Mattia Corrente: La fuga di Anna. Palermo: Sellerio 2023, 248 pp., Euro 16,00, ISBN: 978-88-389-4304-4
«Quando torni?»
«Non torno.»
«Che vuol dire che non torni?»
«Vuol dire che non torno più, Anna.»
Diesen kurzen Dialog liest man etwa auf der Hälfte des vorliegenden Romans, genauer auf S. 112 am Ende des zehnten Kapitels. Wer hier ankündigt, nicht mehr zurückzukehren, ist der Vater der zu jener Zeit 13-jährigen Anna. Am folgenden Tag wird er diese Ankündigung wahr machen, seine Frau Serafina und seine Töchter, die Zwillingsschwestern Nina und Anna, für immer zurücklassen und ohne weitere Erklärung aus ihrem Leben verschwinden. In gewisser Weise nimmt er in der Chronologie der Ereignisse damit vorweg, was die titelgebende Protagonistin des Romans rund 60 Jahre später, gegen Ende ihres Lebens, ebenfalls tun wird: Sie verschwindet nach über fünfzig Jahren Ehe kommentar- und spurlos aus dem Leben ihres Mannes Severino – so die Ausgangslage der Handlung von Mattia Correntes Debutroman La fuga di Anna. Wovor und aus welchem Grund Vater und Tochter jeweils geflohen sind und inwiefern das ein Motiv ist, das in gewisser Weise Annas gesamte Familiengeschichte durchzieht, wird im Laufe der insgesamt 26 kurzen Kapitel eher angedeutet als detailliert erläutert. Denn der 1987 geborene Corrente, der zuvor schon als Ghostwriter tätig war und mit diesem Text nun erstmals als Autor ins Rampenlicht tritt, wollte nicht das Leben erklären, sondern Fragen dazu aufwerfen, wie er in einem Interview erläutert:
«Mi sono chiesto: tu, Mattia, cosa vorresti leggere? E mi sono detto che non ho bisogno d’un romanzo che t’ammaestri, ma che ti racconti l’imperscrutabile. Non che ti spieghi come funziona la vita, ma che ti ponga problemi sulla vita.»1
Nach rund einem Jahr vergeblichen Wartens bricht Severino zu Beginn des Romans also auf und macht sich an den verschiedenen Stationen ihrer gemeinsamen Vergangenheit (mehrere Orte eines Siziliens «lussureggiante e potente2 ) auf die Suche nach Anna. Dabei trifft er nicht nur auf zahlreiche Menschen von früher, sondern vor allem auch immer wieder auf Erinnerungen – teils verdrängte, teils verleugnete. Diese werfen in der Rückschau Fragen darüber auf, wer warum welche Entscheidungen getroffen hat; wer aus welchem Grund was getan hat und welche Auswirkungen das (insbesondere auch auf andere Menschen) hatte. Dabei wird deutlich, dass immer auch Möglichkeiten bestanden haben, einen anderen Weg zu wählen, eine ‹andere› Anna, ein ‹anderer› Severino zu sein bzw. zu werden, Möglichkeiten, die als letztlich nicht gewählte Optionen präsent bleiben und Schmerz, Enttäuschung und Wehmut auslösen können. Diese anderen möglichen Formen des Ichs werden beispielsweise über die äußerliche Ähnlichkeit der beiden Zwillingsschwestern Anna und Nina präsentiert:
Severino e Carmelo ridono, anche Nina ride ma non beve, attende che Anna posi le labbra sul bordo del bicchiere. Invece Anna indugia: la donna davanti a lei, questa donna uguale a lei col braccio intrecciato al suo è tutto quello che lei non vorrebbe essere. Guardala, Nina: moglie di un uomo e ora madre di un figlio e quanto è felice. Quanto è felice. (54)
Immer wieder taucht in diesem Zusammenhang auch das Bild des Spiegels bzw. der Spiegelung oder der bildlichen Darstellung des Ichs auf:
La ragazza mi ha disegnato senza una ruga.
Forse la sua anima d’artista ha riconosciuto sotto pelle i tratti del giovane Seve prima di Anna. […]
Elisa ha ridato vita a un altro Severino. Che non sono io ma avrei potuto essere io. (S. 69/70)
Mehrfach findet man auch das Motiv der Kleidung, die ähnlich wie im Märchen oder dem mittelalterlichen Epos für eine Erneuerung oder Verwandlung des Ichs steht: So das – auf dem Cover abgebildete – Hochzeitskleid oder der Moment, als sich Severino gegen Ende des Romans vollkommen neu einkleidet und das alte Ich zusammen mit den alten Kleidern in einer Pastiktüte (und kurze Zeit später in der Mülltonne) landet:
Mentre sto pagando si premura di infilare il Severino di prima in una borsa e mi lascia una tessera con lo sconto del venti percento per il prossimo acquisto. Chissà, magari torno. Per vestire un altro Severino ancora. (161)
Als thematischer roter Faden zieht sich so die Frage nach der Freiheit des Individuums und die Vorstellung, dass jede Entscheidung, die der oder die Einzelne für sich und das eigene Dasein trifft, immer auch Auswirkungen auf andere hat, positive oder auch negative, durch den gesamten Text: «‹Papà ci ha spiegato la libertà a modo suo e poi l’ha messa in pratica rovinando le vite di chi gli voleva bene›», sagt Anna zu ihrer Schwester. (109)
Die Entscheidung für die eigene Freiheit kann, ja muss fast zwangsläufig, andere verletzen oder ihnen schaden (hierin besteht etwa auch die ganz konkrete doppelte ‹Schuld› des Vaters, wie allerdings erst gegen Ende des Romans klar wird). Individuelle Freiheit ist also nur auf Kosten anderer zu haben, was zu unlösbaren emotionalen und sozialen Konflikten führt. Daniela, Annas einzige echte Freundin, erkennt diese Problematik und spricht sie auch laut aus: «‹La libertà è pericolosa, non cambia le cose solo per te ma pure per gli altri.›» (92)
Ist die Entscheidung aber getroffen, besteht vermeintlich die Verpflichtung, mit den Konsequenzen zu leben, ungeachtet der persönlichen Empfindungen und Bedürfnisse, wie Anna ihrer Schwester gegenüber erklärt: «‹Questa vita l’hai scelta tu e ora te la devi tenere.›» (104) Diese Ansicht vertritt schon die Mutter der beiden, und zwar um jeden Preis:
«Perché l’hai lasciata andare?» si fa scappare Anna.
«I mariti si seguono pure in capo al mondo.»
«Se tu sapessi dov’è andato il tuo lo seguiresti pure se ti ha abbandonata?»
Serafina le poggia la mano sulla spalla. «Subito, figlia mia. Subito.» (111)
Sich dann doch zu lösen und eine andere, neue Wahl zu treffen, gelingt auch Anna erst am Ende ihres Lebens. Und es ist wahrhaftig eine Flucht, denn sie muss alle und alles, was ihr Leben bislang ausgemacht hat, zurücklassen. Ihrem Sohn Antonio hingegen gelingt es, schon früher aus diesem vermeintlich unausweichlichen Familienschicksal auszubrechen, indem er sich löst und unabhängig wird – zwar verletzt auch er die Mutter, da er weggeht, sich zurückzieht und auch räumlich nach und nach immer weiter von ihr entfernt, doch er verschwindet zumindest nicht vollkommen aus ihrem Leben.
Unterschiedliche Frauenbilder (neben Anna sind das vor allem ihre Mutter, die Schwester sowie Annas Freundin Daniela; aber auch Agatina, die junge Frau beim Vater auf der Insel) finden ebenso Eingang in den Roman wie der Konflikt zwischen den Geschlechtern (und gleichzeitig auch zwischen den Generationen). Denn im Grunde tut Anna im fortgeschrittenen Alter das, was ihr Vater als junger Mann, über fünfzig Jahre früher, schon getan hat: Sie nimmt sich die Freiheit, das zu tun, was sie will – oder besser: Sie entscheidet sich bewusst gegen das, was sie nicht (sein) will bzw. länger (sein) will. Sie wählt eine andere Anna, nun ohne auf andere Rücksicht zu nehmen, und folgt damit dem Credo, das der Vater ihr als Kind vermittelt hat: «‹Tu sei Anna e Anna può fare quello che ad Anna va di fare. Anna è libera›.» (58)
Dabei ist, wie sie durchaus schon früh erkennt, Daniela die einzige, die schon immer nach diesem Motto gelebt hat. Entsprechend schreibt Anna in ihrem Abschiedsbrief an die Freundin:
Ma quante Daniela sei stata? Quante ancora ne sarai? Tante, forse troppe ma tu e la libertà camminate a braccetto e se qualcuno prova a separarvi lo menate senza remore. […] Ti ho promesso che avrei considerato la proposta di partire con te per Torino. Vengo. Voglio che mi porti con te pure se mi lasci qui. Porta con te una me che non sarò mai e non rimandarmela indietro nemmeno per sogno. […]
Ma questa Anna che rimane non può averti più a fianco. La tua libertà è un vizio che lei conosce bene e la contageresti, la tormenteresti intralciandole la vita che finalmente ha scelto, la sua e quella delle persone che l’hanno costruita apposta per lei e ora ci abitano dentro. (81/82)
Allerdings stellt sich zugleich stets die Frage, welche der vielen möglichen Varianten man denn überhaupt sein möchte:
[…] al diavolo questa Anna che non fa bene a nessuno, si sciolga insieme al mascara e al rossetto, svanisca nello scarico senza fare più ritorno. La libertà di essere se stessa, ma quale se stessa? Quale Anna vorrebbe essere, Anna non lo sa. (93)
Auch der Vater Peppe weiß um das Risiko des Scheiterns und ahnt das Schicksal der Tochter voraus:
Ma io lo so, la libertà è una condanna che t’ho trasmesso nel sangue, perciò ti lascio in consegna questo diario con la storia di Peppe su quest’isola, la storia di un uomo che voleva diventare un altro ma non c’è riuscito. Così, se anche tu un giorno scapperai da una Anna che vorrai dimenticare e verrai qui in cerca di pace come ho fatto io, scoprirai che il finale di questo Peppe è uguale al finale del primo. (240)
Formal springt der Text zwischen der Gegenwart, der Reise Severinos, und den früheren Ereignissen rund um das Leben Annas seit Mitte/Ende der 1950er-Jahre hin und her. Die Zeitsprünge sind dabei allerdings nicht durch Kapitelgrenzen und nur manchmal durch Jahres- oder Datumsangaben gekennzeichnet, sondern häufig lediglich durch einen einfachen Absatz und einen Wechsel des Tempus dargestellt:
Andiamo in cerca di una pala nel ripostiglio, la trovo, rimbocco le maniche della camicia e comincio a scavare.
Pioveva a dirotto. Spensi l’ultima brace rimasta nel camino con boccale d’acqua, chiusi finestre e balconi e ti raggiunsi in camera da letto. (45)
Diese somit oft sehr unvermittelten Wechsel spiegeln die Vorstellung wider, dass Erinnerungen ganz plötzlich und wie aus dem Nichts auftauchen können, ausgelöst durch eine Begegnung oder einen simplen Sinneseindruck wie einen Geruch oder ein Bild:
[…] lisciasti la gonna del vestito, ci infilasti il naso dentro come a voler respirare un ricordo che però non era nostro, non era il ricordo del giorno in cui ci siamo sposati. Anche se ci separavano pochi metri di distanza eri altrove. (45)
Die eingestreuten genauen Datumsangaben verweisen wiederum darauf, dass sich manche Ereignisse regelrecht ins Gedächtnis einbrennen, sodass man auch nach Jahrzehnten noch genau weiß, wann etwas passiert ist.
Zudem wechselt der Text auch häufig die Erzählperspektive, sodass die Figur der Anna, die in der erzählten Gegenwart Severinos, dessen Stimme mal als erzählendes, mal als erlebendes Ich erscheint, eben gerade nicht mehr anwesend ist, über die Abschnitte des auktorialen Erzählers dann doch zu einer weiteren, sogar titelgebenden Protagonistin des Textes werden kann. Einige Episoden aus dem gemeinsamen Leben von Anna und Severino werden an unterschiedlichen Stellen des Romans zudem aus beiden Perspektiven erzählt, sodass ein regelrechtes Geflecht entsteht, in dem alles mit allem verwoben ist. Auf S. 45/46 findet sich beispielsweise derselbe Dialog wie auf S. 60. Ein weiterer, kleinerer personaler Erzählstrang bringt zusätzlich die Figur und Geschichte von Annas Vater nach seiner Flucht vor der eigenen Familie mit ein. Trotz dieser Mehrstimmigkeit gibt es keine Brüche, bleibt der Text flüssig zu lesen und in sich schlüssig, wirkt nicht sprunghaft und nimmt die Leser:innen in jedem Moment mit.
Die Figuren sind nicht plakativ, sondern fein gezeichnet und ganz wesentlich durch das charakterisiert, was sie sagen, sei es in den Dialogen oder im inneren Monolog bzw. stummen Zwiegespräch Severinos mit der abwesenden Anna, oder was sie denken. Sparsam eingesetzter Dialekt – immer dann verwendet, wenn Emotionen und sehr persönliche Dinge in den Vordergrund rücken – verortet sie in ihrem regionalen, aber auch sozialen Umfeld.
Im Verlauf seiner Suche versteht Severino nach und nach die Zusammenhänge oder erahnt sie zumindest und kann so letztlich seinen Frieden mit der Situation machen. Bei einem alten Freund findet er in einer Schublade schließlich die (oder vielleicht auch nur eine) andere Anna:
Sei qui dentro, ti ho trovata, la donna che mi hai nascosto per tutti questi anni è qui dentro. No, Severino, mi dico, la donna che ti sei ostinato a non vedere è qui dentro. Una bambola incinta con il sorriso al contrario. Hai realizzato il destino che tua madre ha scelto per te rimanendo una vita intera tra le braccia di tuo padre.
L’unico uomo che hai amato per davvero. […]
Più ti cerco più mi sento scomparire. Anche Seve di quando eravamo insieme sta scomparendo. Mi stai cancellando persino nei miei ricordi.
E adesso che ti ho trovato, niente mi fa paura. Nemmeno che tu non ci sei. (175)
Und er kehrt dann ebenfalls nicht mehr zurück in sein altes Leben, sondern bricht erneut auf – in gewisser Weise wohl ebenfalls zu einer neuen Freiheit, als ein anderer Severino, denn «La libertà e l’amore non guardano in faccia nessuno.» (126)