Chance verpasst. Zum deutschen Filmstart von Roman Polanskis Intrige

· Fabian Scharf ·

In seinem neuesten Film erzählt Roman Polanski den größten Justizskandal des späten 19. Jahrhunderts. Leider verpasst er dabei die Chance, uns entscheidende Akteure wie Émile Zola und Jean Jaurès näherzubringen und uns die erschütternde Aktualität der Dreyfus-Affäre vor Augen zu führen.

Dabei fängt doch alles so gut an, denn die Texteinblendung zur Historizität von Figuren und Handlung wird sogleich mit einer Bildsprache untermauert, die dem kollektiven Gedächtnis entspringt: Gemeinsam mit dem französischen Generalstab sind wir Zeuge der Degradierung des Hauptmanns Alfred Dreyfus (Louis Garrel) am 5. Januar 1895, bei der sein Säbel im Hof der Pariser École Militaire zerbrochen wird, was die Menge mit Jubel und Schmährufen quittiert. Gleich zu Beginn zitiert Polanski das berühmte Titelblatt der Tageszeitung Le Petit Journal, welches am 12. Januar 1895 das Ereignis illustriert und mit der Bildunterschrift «Le traître» («Der Verräter») kommentiert. Dass die Hauptfigur des Films, der Offizier Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin), anfangs in das antisemitische Geheul mit einstimmt, zeigt auch die folgende Szene, bei der er die Affäre einer sonntäglichen Runde beim Frühstück im Grünen näherbringt, was visuell auf das Gemälde Le Déjeuner sur l'herbe von Édouard Manet anspielt. Im Verlauf des Films wird es noch weiter zu gekonnten Zitaten der impressionistischen Ikonografie kommen, von der vor allem die Tänzerinnen und leichten Mädchen eines Henri de Toulouse-Lautrec zu nennen sind.

Die Ambition des Films besteht darin, uns detailgetreu die Chronologie der Dreyfus-Affäre zu erzählen und dies aus der Sicht des Offiziers Picquart, dem omnipräsenten und -potenten maskulinen Helden, dem das Herz der Ehefrau des französischen Außenministers Pauline Monnier (Emmanuelle Seigner) zufliegt und der sich im Säbelgefecht gegen seinen Widersacher, den Kommandanten Hubert Henry (Grégory Gadebois), behauptet. In einer Rückblende wird gezeigt, wie der aus dem Elsass stammende Hauptmann jüdischer Konfession Alfred Dreyfus verdächtigt wird, geheime Informationen an den deutschen Militärattaché Maximilian von Schwartzkoppen weitergegeben zu haben. Überhastet leiten seine Vorgesetzten um den Colonel du Paty de Clam (Michel Villermoz) Ermittlungen ein, bei denen Schriftproben den Beschuldigten des Hochverrats überführen sollen, und es kommt zum Prozess. Trotz der fragwürdigen Expertise des Grafologen Alphonse Bertillon (Mathieu Amalric) wird Dreyfus am 22. Dezember 1894 einstimmig zu militärischer Degradierung und lebenslanger Haft verurteilt und alsbald auf die Teufelsinsel, einen einsamen Felsen vor der Küste Französisch-Guayanas in Südamerika, deportiert, wo er in Isolationshaft ein wahres Martyrium erlebt.

Dies alles schildert uns der Film in eindrucksvollen Bildern. Dennoch ist er nicht das Meisterwerk, zu dem ihn Adam Soboczynski in seiner ZEIT-Rezension «Die Republik am Abgrund» vom 6. Februar 2020 erklärt. Eine seiner Schwachstellen besteht darin, die Dreyfus-Affäre zu sehr zum persönlichen Kampf des Marie-Georges Picquart gegen die militärische Hierarchie um die Generäle Boisdeffre (Didier Sandre), Gonse (Hervé Pierre), Mercier (Wladimir Yordanoff) und Pellieux (Laurent Stocker) werden zu lassen und zu wenig ihren gesellschaftlichen Kontext zu beleuchten: die Niederlage Frankreichs gegen Preußen 1870/71 und der seitdem zunehmende Nationalismus, die Panama-Affäre und der mit ihr aufflammende Antisemitismus, die anarchistischen Attentate der 1890er-Jahre als kollektives Schreckensszenario... Es wäre erhellend gewesen, etwas über die Hetzkampagnen in der reaktionären und erzkonservativen katholischen Presse zu erfahren, die Dreyfus durch gezielt gestreute Falschmeldungen diskreditieren sollen. Auch wird verschwiegen, dass nach dem Urteil nicht nur der Pöbel hämisch in die Hände klatscht, sondern auch weite Teile der französischen Eliten mit Erleichterung, ja mit Freude reagieren. Die gesamte Presse, vom bürgerlichen bis ins sozialistische Lager, begrüßt das Urteil. Jean Jaurès selbst befindet in einer Parlamentsrede am 23. Dezember 1894, die Strafe falle zu gering aus, da Dreyfus im Gegensatz zum Marschall Bazaine nicht zum Tode verurteilt worden sei. Sein späterer Verteidiger Georges Clemenceau entrüstet sich darüber, dass man einem Mann ein Leben unter Kokospalmen ermögliche, der zuvor dem Feind den Einmarsch ins Vaterland erleichtert habe. Und Clemenceau, der später Ministerpräsident zweier Regierungen werden wird, fügt hinzu, man habe Dreyfus nur deshalb nicht exekutiert, weil die Regierung es nicht gewollt habe, wohingegen das Gesetz es erlaubt hätte. Auch von der Reaktion der jüdischen Gemeinde, die den Richterspruch als endgültig und gerecht akzeptiert, erzählt uns der Film nichts.

Die Frage, die sich uns stellt, ist, wie Polanski seinen Film im französischen Original J'accuse...! nennen und Émile Zola (André Marcon) nur mit einer Nebenrolle versehen kann. Dabei ist das Engagement des in bürgerlicher Zurückgezogenheit lebenden Schriftstellers, der weltweites Ansehen genießt, alles andere als selbstverständlich. Zola befindet sich zu Beginn der Affäre in Rom, um Recherchen für seinen nächsten Roman anzustellen, den er der italienischen Hauptstadt widmet. Rome bildet das Mittelstück der Trilogie Les Trois Villes (Die drei Städte: Lourdes, Rom, Paris), in welcher der Priester Pierre Froment vergeblich versucht, seinen Glauben wiederzuerlangen und nebenbei die katholische Kirche zu erneuern. Pierre fährt in die ewige Stadt, um im Vatikan die Indizierung seiner Schrift La Rome nouvelle (Das neue Rom) zu verhindern, in der er von einer gerechten, sozial engagierten, der Wissenschaft und dem Menschen zugewandten Religion träumt. Im Gegensatz zum Schriftsteller, dessen Gesuch abgelehnt wird, erhält die Romanfigur eine Privataudienz bei Papst Leo XIII., der sich in der berühmten Enzyklika Rerum Novarum der sozialen Frage stellt. Bei den wichtigsten Repräsentanten des italienischen Staates hat Zola mehr Glück: Er wird am 12. November 1894 vom Präsidenten des Ministerrats Francesco Crispi empfangen und trifft am 1. Dezember König Umberto I. Drei Tage später wird seine Frau Alexandrine von der Königin eingeladen. Für den Schriftsteller, dessen aus Venedig stammender Vater 1847 – kurz vor Émiles siebtem Geburtstag – gestorben ist, hat die Romreise nicht nur einen beruflichen Zweck; sie ist auch eine Reise in die familiäre Vergangenheit und die Identitätssuche eines Mannes, der trotz seiner literarischen Erfolge von Teilen der französischen Eliten ausgeschlossen blieb. Nachdem er schon als Schüler des Lycée Saint-Louis keine Zulassung zum Baccalauréat erhalten hat, wird dem wohl größten französischen Romancier des späten 19. Jahrhunderts – trotz seiner zahlreichen Kandidaturen – zeitlebens die Aufnahme in die Académie Française verwehrt. Insofern überrascht es nicht, dass das mit methodischer Akribie vom 31. Oktober bis zum 15. Dezember 1894 geführte Reisetagebuch eine ambivalente Gefühlswelt widerspiegelt und zwischen euphorischer Bewunderung (der Baudenkmäler) und neurotischer Angst (vor den Menschenmengen in den engen Gassen der Altstadt) oszilliert.

In Italien konnte Zola die französische Aktualität nicht verfolgen und ahnt daher noch nichts von seiner persönlichen Implikation, als er Mitte Dezember 1894 nach Paris zurückkehrt. Am Abend der Degradierung ist er bei seinem Schriftstellerkollegen Alphonse Daudet zu Gast und lässt sich die Geschehnisse des Tages von dessen Sohn Léon berichten. Allein die unkontrollierbare Gewalt des Mobs dem Einzelnen gegenüber, ob schuldig oder nicht, entsetzt ihn. Doch es wird noch bis Ende 1895 und weit in das Jahr 1896 hinein dauern, bis Zola im Figaro gegen den sich in der reaktionären Presse manifestierenden Antisemitismus Stellung bezieht. Interessanterweise behandelt sein Artikel «Pour les Juifs» («Für die Juden») vom 16. Mai 1896 bereits jene Verschwörungstheorien, welche um die Familie Rothschild kursieren und deren Narrativ sich nicht nur im späten 19., sondern auch noch im frühen 21. Jahrhundert in allen gesellschaftlichen Schichten Frankreichs und Deutschlands nachweisen lässt. Verbreitet werden diese antisemitischen fake news von Zeitungen wie La Libre Parole, deren Herausgeber Édouard Drumont mit seiner Schrift La France juive (Das jüdische Frankreich) die Angst vor etwas schürt, das einem Identitätsverlust der Grande Nation gleichkommt und insofern die aktuellen Schreckgespenster der «Umvolkung» und des «Volksverrats» vorwegnimmt. Vor allem in Armee und Kirche erkennt Zola im Figaro die reaktionären und antirepublikanischen Kräfte seiner Zeit. Leider ist Polanskis Film zu sehr militärischer Heldenkampf, um diesen Stimmungen gerecht zu werden.

Zolas Auftritt im Film beschränkt sich auf die kurze Entrüstungsszene eines alten weißen Mannes, der im Oktober 1897 über den Anwalt Louis Leblois (Vincent Perez) erfährt, selbst das französische Militär habe Gewissheit über die Unschuld des Verurteilten, da man den wirklichen Verräter, den Major Ferdinand Walsin-Esterházy (Laurent Natrella), identifiziert habe. Nachdem Letzterer trotz erdrückender Beweise von jeder Schuld freigesprochen wird, veröffentlicht Zola seinen offenen Brief an den Staatspräsidenten Félix Faure, der am 13. Januar 1898 unter dem Titel «J'accuse...!» in der Tageszeitung L'Aurore erscheint und eine bittere Abrechnung mit dem Generalstab und der Justiz ist. Im Film wird die Veröffentlichung des Artikels als eindrucksvolle Parallelmontage inszeniert: Während der verhaftete Picquart sich die Tageszeitung durch die Gitterstäbe des Polizeiwagens reichen lässt, werden reihum die von der Polemik betroffenen Persönlichkeiten bei der Lektüre gezeigt. Als Reaktion wird Zola vom Kriegsminister wegen Diffamierung angeklagt und am 23. Februar 1898 zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 3000 Francs verurteilt, was dem Film nur eine kurze Szene wert ist.

So wie damals fehlt es heute noch vielen Politikern – und leider auch Polanskis Film – an der nötigen Courage, relevante Fragen aufzuwerfen. Jean Jaurès, der wegen seines Engagements für Dreyfus sein Mandat verlieren und aufgrund seiner pazifistischen Überzeugungen 1914 ermordet wird, liefert in einer Artikelserie ab dem 10. August 1898 in der Zeitung La Petite République endgültig «Les Preuves» («Die Beweise») für die Unschuld des Alfred Dreyfus. Der Film würdigt diesen Meilenstein nur mit einer kurzen Einblendung und unterschlägt gänzlich die entscheidende Rolle des Sozialisten. Die Randfigur Émile Zola verschwindet so plötzlich und unbemerkt, wie sie gekommen ist. Polanski zeigt stattdessen Picquart, der nach dem Anschlag auf den Anwalt Fernand Labori (Melvil Poupaud) heroisch und im Alleingang die Verfolgung des Attentäters aufnimmt. Etwas leisere Töne und unspektakulärere Bilder hätten dem Film sicherlich gutgetan. Denn Zola zahlt für sein Engagement einen hohen Preis. Bei seinem Prozess wird er von einer wütenden Menge beschimpft und körperlich angegriffen. Seine Familie erhält Drohbriefe. Sein Vater, ein italienischstämmiger Ingenieur und Offizier der Fremdenlegion, wird durch den Journalisten Ernest Judet posthum diffamiert. Am 23. Mai 1898 veröffentlicht Judet in der Tageszeitung Le Petit Journal den Artikel «Zola père et fils» («Zola Vater und Sohn»), in dem er François Zola eines Diebstahls bezichtigt, den er im Jahre 1831 während seines Militärdienstes in Algerien begangen haben soll. Heute wissen wir, dass das französische Kriegsministerium dem Journalisten gefälschte Dokumente zugespielt hatte, um den Vater als unehrenhaft und den Sohn als Verräter am französischen Volk dastehen zu lassen. In insgesamt vier Artikeln, welche die Zeitung L'Aurore unter den Titeln «Mon père» («Mein Vater», 28. Mai 1898) und «François Zola» (23., 24. und 31. Januar 1900) veröffentlicht, versucht der Schriftsteller, das Andenken an seinen Vater zu verteidigen. Doch die Schmutzkampagne zeigt ihre Wirkung: Bei Zolas Verurteilung am 18. Juli 1898 ruft der Nationalist Paul Déroulède im Gerichtssaal: «Hors de France! À Venise!» («Raus aus Frankreich! Ab nach Venedig!»)1 . Dem katholischen und revanchistischen Schriftsteller Maurice Barrès zufolge sei der Autor von «J'accuse...!» gar kein Franzose: Da sein Vater und seine zahlreichen Vorfahren Venezianer seien, denke Zola «von Natur aus wie ein entwurzelter Venezianer» («Parce que son père et la série de ses ancêtres sont des Vénitiens, Émile Zola pense tout naturellement comme un Vénitien déraciné.»)2 ; seine Werke hätten etwas Fremdländisches und Antifranzösisches, kurzum etwas Abstoßendes an sich. Auf der Straße entladen sich endgültig Hass und Mordfantasien. Um der Gefängnisstrafe zu entkommen, flüchtet Zola noch am selben Abend ins Londoner Exil, wo er fast ein Jahr verweilen wird, bevor er am 4. Juni 1899 nach Frankreich zurückkehrt. Von alldem erfahren wir im Film nichts. Polanski zeigt zwar die Ausschreitungen, bei denen Zolas Bücher öffentlich verbrannt werden. Allerdings erinnern die Bilder stark an die antisemitischen Pogrome durch die Nazis am 9. November 1938. Eine gewollte Parallele, doch diese Vereinfachung erweist sich als wenig hilfreich, denn sie vergräbt den Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus in einer düsteren Vergangenheit zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Mutiger wäre es gewesen, die Brisanz und Relevanz der Dreyfus-Affäre für das Publikum des 21. Jahrhunderts zu unterstreichen. Denn wahrscheinlich hat Zola, der in der Nacht vom 28. auf den 29. September 1902 an einer Kohlenmonoxidvergiftung stirbt, sein Engagement mit dem Leben bezahlt. Wie es zu spät durchgeführte Ermittlungen und protokollierte Zeugenaussagen nahelegen, ist der Begründer des Naturalismus nicht Opfer eines Unfalls, sondern eines Mordanschlags, was der Film gänzlich verschweigt. Polanski verpasst die Chance, sein Beispiel an Zivilcourage für die breite Masse besser in Szene zu setzen. Stattdessen zeigt er den ergrauten Dreyfus und den Kriegsminister Picquart, die sich ein erstes und letztes Mal privat treffen, bevor sie wie echte Männer auseinandergehen.

  1. Joseph Reinach, Histoire de l'Affaire Dreyfus, zitiert in: Denise Le Blond-Zola, Émile Zola raconté par sa fille, Paris: Fasquelle, 1931, S. 226.
  2. Maurice Barrès, Scènes et doctrines du nationalisme, Paris: Félix Juven, 1902, S. 41.