Bewusstsein auf das eigene Schreiben deutlich sichtbar macht. Allem Anschein nach offenbart sich in der wiederkehrenden Herbeiführung des Effekts, dass der Leser grundsätzlich an seinem Textverständnis oder alternativ am Verstand der Autorin zweifelt, eine absichtliche Strategie Merinis. Eine Strategie, die für die Lesart ihres Textes grundlegend ist. Niemand kann sich in seiner Einschätzung in sicheren Gefilden wähnen: Nicht der Leser in seiner Sichtweise auf den Text, nicht die Autorin in ihrer Auffassung der Situation, nicht das Psychiatriewesen und die Gesellschaft in ihrem Urteil über andere.

Strukturell hat man es mit unzuverlässigem Erzählen zu tun, doch die Pointe dieses unzuverlässigen Erzählens ist nicht die Unzuverlässigkeit des erzählenden Subjekts, sondern die Unzuverlässigkeit der Interpretationen durch die Rezeption (und auf der Ebene der Erzählung die medizinischen Diagnosen und Einordnungen, die das System vornimmt). Merini macht durch eben diese Unzuverlässigkeit gleichzeitig ein anderes Angebot an den Leser: jenes, sich in und mit diesem Text auf die Suche nach einer eigenen, ‹anderen› Wahrheit zu begeben, über die man keine Verfügungsmacht hat. Die Berechtigung dieser ‹anderen› Wahrheit begründet sich bei Merini im Erzählakt selbst: Wahr ist nicht unbedingt das, worauf sie in ihrer Rede Bezug nimmt, sondern die Tatsache, dass sie diese Rede als Dichterin hier und jetzt als die ihre äußert.

7 Der ‹anderen Wahrheit› letzter Schluss?

Was ist denn nun der ‹anderen Wahrheit› letzter Schluss?, könnte am Ende gefragt und ein Fazit gezogen werden. Es würde definitiv zu kurz greifen, Merini primär als das ‹unverbildete Naturgenie›, welches vollkommen intuitiv und unreflektiert dem poetischen Vermögen freien Lauf lässt, wahrzunehmen. Ihre Dichtung – das wird in der Auseinandersetzung mit L’altra verità evident – ist bei aller scheinbaren Ungefiltertheit kunstvoll gebaut und immer auch in der Reflexion auf das eigene Schreiben verfasst. Die Analyse ihres Diario zeigt nicht nur die Bandbreite der poetischen Ausdrucksmöglichkeiten, die Merini beherrscht, sondern auch, wie sie diese einzusetzen weiß, um ihre Intention zu entfalten, die bereits dem Titel eingeschrieben ist. Merini macht es ihrem Lesepublikum nicht leicht, diese ‹andere Wahrheit› auszumachen und zu benennen. Die einzige Conclusio, die man bedenkenlos formulieren könnte, lautete: die ‹andere Wahrheit› ist allein der Text selbst und gilt für die Dichterin. Darüber hinaus stellt diese dem Leser einen vielgestaltigen Katalog zur Verfügung, um eine eigene ‹andere Wahrheit› suchen zu können – jenseits des Anspruchs, sie zwingend finden zu müssen. Dafür bietet Merini plurale Modelle an, wie z. B. jenes des faktualen Tatsachenberichts oder jenes der lyrischen Abstraktion.

Es böte sich an, den Text als Ausdruck einer faktischen Krankheit zu lesen, die sich darin niederschlägt, dass die Rede des kranken Subjekts über sich selbst und in der Aussage über bestimmte Ereignisse nicht verlässlich sein kann; also als Symptom von Wahnsinn – somit wäre das Schreiben rein dokumentarisch (eine Deutung, die vielfach vorgenommen wurde, die aber schon allein von der Tatsache, dass die Autorin rückblickend aus einem ‹gesunden› Zustand heraus schreibt, durchkreuzt wird). Merini macht dem Leser dieses Angebot, doch eine solche Lesart wird schnell zur Sackgasse. Die Dichterin bietet aber auch eine weiterführende Straße an: einen Weg, der nicht klar ausgeschildert ist und keine Zielrichtung anzeigt, der hingegen immer wieder Abzweige und vermeintliche Abwege offeriert, die man nehmen (und lesen) kann oder nicht. Durch die verwirrende Komplexität des Textes – die sich in vielfachen strukturellen und peritextuellen Rahmungen, in Dementis des Gesagten und in inhaltlichen Widersprüchlichkeiten niederschlägt – verweigert sie die Möglichkeit einer eindeutigen Festlegung.

Das Psychiatriewesen, die Psychoanalyse, die Gesellschaft und auch die Leserschaft sind es gewohnt, in Systemen zu denken, denen sie eine Gültigkeit zuschreiben. Doch die Dichterin führt vor: Es ist anders – und fragt: Warum soll und muss ich (und der Leser) der Wahrheit einer Instanz folgen? Wer hat die Deutungsmacht? Und lohnt es sich, sich einer Deutungsmacht zu verschreiben, nur um sich sicher zu wähnen? Bei Merini gibt es ein Ringen um Wahrheit. Die pluralen Ansätze stellen nicht nur Momente der Irritation dar, sondern sind immer auch verschiedene Versuche und Ansätze der Wahrheitssuche. Ihr Text ist wahr, ohne dabei zwingend faktual zu sein, ihre Wahrheit ist eine innere Wahrheit, die losgelöst von Tatsachenschilderungen besteht. Die ‹andere Wahrheit› liegt im selbstbestimmten Moment, sich immer wieder neu zu entscheiden und einer Verfügungsmacht zu entsagen. In dieser Aufforderung zur ständigen Suche und Infragestellung wird L’altra verità. Diario di una diversa zu einem Text von existenzieller ästhetischer Tragweite.

Chi può stabilire che cosa è la realtà? Perché noi chiamiamo realtà ciò che vediamo, sentiamo, odoriamo. Non siamo dunque noi, la sola autentica realtà possibile? È da noi, che partono le cose. E allora io andai solo un po’ più in alto nel regno della metafisica. [...] Non so.141

  1. Merini, Alda: Il suono dell’ombra, Milano: Mondadori 2018: S. 353. Der 21. März, das Datum ihrer Geburt, fällt in den Monat, der in Italien als der ‹verrückte Monat› gilt. Der vorliegende Aufsatz stellt einen überarbeiteten und ergänzten Auszug meiner im Jahr 2023 an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Institut für Italienische Philologie) eingereichten Masterarbeit «Anders anders – Alda Merinis L’altra verità. Diario di una diversa» dar, die demnächst veröffentlicht werden soll.
  2. Spagnoletti, Giacinto: Poesia italiana contemporanea 1909–1949, Parma: Guanda 1950.
  3. Merini, Alda: La Terra Santa, Milano: Libri Scheiwiller 1984.
  4. Merini, Alda: L’altra verità. Diario di una diversa, Milano: Rizzoli 2022.
  5. Manganelli, Giorgio: «Prefazione», in: Merini 2022: S. 9.
  6. Natali, Edi: Se decantarmi può solo Dio …, Milano: Edizioni San Paolo 2019: S. 78.
  7. Zit. n. Balbini, Valeria: Liberi tutti. Manicomi e psichiatri in Italia: una storia del Novecento, Bologna: Il Mulino 2009: S. 9ff.
  8. Tamburini, Augusto: «L’inchiesta sui manicomi nella provincia di Venezia e la legge sui manicomi (1902)», in: Rivista sperimentale di freniatria Vol. XXVIII: S. 724.
  9. Beispielhaft sei an dieser Stelle der Erfahrungsbericht des Schriftstellers Edmondo De Amicis genannt, der aus gegebenem familiären Anlass die psychiatrische Anstalt von Turin besuchte und seine dortigen Erfahrungen 1902 publizierte («Non credere … Non c’è gente meno infelici dei pazzi. Anche quelli che veramente soffrono, soffrono assai meno di noi, e d’un dolore interrotto da molti oblii, velato come quello di chi sogna. Non c’è grande dolore in chi non ha coscienza. […] [V]idi…] un viso pallido e disfatto, rigato di grosse lacrime, atteggiato d’un dolore profondo, cupo, disperato come quello d’un condannato a morte.» (De Amicis, Edmondo: Nel giardino della follia, Firenze: Le Càriti Editore 2002: S. 53).
  10. Giovanni Giolitti war von 1892 bis 1921 sowohl Innenminister als auch Ministerpräsident.
  11. Merini 2022: S. 56f.
  12. Vgl. Natali 2019: S. 87.
  13. Vgl. Natali 2019: S. 95.
  14. In Lʼaltra verità berichtet sie immer von dieser Behandlungsmethode (vgl. bspw.: «La stanzetta degli elettroshock era una stanzetta quanto mai angusta e terribile; e più terribile ancora era l’anticamera, dove ci preparavano per il triste evento. Ci facevano una premorfina, e poi ci davano del curaro, perché gli arti non prendessero ad agitarsi in modo sproporzionato durante la scarica elettrica. L’attesa era angosciosa. Molte piangevano. Qualcuno orinava per terra. Una volta arrivai a prendere la caposala per la gola, a nome di tutte le mie compagne. Il risultato fu che fui sottoposta all’elettroshock per prima, e senza anestesia preliminare, di modo che sentii ogni cosa. E ancora ne conservo l’atroce ricordo.» (Merini 2022: S. 87f.).
  15. In ihrem Brief vom 1. Januar 1979 bezieht sich Merini auf dessen kunsttherapeutische Methode: «Caro Dottore Gabrici, mi pregio mandarle alcune mie liriche tradotte in inglese perché possa semmai utilizzarle nei vari colloqui che fa a proposito delle produzioni artistiche dei malati. Mi sentirei onorata se lei un giorno parlasse di me, posto che di lei conservo un ricordo intoccabile e veramente felice. Gli amici artisti ai quali io ho parlato di lei si sono altamente meravigliati che uno psichiatra abbia potuto diciamo riportare alla salute una persona dopo dieci anni di internamento in manicomio e mi hanno chiesto di conoscerLa. Veda lei. Intanto distintamente la ossequio sperando che lei sia in ottima salute. Alda Merini.» (Merini, Alda: «Lettere al Dottore G.», in: Merini 2018: S. 996.).
  16. Vgl. Natali 2019: S. 101f.
  17. Vgl. Basaglia, Franco: «La distruzione dellʼospedale psichiatrico come luogo di istituzionalizzazione (1965)», in: Franca Ongaro Basaglia (a c. d.): Scritti I 1953–1968, Torino: Einaudi 1981, S. 249–258.
  18. Vgl. Natali 2019: S. 106.
  19. Vgl. Natali 2019: S. 108ff.
  20. Vgl. Giannichedda, Maria Grazia (2008): «Quando il futuro incominciò», in: Foglie d’Informazioni 5/6 2008, S. 10–21. http://www.psychiatryonline.it/sites/default/files/Libro180-Articolo2.pdf [Zugriff am 06.02.2023].
  21. Vgl. Natali 2019: S. 114.
  22. Merini 2022: S. 42.
  23. Im Zeitalter der Digitalität hat sich das grundlegend geändert, zur Entstehungszeit von Alda Merinis Diario, während der ersten Hälfte der 1980er-Jahre, sind die genannten Aspekte jedoch grundsätzlich mit zu bedenken.
  24. Ebd.: S. 138.
  25. Ebd.: S. 145.
  26. «Razionalizzare significa ricordare e creare una storia, sia pure non lineare, dai frammenti dell’esperienza; significa materializzare stati psichici e il vissuto personale in parola, renderli oggetto così che divengano condivisibili, usufruibili da altri; è, infine, costruire un senso per sé e dei significati per il lettore» (Parmeggiani, Francesca: «La folle poesia di Alda Merini», in: Quaderni d’italianistica, 23 (1) 2002: S. 183.
  27. Der graphische Unterschied zwischen normalen Absätzen und den Leerzeilen findet sich bereits in der Erstauflage von 1986 – von der lediglich 1000 Exemplare gedruckt wurden, die heute kaum mehr auf dem Markt zu finden sind. (Merini, Alda: L’altra verità, Milano: Libri Scheiwiller 1986). Es ist also anzunehmen, dass diese formale Setzung Merinis von Anfang an beabsichtigt war.
  28. Merini 2022: S. 96f.
  29. Vgl. Dusini, Arno: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München: Fink 2005, S. 93.
  30. Die Lettere a Pierre sind überschrieben mit «Dal Paolo Pini di Affori, anno 1965».
  31. «Così cominciò anche il mio silenzio.» (Merini 2022: S. 68), «La nostra legge era il silenzio. Il silenzio gravato da mille solitudini; un silenzio ingombrante, atono, come le foglie ferme ma noi eravamo teneri usignoli feriti e la nostra infelicità dava sangue e le nostre ali erano tarpate e il nostro grembo deserto.» (Ebd.: S. 113), «In manicomio ci avevano abituati al silenzio. Ci mettevano al mattino allineate sopra le panche, con le mani in grembo, e con l’ordine di ‹non fiatare›.» (Ebd.: S. 96.).
  32. Ebd.: S. 32.
  33. Ebd.: S. 58.
  34. Ebd.: S. 20.
  35. Ebd.: S. 68.
  36. Vgl. Dusini 2005: S. 172.
  37. Die Metapher der Kette, die den perlenden Rhythmus der immer gleichen Abläufe vorgibt, nennt Merini in Bezug auf das Pychiatriewesen, welches sie fortwährend begleitet und auch fesselt: «Il manicomio non finisce più. È una lunga catena che ti porti fuori, che ti tieni legata ai piedi. Non riuscirai a disfartene mai.» (Merini 2022: S. 96f.).
  38. Ebd.: S. 68.
  39. Ebd.: S. 13.
  40. Riboldi, Manuela: «Il corpo-follia. Alda Merini incontra Basaglia e Foucault», in: Pisanelli, Flaviano (a c. d.): Le più belle poesie si scrivono sopra le pietre, Rom: Aracne 2021: S. 112.
  41. Wikipedia-Artikel «L’altra verità. Diario di una diversa», Wikipedia, l’enciclopedia libera. https://it.wikipedia.org/wiki/L%27altra_verit%C3%A0._Diario_di_una_diversa [Zugriff am 03.06.2023].
  42. Vgl. https://www.tuobiografo.it/post/2019/10/02/-altra-verit%C3%A0-diario-di-una-diversa-autobiografia-alda-merini [Zugriff am 03.06.2023]
  43. Miglietta, Annarita :«‹L’altra verità› di Alda Merini: un diario di medicina ante litteram» in: Italiano LinguaDue,12 (1)/2020, S. 891–905.
  44. Rekut-Liberatore, Oleksandra: Finzione e alterità dell’io: presenze nella scrittura femminile tra XX e XXI secolo, Firenze: Società Editrice Fiorentina 2013: S. 27.
  45. Merini 2022: S. 36.
  46. Ebd.: S. 44.
  47. Ebd.: S. 79.
  48. Ebd.: S. 13.
  49. Rekut-Liberatore 2013: S. 14. Das Konzept der Autofiktion wird hier im Sinne Serge Doubrovskys verwendet; vgl. zu den wesentlichen Positionen der Autofiktion, die auch die Arbeiten von weiteren Forschenden (u. a. Genette, Lejeune) einbezieht, den Band: Marchese, Lorenzo: L’io possibile. L’autofiction come paradosso del romanzo contemporaneo, Massa: Transeuropa 2014 oder Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Auto( r )fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld: Aisthesis 2013.
  50. Merini 2022: S. 15.
  51. Ebd.: S. 18f.
  52. Ebd.: S. 60.
  53. S. exemplarisch Merini 2022: S. 15: «Un po’ per l’effetto delle medicine e un po’ per il grave shock che avevo subito, rimasi in istato di coma per tre giorni e avvertivo solo qualche voce, ma la paura era scomparsa e mi sentivo rassegnata alla morte.»
  54. Ebd. (Seitenangabe jeweils in Klammer).
  55. Ebd.: S. 114.
  56. Zur Thematik der (christlichen) Religion in Merinis Werk vgl. exemplarisch: Campedelli, Marco: Il vangelo secondo Alda Merini, Torino: Claudiana 2020, sowie: Spadaro, Antonio: «Alda Merini: ‹Avevo vento di fuoco›», in: L’altro fuoco. L’esperienza della letteratura II, Milano: Jaca Book 2009, S. 95–107.
  57. Merini 2022: S. 116f.
  58. Ebd.: S. 117f: «In manicomio ero sola; per lungo tempo non parlai, convinta della mia innocenza. Ma poi scoprii che i pazzi avevano un nome, un cuore, un senso dell’amore e imparai, sì, proprio lì dentro, imparai ad amare i miei simili. E tutti dividevamo il nostro pane l’una con l’altra, con affettuosa condiscendenza, e il nostro divenne un gesto famigliare. E qualcuna, la sera, arrivava a rimboccarmi le coperte e mi baciava sui corti capelli. E poi, fuori, questo bacio non l’ho preso più da nessuno, perché ero guarita. Ma con il marchio manicomiale.»
  59. Gérard Genette legte mit seinem 1987 erschienen umfangreichen Überblickswerk Paratexte das bis heute einschlägige Standardwerk zu diesem Thema vor. (Genette, Gérard: Paratexte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989.) Bei sogenannten Paratexten handelt es sich um verschiedenste Textelemente, die einem Werk ergänzend beigegeben sind und/oder seine Rezeption steuern – entweder als Maßnahme des Autors selbst oder durch Kommentare oder Anmerkungen von außen. (Vgl. Weinrich, Harald: «Vorwort», in: Ebd., S. 9.) Genette differenziert zwischen Peritexten und Epitexten, die in Summe den Paratext bilden (« [ F]ür Liebhaber von Formeln: Paratext = Peritext + Epitext », vgl. ebd.: S. 13). Peritexte sind, nach Genette, Texte oder Textfragmente, die mit dem Basistext verbunden sind. Oft sind es Hinzufügungen des Autors oder des Herausgebers, Vor- oder Nachworte, Widmungen, Danksagungen, Inhaltsverzeichnis und auch der Titel. Bei Epitexten handelt es sich um werkexterne Paratexte, die separat vom Basistext stehen – bspw. Interviews, Briefe oder Texte der Verlagswerbung (vgl. ebd.: S. 12f.).
  60. Ich beziehe mich im Folgenden ausschließlich auf die Neuausgabe von 2022, in der die Peri- bzw. Epitexte einen wesentlich größeren Raum einnehmen als in der Erstausgabe von 1986 (s. Anmerkung 27). Anm. d. Red.: Das Erscheinungsbild der Gedichte in der hier zitierten Ausgabe kann im online-Format nicht exakt wiedergegeben werden.
  61. Merini 2022: S. 34.
  62. Ebd.: S. 64f.
  63. Ebd.: S. 149.
  64. Um welche Gedichte in L’altra verità es sich hierbei handelt oder handeln könnte, lässt sich nicht präzise beantworten. Auszuschließen sind jene, die eindeutig Bezugspersonen aus den Jahren nach Merinis Anstaltserlebnissen gewidmet sind, außerdem das Gedicht, das die Datierung von Dezember 1991 trägt.
  65. «D’altra parte il Diario è liberamente tratto dalla cartella clinica del dottor Enzo Gabrici, che ancora raccoglie le mie poesie scritte in manicomio. Mi tenne con sé visto che miei parenti mi hanno mandato a diavolo e mi rieducò alla letteratura, l’unica fonte di vita alla quale potevo aggrapparmi per non morire.» (Ebd.: S. 150)
  66. Ebd.: S. 13.
  67. In der Rezeption trifft man stellenweise auf diese Bezeichnung. So schreibt Benedetta Centovalli im Vorwort des Lyrikbands La volpe e il sipario zur Entwicklung von Merinis Stil: «È degli ultimi anni un’accentuata propensione verso il prosimetro, segno antico della sua ispirazione, la tentazione mai paga al racconto […]. La spinta all’oralità e un’ispirazione che si fa esercizio quotidiano affidato alla disponibilità di amici-scrivani, anche tramite filo telefonico, ha senz’altro mutato la consistenza della sua poesia in favore di un dettato sbilanciato verso la prosa, di un’immediatezza e di una leggibilità più svelte. Allo stesso tempo quello che appare come un alleggerimento, una sorta di facile cantabilità, in un’inattesa torsione si fa variazione, approfondimento dell’intonazione, pulizia della voce, nitore. Di questo portano il segno sia le nuove raccolte poetiche sia i testi in prosa veri e propri a cominciare dal capostipite: L’altra verità. Diario di una diversa (1986), dove i versi della Terra Santa (1984) si sciolgono e l’autobiografia invade e diluisce la trama del narrare.» (Centovalli, Benedetta: «Il passo breve delle cose», in: Merini, Alda: La volpe e il sipario. Mailand: Rizzoli 2004, S. 6f.)
  68. Merini 2022: S. 41f.
  69. Ebd.: S. 40.
  70. Ebd.: S. 40f.
  71. Ebd.: S. 41.
  72. Ebd.: S. 42.
  73. Ebd.
  74. Ebd.: S. 147.
  75. Conti, Adalgisa: Manicomio 1914. Gentilissimo Sig. Dottore questa è la mia vita. Milano: Mazzotta 1978. Das Buch wurde sogleich in mehrere Sprachen übersetzt, die deutsche Übersetzung erschien 1979 (Conti, Adalgisa: Im Irrenhaus. Sehr geehrter Doktor – Dies ist mein Leben, Frankfurt a. M: Verlag Neue Kritik 1979). Ihr letzter Arzt wird darin mit folgenden Worten zitiert: «So ist es Adalgisa Conti durch ihre Autobiographie nach 65 Jahren gelungen, ihre verlorene Sprache wiederzufinden und die Institution zu zwingen, sich mit ihrem Standpunkt, ihrem Wertsystem, ihrer Kultur, nämlich mit der von ihr geschriebenen Geschichte ihres Lebens und ihrer „Krankheit“ auseinanderzusetzen. Wir haben damit zum erstenmal das biologische Faktum eines Körpers, der am Leben erhalten, ernährt und gepflegt werden muß, wieder mit seiner peinlich in die Karteien einer psychiatrischen Heilanstalt verdrängten und dort lebendig begrabenen Geschichte vereint.» (Ebd.: S. 89)
  76. Merini 2022: S. 16f.
  77. Zu Adalgisa Conti (1887–1983) vgl. bspw. Niemann, Sylke: «Ich habe immer ein stolzes Wesen gehabt», in: S. Duda, F. Pusch (Hrsg.): Wahnsinns-Frauen, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 187–222.
  78. Vgl.: Brückner, Burkhart: «Conti, Adalgisa», in: Biographisches Archiv der Psychiatrie 2015. https://biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/22-conti-adalgisa [Zugriff am 13.07.2023].
  79. Merini 2022: S. 17f.
  80. Die Frage der möglichen sexuellen Vergewaltigung Merinis wird im Rahmen ihrer psychoanalytischen Behandlungen immer wieder aufgeworfen: «Mi diceva il dottor G.: «Non ricordi di essere stata violentata, vituperata da qualcuno?» Di fatto un buco nero nella mia memoria c’era, ma non sapevo individuarne bene né i tempi, né le relazioni: era quello dunque il punto ammalato.» (Ebd.: S. 29) Merini erinnert sich auch im weiteren Verlauf der Behandlung nicht präzise an einen konkreten Vorfall («Potrà anche essere vero che in passato un uomo mi abbia violentata […].» (Ebd.: S. 44) In der Anstalt finden tagtäglich massive Übergriffe des medizinischen Personals statt, wie beispielsweise die (ungerechtfertigte) Verabreichungen stärkster Pharmazeutika: «Quest’uomo crudelissimo, quando uno di noi stava male, comincia a propinargli medicinali, in misura, in quantità degne di un cavallo. Apparteneva ovviamente alla vecchia psichiatria dove i malati venivano legati con aggeggi di ferro ai polsi e alle caviglie.» (Ebd.: S. 75)
  81. Ebd.: S. 14.
  82. Ebd.
  83. Ebd.: S. 55.
  84. Ebd.
  85. Ebd.: S. 93.
  86. Ebd.: S. 149f.
  87. Conti 1979: S. 7f.
  88. Merini 2022: S. 76.
  89. Ebd.
  90. Ebd.: S. 77.
  91. Ebd.: S. 78.
  92. Ebd.: S. 125.
  93. Ebd.
  94. Ebd.
  95. Ebd.: S. 26.
  96. Bibel. Einheitsübersetzung, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2017, S. 1145.
  97. Merini, Alda: Tu sei Pietro, Milano: All’insegna del pesce d’oro 1961.
  98. In diesem (steinernen) Kontext ist zudem erwähnenswert, dass Merini eine (sich in eine bedeutsame literarische Folge stellende) Gedichtsammlung mit dem Titel Le rime petrose verfasste, gewidmet Michele Pierri – ihrem ‹Fels› (Vvgl.: Merini, Alda: «Le rime petrose», in: Merini 2018: S. 167–186).
  99. Merini 2022: S. 125.
  100. Ebd.: S. 126.
  101. Ebd.: S. 125.
  102. Ebd.
  103. «In manicomio, come ho detto, il sesso è bandito come sconcezza, quasi come portatore di microbi patogeni e noi per l’appunto eravamo asessuati ma non per questo il nostro sguardo era meno carico di intesa e di sessuali domande. […] Ero felice, pensavo in tutta sicurezza che quel giorno avrei trovato l’amore. Ma l’amore che io immaginavo apparteneva a qualche cosa di inconsistente, qualche cosa che forse stava solo nella mia immaginazione.» (Ebd.: S. 23)
  104. Ebd.: S. 126f.
  105. Ebd.: S. 127.
  106. Ebd.: S. 127.
  107. Ebd.: S. 41.
  108. Ebd.: S. 128.
  109. «Ma il nosto idillio fu scoperto e un giorno, un brutto giorno, vidi Pierre salire su di un grosso carrozzone, „deportato“ in un altro manicomio per cronici.» (Ebd.: S. 34)
  110. Ebd.: S. 129f.
  111. Ebd.: S. 130f.
  112. Ebd.: S. 132.
  113. Vgl. Ovidius Naso Publius: Liebesbriefe: lateinisch-deutsch = Heroides epistulae, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2001. Einer der klagenden Heldinnen Ovids kommt in Merinis Schaffen eine besondere Rolle zu: der Dichterin Sappho, der sie in La gazza ladra das erste Portrait widmet (vgl.: Merini 2018: S. 373).
  114. Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung, München: Fink 1994, S. 178.
  115. Vgl. ebd.: S. 130.
  116. Merini 2022: S. 35.
  117. Ebd.: S. 132.
  118. Ebd.: S. 125f.
  119. Ebd.: S. 133.
  120. Sicher nicht zufällig wählt Merini anstelle des allgemein gebräuchlichen verosimile die antiquierte und zugleich literarisch markierte Form verisimile.
  121. Genau dies, nämlich die Aussage: «Il testo non è autobiografico. Ogni riferimento a cose e persone è puramente letterario» findet sich in der Erstausgabe des Werkes noch vor Beginn des Textes (vgl. Merini 1986: S. 6). Mutmaßlich aus eben den genannten taktischen Gründen wurde diese Anmerkung in der Neuauflage gestrichen und vergleichbare Aussagen an den Schluss des Werkes gestellt.
  122. Merini 2022: S. 56f.
  123. Ebd: S. 139.
  124. Ebd.: S. 144.
  125. Ebd.: S. 137.
  126. Ebd.
  127. Ebd.: S. 140.
  128. Ebd.: S. 137–144.
  129. Ebd.: S. 138.
  130. Ebd.: S. 143.
  131. Ebd.: S. 138.
  132. Die Unterscheidung zwischen zuverlässigem und unzuverlässigem Erzähler wurde 1961 von Wayne Booth in die Erzähltheorie eingeführt (Booth, Wayne: The Rhetoric of Fiction, Chicago/London: University of Chicago Press 1983: S. 158f.). Es würde an dieser Stelle zu weit führen, den Begriff des unzuverlässigen Erzählers umfassend aufzuarbeiten und zu überprüfen, inwieweit Alda Merini in L’altra verità die entsprechenden Kriterien erfüllt. Es wird daher hier auf den mittlerweile kanonisch gewordenen Begriff des unzuverlässigen Erzählers verzichtet und stattdessen die Bezeichnung Erzählstrategien der Unzuverlässigkeit gewählt.
  133. Merini 2022: S. 133.
  134. Ebd.: S. 74.
  135. Ebd.: S. 75.
  136. Ebd.: S. 56.
  137. Vgl. ebd.
  138. Vgl. ebd.: S.107.
  139. Ebd.: S. 94. Des Weiteren siehe: «Quindi mi propinò tre iniezioni di Valium con uno spartocanfora. Credo che in quei momenti ebbi la sensazione di morire. La puntura fu così violenta che svenni e dormii per tre giorni interi. Mi risvegliai legata» (ebd.: S. 103); «Le medicine ci avevano tolti ogni senso, ogni rapporto con la realtà esterna. Il mio medico personale, il dottor G., sosteneva che ciò accadeva proprio in funzione della malattia» (ebd.: S.118); «Il dottor G. sostiene che io per lungo periodo persi il contatto con la realtà. […] So che è vero che ho un buco nero nella memoria» (ebd.: S.121).
  140. Ebd.: S. 52.
  141. Ebd.: S. 121.