Peter Burke: Tumult und Spiele. Theater, Calcio und Karneval im Italien der Renaissance. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Wolf, Berlin: Klaus Wagenbach Verlag 2023, 154 S., Euro 23,-, ISBN: 978-3803151940
Peter Burke zählt zu den führenden Renaissance-Spezialisten und hat sich nicht zuletzt mit soziologisch orientierten Arbeiten zur Historiographie einen Namen gemacht.1 Der Wagenbach-Verlag hält dem Forscher seit vielen Jahren die Treue und hat auch sein jüngstes Buch (von Matthias Wolf) ins Deutsche übertragen lassen. Vorausschauend, dass der englische Originaltitel Play in the Renaissance Italy (Cambridge: Polity Press 2023) eventuell wenig verkaufsfördernd sein könnte, wurde der deutsche Titel signifikant erweitert. Die Erwartungshaltung der Lesenden ist nunmehr, in dem Buch nicht nur etwas über das Spiel (in) der Renaissance zu erfahren, sondern auch über Tumulte, Theater, Calcio (der italienische Begriff zwischen lauter deutschen soll wahrscheinlich historisch authentisch oder originell klingen) und Karneval. Allerdings ist, auch angesichts einschlägiger Publikationen zu den vielen Themen,2 von vornherein klar, dass diese umfassende Erwartungshaltung auf rund 150 Seiten unmöglich erfüllt werden kann. Selbst wenn man bei dem Masterbegriff des englischen Originals bleibt, dem Spiel, fordert Burkes Buch mehr zu Fragen heraus, als dass es Antworten geben kann. Es ist der Publikation anzumerken, dass sie, wie der Autor selbst im «Vorwort» schreibt, während der Coronazeit «im Laufe weniger Monate verfasst» (S. 9) worden ist. Zu vieles bleibt im Vagen, wird lediglich angerissen und nicht immer nachvollziehbar erläutert. Wenn das Buch dennoch als gelungen bezeichnet werden kann, so liegt das daran, dass es, wie Burke ebenfalls im «Vorwort» schreibt, «letztlich in einer langen Entstehungszeit herangereift» (S. 9) ist und versucht, bereits Bekanntes «hier in einer neuen Richtung weiter[zu]entwickel[n]» (S. 9).
Was der Autor an grundlegendem Wissen zur Renaissance zu bieten hat, ist ein weiteres Mal beeindruckend, wenn auch nicht unbedingt dort, wo er seine Grenzen zwar erkennt, aber unzureichend begründet. Der Süden Italiens zählt nicht zu seinen Spezialgebieten; «die meisten der hier aufgeführten Beispiele [stammen] aus Nord- oder Mittelitalien» (S. 11): «Dass der Süden in diesem Essay nur eine zweitrangige Rolle spielt, resultiert wahrscheinlich aus einem relativen Mangel an Zeugnissen.» (S. 12). Es ist zwar legitim, seine Forschungen regional zu begrenzen, doch sollte man dies nicht mit – angeblich – nicht vorhandenen Quellenlagen begründen.3 Es verhält sich allerdings nicht nur bei Burke so, dass der Süden Italiens chronisch vernachlässigt worden ist, und zwar in einem Ausmaß, das für die Zukunft grundlegende Revisionen des einen oder anderen italianistischen Status quo erwarten lässt. Ob man außerdem der Renaissance einen Gefallen tut, wenn man sie wie Burke als ‹lange› Epoche von 1350 bis 1650 dauern lässt, ist diskussionswürdig – wobei zu Fragen der Epochalität in der Forschung ein grundlegender Dissens zwischen den Forschenden besteht, der hier nicht zur Debatte stehen kann.
Was Burke unter Konzept und Begriff des Spiels versteht, erschließt sich der Leserin erst nach einiger Zeit der Lektüre und sorgt ein weiteres Mal für Erstaunen. Für Burke ist das Spiel ein grundlegend der Komik, dem Witz verbundenes Konzept. Spiele sollen – um an dieser Stelle Burkes These mit dem berühmten horazischen Diktum des delectare/prodesse zu pointieren – zwar unterhalten, aber weniger belehren. Für diese Sichtweise benennt Burke in gewohnt gelehrter Weise einschlägige Quellen von Petrarca über Bembo bis hin zu Ariosto, verkennt aber, dass gerade das auch im Motto aufgegriffene Diktum des giocare serio (s. außerdem S. 13) in Bezug auf das Spiel nicht einfach nur ‹ernsthafte› Komponenten inkludiert,4 sondern eine grundlegende Gleichberechtigung der Ernsthaftigkeit einfordert. Es sind sogar insbesondere die spielerischen Modi, in denen der ‹Ernst des Lebens› angemessen aufgefangen und verarbeitet werden kann, wie bei dem ebenfalls von Burke genannten Giordano Bruno hätte nachgelesen werden können.5 Zutreffend weist Burke hingegen darauf hin, dass in der Renaissance der experimentelle Charakter der Kommunikation besonders wichtig ist und deshalb die Gattung des Dialogs «eine wahre Blüte» (S. 14) erlebt. Zu seinen theoretischen Kronzeugen zählt vor allem Huizingas Homo ludens aus dem Jahr 1938, und Burke hat nicht Unrecht mit der Behauptung, damit konzeptuell «der vielleicht besten Studie zum Thema» (S. 14) zu folgen. Daneben konsultiert er Callois’ Die Spiele und die Menschen (1958) und Bachtins Probleme der Poetik Dostojevskijs (1963). Neuere Ansätze der Ludologie, insbesondere ihre digitalen Erweiterungen, lässt Burke außer Acht, was man ihm als renommierten Fachmann der älteren Generation nachsehen darf.
Besonders informativ ist die Studie dort, wo sie wortgeschichtliche Exkurse einbaut und überblicksartige Panoramen bietet. En passant verrät Burke am Ende des ersten Kapitels, was das eigentliche Ziel der Untersuchung sein könnte: «Die vorliegende Abhandlung versteht sich als Entwurf für ein solches Panorama.» (S. 26). Gemeint ist «eine Gesamtschau, die verschiedene Spezialgebiete [des Spiels] miteinander verbindet» (S. 26). So besehen lassen sich die folgenden Kapitel zu «Spiele[n] im weitesten Wortsinn» (S. 27) mit Gewinn studieren, denn sie fußen auf den im «Vorwort» genannten «vierzig Jahre[n]» (S. 9) Gelehrtenwissen, das zu allen möglichen Spielformen (pallone, commedia, palio, battaglione, ballare u. v. a. m.) Auskunft gibt. Ob «Spiele im Freien» oder «Spiele in Innenräumen» (Kap. 2: «Spaß und Spiele») – Burke ist um zahlreiche Beispiele nicht verlegen, auch wenn er zu manchen Behauptungen die Belege schuldig bleibt. Dass Dante in der Renaissance «längst nicht so häufig vor[kommt]» (S. 37) wie Petrarca oder auch Boccaccio, hat sich nicht nur bei Burke als Allgemeinplatz der Forschung etabliert, ohne dass für die abschließende Evidenz dieser Hypothese bislang ausreichende Nachweise geboten worden sind. Kap. 3 widmet sich dem «Lachen» und damit einem Thema, das in Hinblick auf die Renaissance u. a. von Bachtin bereits grundlegend erforscht wurde,6 wobei es aber Burke dennoch gelingt, eigene Akzente zu virtuosen Sprachspielen und ihren historischen Besonderheiten zu setzen: «Die Parodie der Klassiker – antiker wie zeitgenössischer – war die freche Variante des Respekts.» (S. 46)7 Kap. 4 behandelt «Befürworter und Gegner des Spiels», wobei Burke wie auch im folgenden Kap. 5 «Personen, Orte und Zeiten» mit dem aus früheren Arbeiten bekannten soziologischen Zugang vorstellt (bspw. Berufsgruppen wie Narren, Bänkelsänger u. a. m.). Dabei werden immer wieder kluge, nur scheinbar simple Fragen gestellt, wie: «Wo fanden Spiele statt?» (S. 91). Örtlichkeiten (Gärten, Plätze usw.) erweisen sich auf diesen Wegen als wichtige paratextuelle Ergänzungen, ebenso wie die saisonalen «Spielzeiten» (S. 97–100). Ab Kap. 6 kommt unter dem Titel «Neuere Entwicklungen» vor allem die Gegenreformation zu Wort, woran sich der Epilog in Kap. 7 «1650 bis heute» anschließt. Die im Schlusssatz geäußerte Hoffnung des Autors, dass nämlich sein «vorliegende[r] Versuch eines Überblicks über eine bestimmte Kultur in einer bestimmten Zeit Anlass zu weiteren Studien dieser Art geben wird» (S. 123) – diese Hoffnung dürfte sich angesichts der reichhaltigen Hinweise und Informationen des Buchs erfüllen.