Gino Chiellino (Hrsg.): Kalabrien
Klagenfurt/Celovec – Wien – Ljubljana – Berlin: Wieser Verlag 2020, 218 S., Euro 14,95
ISBN: 978-3-99029-343-0 (Europa erlesen)

· Birgit Ulmer ·


PID: http://hdl.handle.net/21.11108/0000-0007-F452-9

Der vorliegende Band zu der Region, die die Spitze des italienischen Stiefels bildet, erweitert die bereits mehr als 230 Titel umfassende Reihe «Europa erlesen» des Klagenfurter Wieser Verlags, deren erste Bände bereits 1997 zur Frankfurter Buchmesse erschienen sind. Zwischendurch blickte die Reihe auch immer wieder über den europäischen Horizont hinaus und nahm so die globalen Verknüpfungen von Kultur und Literatur in den Fokus, zeigte Verbindungen auf und machte vielfach bislang weitgehend unbekannte Elemente sichtbar. Von Albanien über Mostar bis nach Zentralasien entführen die jeweiligen Herausgeber:innen mit ausgewählten Texten interessierte Leser:innen in die Geschichte und Geschichten der titelgebenden Länder, Städte oder auch Regionen – immer mit Goldprägung, Lesebändchen und im kleinen handlichen Format, das in jede Tasche passt. So können die Bände der Reihe auch zu einem guten Reisebegleiter werden, egal ob ganz real oder lediglich in der Fantasie, vielleicht mit einem gelegentlichen Blick auf die Landkarte oder den Stadtplan, um sich zu orientieren.

Nun also Kalabrien – herausgegeben von Gino Chiellino. Diese Wahl hätte kaum besser ausfallen können, denn der Literaturwissenschaftler, Dichter1, Übersetzer und Essayist ist gebürtiger Kalabrese und zudem ausgewiesener Spezialist für interkulturelle Literatur, hat diesen Begriff und das zugehörige Konzept selbst mitentwickelt und wurde dafür 1987 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. Abgerundet wurde sein Ansatz durch die Eröffnung der «Chiellino-Bibliothek und Forschungsstelle für Literatur und Migration» an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder im Sommer 2018 und für den Herausgeber persönlich vielleicht auch durch den nun vorliegenden Kalabrien-Band, dem bereits 2016 der Roman Der Engelfotograf. Eine Kindheit in Kalabrien (Folio Verlag, Wien/Bozen)2 vorausging.

Kalabrien also – das Land der vielen Namen: Enotria, Italia, Bruttium und Magna Graecia, das – wie der Herausgeber in seinem Nachwort, das wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags in dieser Ausgabe abdrucken,3 festhält – von der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts aus vier Gründen entdeckt wird: Zum einen ist es eine neu entstandene Sehnsucht nach der Antike, zum anderen lenkt das verheerende Erdbeben von 1783 und seine Folgen das Interesse auf die Region. Zudem wird Kalabrien wird als Teil des Königreichs beider Sizilien zum Nebenschauplatz des Krieges zwischen Frankreich und England und schließlich fasziniert seine Landschaft, und das im Grunde schon von jeher. Im 20. Jahrhundert wiederum und bis in die Gegenwart sind die Texte aus oder über Kalabrien zumeist von sozialen Fragestellungen geprägt. Chiellino spricht von «verpasste[r] Zukunft», entwirft aber am Ende seines Nachworts das optimistische Bild eines «neue[n] Anfang[s]». Bei alledem spielt es keine Rolle, ob die Autor:innen aus Kalabrien stammen oder von anderswo und ob sie gegebenfalls dort geblieben sind oder sich, wie der Herausgeber, entschieden haben, ihre Heimat zu verlassen und ihre Werke nicht in Italienisch zu verfassen.

Die auf den rund 200 Seiten des Bandes versammelten Textausschnitte – zum Teil vom Herausgeber erstmals ins Deutsche übertragen – spannen einen zeitlichen Bogen von Homer über Tommaso Campanella und Henry Swinburne bis zur 1989 geborenen Angela Bubba, wobei sich die bereits erwähnte ‹Entdeckung› Kalabriens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in einer Ballung von Texten aus den vergangenen 250 Jahren manifestiert, die den mit Abstand größten Anteil der Sammlung ausmachen. Die Themen sind entsprechend häufig das Erdbeben von 1783 und seine Auswirkungen, aber auch die Schönheit und Fruchtbarkeit der Landschaft, die immer wieder mit der Armut und dem Elend der Bevölkerung kontrastiert. Friedrich Leopold von Stolberg etwa schreibt in seinem Reisebericht 1791:

So leiden die Einwohner eines Paradieses Noth [sic]! So nimmt die Bevölkerung eines Landes ab, dessen Ehen außerordentlich fruchtbar sind, wo aber so viele aus Furcht vor größerer Noth von der Ehe abgeschreckt werden. Und wahrlich, es erfordert eines Paradieses, wie Calabrien ist, um dennoch bei dieser Noth Einwohner zu behalten, um bei Drangsalen jeder Art ein so frohes Völkchen zu ernähren, wo der Ochsentreiber auf der Sackpfeife dudelt, wo der flinke Bursche in Sprüngen und mit Gesang der Ziegenheerde [sic] auf den Bergen nachhüpft. (S. 71)

Die Texte aus dem 20. Jahrhundert wiederum rücken sozialkritisch vor allem die negativen Seiten in den Fokus, das karge, harte und rückständige Leben, das keinen Blick hat für die paradiesische Landschaft und den Reichtum der landwirtschaftlichen Produkte, sondern ein Ort althergebrachter feudalistischer Strukturen, des Brigantentums und der Verbannung ist. Und schließlich kommen immer wieder Fragen nach der kalabrischen Identität und einer Prägung durch Sprache, Kultur und Landschaft auf, bei denen nicht zuletzt auch das Thema Migration angerissen wird.

Die Verfasserin hätte sich an mancher Stelle ein sorgfältigeres Lektorat insbesondere der übersetzten Texte gewünscht, zudem werden Druckbild und Papier dem Anspruch, der durch die Prägung und das Lesebändchen angedeutet wird, nicht gerecht. Das schmälert durchaus den Lesegenuss der insgesamt interessanten Zusammenstellung, die verschiedene Schlaglichter wirft und zur vertieften Lektüre des einen oder anderen Textes einlädt.

  1. Ich verweise an dieser Stelle gern auf den in der ersten Ausgabe von Horizonte erschienenen Gedichtzyklus La Madonna di Tindari alla Rognetta Chiellinos, der unter folgendem Link nachzulesen ist: https://horizonte-zeitschrift.de/de/article/0116_la-madonna-di-tindari-alla-rognetta/
  2. Ein kurzer Abschnitt aus diesem Roman findet sich unter der Überschrift Der Großvater und die Weinernte auch im vorliegenden Band (S. 22–25).
  3. https://horizonte-zeitschrift.de/de/article/nachwort/