Roberto Alajmo: Abbecedario siciliano. Palermo: Sellerio 2023, pp. 200, Euro 17,-, ISBN: 978-8838945953 (Il divano n. 339)
Auf den ersten Blick könnte man vielleicht vermuten, in dem kleinen, handlichen Büchlein wäre eine kurze Novelle enthalten. Schaut man jedoch auf den Titel Abbecedario siciliano und auf das Inhaltsverzeichnis im hinteren Teil des Buches, in dem einzelne Wörter nach dem Alphabet aufgelistet sind, so sieht es wiederum wie eine Art Wörterbuch aus. Eine kleine Einführung ins Sizilianische, um in Sizilien zurechtzukommen. Ein Wörterbuch Sizilianisch-Italienisch.
Doch es ist viel mehr als das. Es ist eine Reise durch die Vergangenheit und Gegenwart der größten Insel Italiens.
Roberto Alajmo hat mit dem Abbecedario siciliano kein Wörterbuch per sé geschrieben, denn der sizilianische Wortschatz ist hier nicht annähernd in seiner Gesamtheit enthalten. Es handelt sich vielmehr um eine Ansammlung von genau 150 ausgewählten sizilianischen Ausdrücken, die der in Palermo geborene Autor und Journalist 1 nicht einfach nur ins Italienische übersetzt, sondern akribisch unter die Lupe nimmt. Wir erfahren hier eine ganze Menge über die Herkunft der Wörter und ihre variantenreichen Bedeutungen, die sich in kleinsten Nuancen voneinander unterscheiden können. Zur Veranschaulichung streut Alajmo Beispielsätze, Dialoge und Redewendungen ein und liefert stets den passenden Kontext. Dabei erzählt er humorvoll Anekdoten aus dem sizilianischen Alltag und enthüllt so nach und nach die vielseitige Bedeutung eines Worts.
Ein gutes Beispiel für diese Vielseitigkeit ist bereits das erste Wort «acchianàre» (S. 9). Es bedeutet «portare a livello, sollevare, salire», also aufsteigen, erhöhen, anheben. Im übertragenen Sinne verbirgt sich dahinter jedoch einiges mehr. Eine «acchianata» ist ein Aufstieg in eine neue und höhere Ebene, so z. B. wenn der zukünftige Ehemann seine Schwiegereltern kennenlernt. Es kann auch ein wirtschaftlicher, sozialer Aufstieg sein. Das höchste Niveau einer «acchianata», die man erreichen kann, ist es, sich in ein politisches Amt wählen zu lassen, denn die Insulaner gehen davon aus, dass man dann ein sorgenfreies Leben führen kann: «Massimo grado dell’acchianata è quello elettorale, di chi viene eletto e può considerarsi fuori dagli affanni per il resto dell’esistenza.»
Zudem taucht dieses Wort in einem Kinderspiel und -reim namens Acchiana ‘u patri cu tutti ‘i so’ figghi vor, in dem die Kinder, eines nach dem anderen, auf den Rücken des jeweils vorherigen springen und sich so immer weiter auftürmen. Dieses harmlos anmutende Kinderspiel spiegelt jedoch in Alajmos Augen das Leiden der Generationen wider. Die jeweils neue Generation lastet auf den Schultern der älteren Generationen, so schwer, dass sie zusammenzubrechen drohen. (S. 10) Durch diesen interessanten Vergleich zeigt Alajmo, dass Kinder mit solchen Spielen die ‹grausame› Welt der miteinander konkurrierenden Erwachsenen, der gewaltsamen Ablösung der Väter durch die Söhne, nachspielen.
Wie dieses Beispiel gut verdeutlicht erfährt man bei der kurzweiligen Lektüre dieses Buches eine Menge über die sizilianische Kultur, die Mentalität, Lebensart, Geschichte und die gesellschaftlichen Zustände. Viele dieser Wörter bergen so viele Nuancen in sich, dass sie eine Brandbreite von harmlosen, positiven bis hin zu negativen Bedeutungen, also ihrem völligen Gegenteil, abdecken.
Während «mizzìgghia» oder «minzìgghia» eine Liebkosung einer Person oder eines Tieres ist, das Adjektiv «ammizzigghiàto» demnach das verlangende Gefühl nach solchen Liebkosungen ausdrückt, handelt es sich bei einer «mizzìgghia» auch um eine staatliche Zuwendung gegenüber Süditalien. (S. 18) Alajmo bemängelt in diesem Zusammenhang einerseits die fehlende Effizienz dieser finanziellen Unterstützung, die seit der Nachkriegszeit und bis heute gezahlt wird, bemerkt aber auch selbstkritisch die allem Anschein nach vom Süden gewollte Abhängigkeit. Solange der italienische Staat den Süden zu wenig fördert, kann dieser nicht aus seinem unterentwickelten Status herausfinden. Doch solange il Meridione sich in diesem Zustand befindet, erhält er weiterhin finanzielle Unterstützung von Seiten des Staates.
Al di là del teatro delle rivendicazioni c’è insomma una reciproca convenienza nello scambio di mizzigghie fra Stato e regioni meridionali. Il sottosviluppo è presupposto fondamentale della lotta al sottosviluppo e, simmetricamente, la lotta al sottosviluppo è la maggior risorsa delle aree sottosviluppate. (S. 19)
Daraus resultiert zum Teil die fatalistische Mentalität der Sizilianer, die durch zahlreiche Ausdrücke den Stillstand der Insel und die Skepsis gegenüber allem Neuen und Innovativen widerspiegelt, wie beispielsweise in dem Ausdruck «Le Eccellenze dell’Isola». Dahinter verbergen sich Firmen, Menschen, innovative Ideen, die Freude, wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand auf die Insel bringen, die jedoch meist nach kurzer Zeit wieder zunichte gemacht werden. (S. 59) Es scheint Alajmo fast so, als würde durch die «Eccellenze» eine Art Alarmismus ausgelöst, in dessen Folge man durch eine Art unbewusste Sabotage zu verhindern versucht, dass man aus seiner geliebten Mittelmäßigkeit aufsteigt und sich dem Status der Unterentwicklung entwindet.
Da cui si ricava la variante locale della celebre Legge di Murphy secondo cui se qualcosa può andar male, andrà male. E cioè: se qualcosa può andar bene, andrà male pure quella. (S. 60)
Dieser Fatalismus spiegelt sich auch in folgenden Wörtern wider: «Filinia» sind die Netze, die die Spinne mithilfe ihrer Fäden (i fili) spinnt. «Stiamo facendo filinia!» bedeutet also «stiamo faccendo delle ragnatele, aspettando che non si verifica mai». (S. 65)
«Firriare» (S. 66) bedeutet im Italienischen «girare», «voltare» (sizil. «votàre»), gewinnt aber im Sizilianischen als Zusatzbedeutung die Vorstellung fieberhafter Rotationsbewegungen, die jedoch zu nichts führen, hinzu: «Gira, vòta e firrìa, siamo sempre qua». Auch zahlreiche andere Ausdrücke wie «annacàrsi», «donniàrsi», «catamiàrsi», «combattere», «ammuttare» gehen in diese Richtung, sie alle bedeuten für Sizilianer dasselbe: «la frustrazione di una fatica senza costrutto, sprecata nell’attesa di un risultato che non arriva mai». (S. 67) Daraus resultiert die «lagnusìa», was sich nicht einfach nur mit «pigrizia», Faulheit, übersetzen lässt, denn in dem Wortstamm steht vor allem «la lagna», das Gejammer, im Vordergrund: «Non fare nulla, e lamentarsi. Lamentarsi, e non fare nulla». Man jammert dabei nicht nur über seinen eigenen Stillstand, sondern auch über diejenigen, die versuchen, gegen diesen anzukämpfen: «[…] perchè quando si è conseguito l’apogeo dell’immobilismo anche l’operosità altrui risulta fastidiosa». (S. 85) Dieser Stillstand des Meridionale scheint für Alajmo die sizilianische Mentalität zu durchdringen, denn er stellt auch Charaktereigenschaften bzw. Verhaltensweisen, die Pedantismus, Schadenfreude, Missgunst und Neid verraten, als daraus resultierende dar.
«Currìvo» steht, anders als im Italienischen, für die pure Verachtung des anderen und zwar dergestalt, dass man es vorzieht, selbst einen hohen Preis zahlen zu müssen, und dies sogar als befriedigend erachtet, wenn dafür die anderen ebenso leiden oder scheitern: «che la sconfitta altrui sia più appagante di qualsiasi propria vittoria». (S. 52/53) Ganz ähnlich verhält es sich auch bei «strusurìa» – «Lo strusuro rinunzia persino al proprio piacere, pur di provocare il dispiacere degli altri» (S. 157) – und «jòco»:
Il joco: Si dice di chi è disposto a privarsi di un piacere o di un vantaggio, purché questo vantaggio o piacere non tochi nessun altro. Se non esiste vittoria più esaltante della sconfitta di qualcun altro, l’immobilismo rappresenta la condizione ideale. (S. 84)
Bei einem «pillicùso» (auch «appricùso») handelt es sich um einen extremen Pedanten, der akribisch auf die Einhaltung der Formen und Regeln achtet, so sehr, dass er anderen lästig wird. So wie die sizilianische Administration, die diese extreme Pedanterie zugleich als Waffe nutzt, sich nicht aus dem öffentlichen Stillstand herausbewegen zu müssen: «[…] sebbene pillicuso sia chi pretende l’osservanza delle regole, spesso la burocrazia adopera proprio l’arma dell’estrema pillicusarìa per procurare la paralisi degli uffici pubblici.» (S. 116) Aus diesem andauernden Gefühl der «màtula» («inutilità di una azione», S. 99) resultieren der Frust und die Wut, die sich in Form der «malaminnìtta», eigentlich «vendetta», vor allem gegen öffentliche Einrichtungen richten, und zwar ausgerechnet gegen jene, die der Gemeinschaft zugutekommen wie etwa die Parkbänke in Palermo, die nach jeder Demolierung solider gebaut werden (S. 94/95).
Bewundert werden dagegen diejenigen, die es, auch mit unlauteren, skrupellosen Mitteln, nämlich durch «spertizza», geschafft haben, erfolgreich zu sein, wie der anerkennende Ausspruch zeigt: «Quello è sperto, non si fa scoprire». (S. 153) Diese Bewunderung schlägt jedoch sofort ins Gegenteil um, wenn man sich schnappen lässt: «Altro che sperto, s’è fatto scoprire». (S. 154)
Interessant ist in diesem Kontext auch das Verb «portare», das sowohl die Bedeutung «candidarsi» als auch die von «rubare» trägt (S. 118) – wie so viele sizilianische Wörter, die Gegenteiliges bedeuten. Hervorzuheben sind hier «lòcco» und «sconzajòco». «Locco» heißt «cretino», «tonto», auch «mazzo» (S. 91) (wie das Spanische «loco»), bezeichnet aber auch die Rebellion gegen die vorherrschenden Zustände, den verrückten, selbstlosen Mut, sich gegen die Diktatur der «furbizia» zu wehren, den sogenannten «coraggio folle della stupidità». So immobil und fatalistisch die Sizilianer auch sein mögen, dank ihrer unberechenbaren «locura» verhinderte die Zivilgesellschaft, dass sich selbst nach mehreren Attentaten durch die sizilianische Mafia Cosa Nostra, denen unter anderem Politiker (Salvo Lima) und Richter (Giovanni Falcone, Paolo Borsellino) zum Opfer fielen, die Anti-Mafia-Bewegung 1992 auflöste2 :
Nell’Isola si è dovuto ricorrere al coraggio delle stupidità nel ’92, subito dopo le stragi, quando tutto sembrava perduto e grazie all’imprevedibile locura della società civile si evitò la disfatta dell’antimafia. (S. 92)
Ähnlich verhält es sich mit dem «sconzajòco», einerseits Spielverderber, jemand, der die geteilten Regeln im Straßenfußball nicht einhalten will, was mehr als ärgerlich ist. «Sconzajòco» ist aber auch ein «locco», einer, der die allgemein vorherrschenden Regeln der Mafia nicht akzeptieren will, sich dadurch in Lebensgefahr begibt und nicht selten mit dem Leben bezahlen muss. (S. 144/145)
Andere Formulierungen drücken eine Vorliebe für Extreme aus: Im Alltag tendiert man dazu, die Dinge übermäßig zu dramatisieren, beispielsweise durch Sätze wie «Eh, combatto col raffreddore» (S. 47) oder «Ti sei ammazzato ieri!» (sagt die Mutter zum Sohn, der sich durch eine kleine Unachtsamkeit erkältet hat, S. 156). Im Gegensatz dazu wird bei wirklich gravierenden Dingen maßlos untertrieben. Die Vergewaltigung eines Mädchens nimmt man als kleine Flucht wahr, als «fuitina»; ein Mord, selbst mehrfach, wird zu einer «ammazzatina» und die Messerstecherei zu einer «feritina» und dadurch normalisiert, ja fast schon verniedlicht. (S. 67/68)
Alajmos Sammlung offenbart uns den Reichtum des sizilianischen Wort-Schatzes im eigentlichen Sinne. Er zeigt dadurch, dass Sizilianisch eine eigene, sehr reichhaltige Sprache ist, die über die Jahrhunderte durch die unterschiedlichen Sprachen der Besatzer (Araber, Spanier, Franzosen, Österreicher, Griechen) geprägt wurde. Alajmo zeigt in seinem Band wie die Sprache den Alltag, die Geschichte, die Mentalität einer ganzen Insel widerspiegelt. Viele Ausdrücke kreisen um gutes und reichhaltiges Essen sowie Geschlechtsverkehr. So zum Beispiel «ammuccàre», was wörtlich «portare alla bocca del cibo» bedeutet; im übertragenen Sinne heißt «ammuccarsi» so viel wie jemanden abschleppen: «essere riusciti a portare a buona fine una trattativa amorosa». (S. 19–20)
Mein liebstes Wort, das ebenso sprachlich gewitzt wie amüsant eine sizilianische Eigenheit beschreibt – die vor allem im Kontext der Deutschen Bahn auch gut Platz im neudeutschen Wortschatz finden könnte –, möchte ich nicht unerwähnt lassen. «Agghicàri», aus dem Spanischen »llegar», ital.: «arrivare», enthält im Sizilianischen die nicht unwichtige Nuance des Zuspätkommens auf unbestimmte Zeit:
Staiu agghicannu! [...]
«Arrivo» è, da una certa latitudine in giù, un presente continuativo che nel sottinteso significa:
«sono in ritardo, ma non ti dico di quanto, così devi restare là e aspettarmi a tempo indeterminato.» (S. 13)
Alajmos Auswahl sizilianischer Wörter und Ausdrücke lässt sich hier nicht erschöpfend darstellen. Das Buch ist ein absoluter Lesetipp für alle Süditalien- und Sizilienliebhaber und -liebhaberinnen und alle, die sich für die italienische(-n) Sprache(-n) interessieren.