Stella Poli: La gioia avvenire. Milano: Mondadori 2023, 120 pp., Euro 16,-, ISBN: 978-8804751236
«Le cose non andrebbero dette mai.» (S. 9) Nach diesem Satz könnte der Roman La gioia avvenire von Stella Poli eigentlich beendet sein. Hingegen eröffnet dieser erste Satz eine Abhandlung rund um einen Fragenkosmos, der den gesamten Roman über im Hintergrund weiterklingt: Warum erzählen wir von Dingen, die wir erlebt haben? Was löst das Erzählen in uns aus? Und was macht es mit den Erlebnissen, wenn wir sie durch die Erzählung nach außen dringen lassen?
In der Geschichte, die sich auf den kommenden Seiten entfaltet, geht es um eine junge Psychotherapeutin, welche mit einem Anwalt rechtliche Fragen für eine Patientin zu klären versucht. Die Patientin ist in ihrer Jugend Opfer von sexuellen Übergriffen geworden und es stellt sich die Frage, ob es nun – sie ist mittlerweile erwachsen – noch ein Verfahren geben könnte, um durch eine mögliche Verurteilung des Täters den psychischen Heilungsprozess zu begünstigen. Die Therapeutin bringt hierzu dem Anwalt Berichte ihrer Patientin und erzählt teilweise auch selbst von deren Erlebnissen. Der Roman wechselt zwischen der Erzählung der Therapeutin in einer auktorialen Erzählperspektive und den Berichten, welche mehrheitlich in der Ich-Perspektive verfasst sind.
Auf den wenigen 110 Seiten gelingt es der Autorin Stella Poli, die Geschichte eines Traumas zu erzählen, ohne dabei in Stereotype oder Floskeln zu verfallen. In den Berichten der Betroffenen werden die Lesenden in die Welt einer Heranwachsenden mitgenommen, welche durch treffende Beschreibungen sofort in der eigenen Erinnerung greifbar wird: «Guardavamo i ragazzi di qualche anno in più, dall’altro lato nella navata. Ci dicevamo le cose all’orecchio, ridevamo molto.» (26) Unbeschwertheit, erste Verliebtheit, aber auch Unsicherheit und noch ein naiver Blick auf die Welt – mit diesem Bild unserer eigenen Jugend im Kopf werden wir schließlich beim Lesen mit der Realität des sexuellen Übergriffs konfrontiert. Und diese Wahrheit besteht in der Subtilität, mit der ein solcher Gewaltakt geschehen kann:
D’un tratto lui mi guarda dallo specchietto, quando sono seduta dietro. Trova che io abbia ragione, le volte che parlo. Ride, le volte che scherzo. Quando mi metto un costume rosso, in piscina, mi dice tu mi turbi. Che a me, non me l’aveva mai detto nessuno.
È una cosa lentissima, non bisogna pensarla di fila. (27)
Die Erzählung reiht sich hierbei nicht einfach in den Kontext einer MeToo-Debatte ein, sondern bietet einen emotionalen Einstieg in die Diskussion um unsere Verantwortung als Menschen füreinander. Denn im Zentrum des Erlebens der Betroffenen steht nicht nur der Täter selbst, sondern ihr ganzes Umfeld. Diesem Umfeld bleibt der Übergriff nicht verborgen, die Reaktionen sind jedoch gekennzeichnet von Überforderung, wobei dies in besonderem Maße für den Vater gilt. Dieser wird nach der Trennung der Eltern und dem sexuellen Übergriff für die Betroffene zu einer Sehnsuchtsfigur. Er verweigert ihr seine Liebe und macht sie dafür zur Schuldigen: «In una sfuriata folle, disse che non ce l’avevo un padre, perché non me lo meritavo.» (44) Die Unfähigkeit des Vaters begründet neben dem Übergriff das zweite Trauma der Protagonistin. Die Sehnsucht nach dem Vater bleibt bis zu dessen Tod trotz Versuchen der Annäherung unerfüllt. Und auch für eine gerichtliche Verurteilung des Täters nach so vielen Jahren sieht es letztlich schlecht aus.
Wenngleich diese Motive etwas unheimlich Düsteres und Schweres mit sich bringen, lässt schon der Titel La gioia avvenire vermuten, dass die Erzählung auch Hoffnung in sich trägt. In einem Vermerk nach der Erzählung verweist die Autorin hinsichtlich der Bedeutung des Titels auf das gleichnamige Gedicht von Franco Fortini1 . In diesem spricht der Autor von der Freude als «Qualcosa comunque che non possiamo perdere / Anche se ogni altra cosa è perduta» (v. 9–10). Im Gegenteil ist jedes vorangegangene Leid sogar ihr zwingender Bestandteil (vgl. v. 18). Mit dem Titel ihres Romans bereitet Stella Poli also schon früh den Weg für ihre Protagonistin aus dem Trauma heraus. Dies mag zunächst etwas abgegriffen daherkommen, ist es im Ergebnis jedoch ganz und gar nicht. Denn wir werden als Lesende keineswegs Zeug*innen einer bloßen Coming-of-Age-Geschichte. Vielmehr rufen die so schmerzlichen Schilderungen eine empathische Haltung beim Lesen hervor, die uns diesen Schmerz als erwachsende Stärke der Erzählerin anerkennen lässt, sodass man ihr die Emanzipation ehrlich zuzugestehen kann.
Diese Geschichte so sensibel und überzeugend zu erzählen, gelingt Stella Poli aufgrund ihres feinen Sinns für zwischenmenschliche Beziehungen und insbesondere aufgrund ihrer reichen Sprache, welche die Schwierigkeit eines Lebens nach einer Vergewaltigung einfängt und in Bildern fassbar macht:
È come un cratere lunare. Per la concavità e per la pomice, quell’idea di sangue di calce, non so se si capisce, di sbriciolato e di irrimediabilmente secco. Distese di pomice in cui puoi pure dragare tutta l’acqua del mondo, tutta la vita che trovi, in una disperazione man bassa, ma verrà ingiottita con una crudeltà implacabile, misteriosa, asciutta. (13)
Neben der Therapeutin und ihrer Patientin – deren Beziehung zueinander im Roman eine spannende Wendung erfährt – sind noch zahlreiche andere Figuren Teil des Berichts der Betroffenen. Vielleicht kann die Menge an Figuren als einziger Schwachpunkt der Erzählung gewertet werden. Dabei fällt weniger ins Gewicht, dass diese nur schwache Konturen gewinnen, vielmehr sorgen sie m. E. für eine Fülle an der falschen Stelle und teilweise auch für Unübersichtlichkeit.
Vor allem bietet La gioia avvenire aber auf überaus feinfühlige und kluge Weise eine Möglichkeit, sich mit dem belastenden Thema der Vergewaltigung und des Traumas generell auseinanderzusetzen. Der Text fragt danach, wie ein Leben nach einem solchen Erlebnis überhaupt gelingen kann und welche Rolle die Gesellschaft und auch der Staat bei diesem Gelingen spielen. Dabei agiert die Autorin offen und ehrlich, ohne jedoch über einen Fingerzeig Schuld zuzuweisen. Durch seine Kürze verlagert der Roman die Diskussion und die Entscheidung dieser Fragen in das Leben der Lesenden, weshalb die Lektüre auch noch lange nachklingt.