Horizonte Ausgabe 8 Titelkunst
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Auf der anderen Seite der Sprache – Calvinos lebendiges Schreiben

Martina Kollroß

Italo Calvinos literarisches Vermächtnis ist von einer Spannung geprägt, die dazu führt, dass es sich auch im Jahr seines 100. Geburtstag noch weiter entfalten kann. Lange wurde das Œuvre des italienischen Nachkriegsautors durch überkommene Oppositionslinien und Klischees überschattet.1 Dabei führt die zeitliche Nähe der Jubiläen von Pasolini (*1922) und Calvino (*1923) auch dazu, dass sich eine Art von Lagerbildung aktualisiert und das künstlerische Schaffen der beiden Intellektuellen auf konträre Konzepte reduziert wird: Pasolini sei der mit dem ganzen Körper involvierte Autor, sein Œuvre strotze nur so vor Vitalität, während Calvino ein körperloser Beobachter sei, der die Welt aus größter Distanz betrachtet habe.2

Angesichts dessen verwundert es nicht, dass sich gleich drei führende Kulturinstitutionen in Rom von Herbst 2022 bis Anfang 2023 mit der ‹Körperlichkeit› in Pasolinis Werk beschäftigt haben3 , während nichts Vergleichbares, das die Bedeutung der ‹körperlichen Lebendigkeit› bei Calvino hervorhebt, für dessen Jubiläumsjahr geplant ist. Dabei ist der lebendige Körper, der seit einiger Zeit ins Zentrum von literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten gerückt ist, vielfach auch als fruchtbare Fragestellung für Calvinos Texte rehabilitiert worden. Diese Korrekturen sind wichtig, weil sie das Fundament dafür legen, Calvinos Œuvre im Licht heutiger Problemstellungen zu lesen und die Fragen, auf denen es basiert, weiterzudenken. Statt den rigorosen Strukturarchitekturen Calvinos die Vitalität entgegenzusetzen, sollten sie als Komplementäre gelesen werden. Als eines, das aus dem anderen hervorgeht.

Wer sich Calvino vor diesem Spannungsfeld nähert, erkennt in seinen Texten, vor allem von der Schwelle der 1960er-Jahre an, dass er durchaus großes Interesse an Körpern als Zeugen einer immanenten Potenz des Lebendigen zeigte. Was ihn am meisten interessierte, war ihre Widerständigkeit im Hinblick auf biopolitische Vereinnahmungen (La giornata d’ uno scrutatore), ihr Vermögen und ihre Abweichungen von der Form (Cosmicomiche, Ti con zero) und ihre sinnliche Verankerung, die eine partielle epistemologische Perspektive bedingt (Palomar, Sapore sapere).

In La giornata d’uno scrutatore (1963) befindet sich der kommunistische Wahlhelfer Amerigo Ormea im karitativen Cottolengo-Institut. Vordergründig scheint es darum zu gehen, die Wahlfälschung durch die Priester und Nonnen aufzudecken, da diese dort anstelle einiger Insassen die eigene Stimme abgeben. Im Text wird in bemerkenswerter Aktualität auf die bürokratische Struktur der großen Fürsorge- und Pflegeeinrichtung eingegangen, die einmal dem Leben gedient hat und nun in die kapitalistische Logik eingereiht und produktiv gemacht wurde: indem sie Wahlstimmen produziert.4 Als Ormea durch die Eingangspforte des Cottolengo-Instituts tritt, überkommt ihn die Vorahnung, dass er damit die Grenzen seiner Welt überschritten hat. Und so ist es auch: Der Protagonist stößt bei seiner aufklärerischen Arbeit bald an eine unbestimmbare Grenze, die zwischen Kranken und Gesunden sowie Menschen und Nicht-Menschen verläuft. Sein aufgeklärt-humanistisches Weltbild beginnt zu wanken.

Dunque progresso, libertà, giustizia erano soltanto idee dei sani (o di chi potrebbe – in altre condizioni – essere sano) cioè idee di privilegiati, cioè idee non universali? Già il confine tra gli uomini del ‚Cottolengo‘ e i sani era incerto: cos’abbiamo noi più di loro? Arti un po’ meglio finiti, un po’ più di proporzione nell’aspetto, capacità di coordinare un po’ meglio le sensazioni in pensieri ...5

An den formlosen, in die Nähe der Monstrosität gestellten Körpern im Cottolengo scheitert die herrschende Ordnung und ihr zugehöriges Wissen. Denn innerhalb der hohen Mauern dieser ‹Stadt in der Stadt› herrschen andere Regeln. Der Tag eines Wahlhelfers ist ein Schwellentext, in der die «dunkle Ader»6 offen zu Tage tritt, die Calvinos Texte auch zuvor schon im Hintergrund durchzogen hat. Die Einsicht, die der Text bereithält, ist die in das Geheimnis des Lebendigen. In das autonome bíos, dessen Wurzel alea, das Unvorhergesehene, darstellt.

Darüber eröffnet sich für Calvino ein Möglichkeitsraum, der auch seine Art zu Schreiben betrifft, die sich mit den Cosmicomiche gänzlich vom Realistischen löst. Nicht umsonst hat Calvino das Wesen seines Protagonisten Qfwqf als «potenzialità» bezeichnet.7 Das «Vermögen», das Qfwqf darstellt, ist in erster Linie das Vermögen, eine bestimmte körperliche Form anzunehmen und diese anschließend zu überschreiten. Die Thematik der Monstrosität wird in den Cosmicomiche (1965) und in Ti con zero (1967) jenseits des Bezugs auf die menschliche Form wieder aufgenommen. Wie im Tag eines Wahlhelfers geht es auch dabei um das Prinzip von Einschluss und Ausschluss. In der Erzählung Lo zio acquatico berichtet Qfwfq von einem starrsinnigen Großonkel, der sich als letzter der Familie weigert, die neue Norm anzunehmen und von der aquatischen zur terrestrischen Lebensweise überzugehen. Als Qfwfq die schöne Lll kennenlernt, zögert er zunächst, ihr den rückständigen Onkel N’ba N’ga vorzustellen.

– Bum! Vorrei proprio conoscerlo questo N’ba N’ga!
Non aveva finito di dirlo e la torbida superficie della laguna gorgogliò di bollicine, si mosse un poco a vortice e lasciò affiorare un muso tutto ricoperto di squame spinose. […] Mai il prozio m’era parso così diverso da noi: un vero e proprio mostro.8

Der Fisch-Onkel wird in dem Moment zum Monster, als der Protagonist ihn mit der evolutionär weiterentwickelten Lll vergleicht. Lll zeigt sich von dem angeblichen Monster aber weder abgestoßen noch desinteressiert. Am Ende der Erzählung unterbreitet sie Qfwfq, sie wolle mit dem Großonkel von nun an unter Wasser leben und Fischnachkommen zeugen. Qfwqf ist entsetzt, der evolutionäre Rückschritt ist der Tabubruch schlechthin.

War es in Lo zio acquatico noch das Beharren auf einer stabilen Form im evolutionären Prozess, das als monströs betrachtet wurde, ist es in der Erzählung L’origine degli uccelli in Ti con zero genau andersherum. Die evolutionäre Entwicklung scheint zunächst abgeschlossen zu sein, bis das Auftauchen einer neuen Form die alte Ordnung komplett durcheinanderbringt und alles wieder möglich scheint.

Ci aveva tormentato a lungo il dubbio su chi era un mostro e chi non lo era, ma da un pezzo poteva dirsi risolto: non-mostri siamo tutti noi che ci siamo e mostri invece sono tutti quelli che potevano esserci e invece non ci sono, perché la successione delle cause e degli effetti ha favorito chiaramente noi, i non-mostri, anziché loro.9

Doch es dauert nicht lange, bis die neu aufgetauchten Vögel in die Norm inkludiert werden: Sie gelten nicht mehr als Fehler, sondern als einzig wahre Wahrheit. Statt sie zu fürchten, wird versucht, durch ihren Flug die Zukunft vorauszusagen: Das Monströse wird zum Göttlichen. Auch in dieser Erzählung spielt das Überschreiten einer Schwelle eine entscheidende Rolle: Als Qfwfq in unbekanntes Gebiet vordringt und dort die Vogelkönigin Or heiratet, bekommt er eine Einsicht in das grundlegende Prinzip von Einheit und Nicht-Dualität.

Per una frazione di un secondo, tra la perdita di tutto quello che sapevo prima e l’acquisto di tutto quello che avrei saputo dopo, riuscii ad abbracciare in un solo pensiero il mondo delle cose come erano e quello delle cose come avrebbero potuto essere, e m’accorsi che un solo sistema comprendeva tutto. Il mondo degli uccelli, dei mostri, della bellezza d’Or era lo stesso di quello in cui ero sempre vissuto e nessuno di noi aveva capito fino in fondo.10

Es ist die körperliche Nähe durch Berührung und Ansteckung, contatto und contagio, die zum Zusammenbruch von sicher geglaubten Sinnzusammenhängen führt und für den Anderen oder das Andere öffnet. Der Körper ist der Ort der Schwelle, an dem Innen und Außen, Identität und Alterität, aufeinandertreffen können.

Als sich Calvinos Schreiben nach den Erfahrungen von La giornata d’uno scrutatore an der Logik des Körpers als Logik des Lebendigen ausrichtet, kommt er dem französischen Wissenschaftsphilosophen Georges Canguilhem erstaunlich nah. Canguilhem definierte das Leben dadurch, dass es zur morphologischen Abweichung fähig ist. Sein Schüler Michel Foucault bringt Canguilhems Lebensbegriff auf die Formel: Das Leben ist das, was zum Irrtum fähig ist.11 Canguilhem ist in Foucaults Augen «ein Philosoph des Irrtums; damit meine ich, dass er vom Problem des Irrtums aus die philosophischen Probleme stellt, genauer: das philosophische Problem der Wahrheit und des Lebens.»12 Auch bei Calvino wurzelt die Erkenntnis in den ‹Irrtümern› des Lebens. Sein literarisches Erkenntnisprojekt richtet sich vor allem in der zweiten Hälfte seiner Schaffenszeit verstärkt an einem lebendigen Wissen aus. Lebendiges Wissen bedeutet im Sinn Canguilhems, dass Lebewesen ihrer konzeptuell strukturierten Umwelt Wissen in Form von Informationen entnehmen. Eine Konsequenz dieser lebendigen Befragung der Umwelt sind das Scheitern und der Irrtum. Dieser Zusammenhang lässt sich bei Calvino eindrücklich durch die Hauptfigur des gleichnamigen Textes Palomar nachvollziehen, in dem Signor Palomar verzweifelt versucht, die ihn umgebende Welt vollständig zu beschreiben. Als er am Ende des Textes beschließt, jeden einzelnen Moment seines Lebens allumfassend nachzuvollziehen, hält er die lebendige Dynamik und Potentialität des Lebens an. In diesem Moment stirbt Palomar.13

Calvino war es immer wichtig auf Grenzen hinzuweisen und auf das, was hinter ihnen liegt: Das, was jenseits der Sprache liegt, das Unsichtbare im Sichtbaren, auf den Bereich, der sich verkleinert, wenn sich ein anderer Bereich vergrößert. In einem seiner letzten Vorträge und seinem unvollendeten Buchprojekt geht es um die Sinne und ihre Bedeutung bei der Erschließung der Welt. Im 1983 an der New York University gehaltenen Vortrag Mondo scritto e mondo non scritto attestiert Calvino dem zeitgenössischen Menschen eine Sinn-Atrophie, die daraus resultiere, dass er in einer fast gänzlich versprachlichten Welt lebe. Als Auseinandersetzung mit dieser Sinn-Atrophie, die sich in verminderter Erkenntnisfähigkeit und Vitalität niederschlägt, lässt sich beispielsweise die Erzählung Sapore sapere lesen, die Teil des unvollendeten Projekts I cinque sensi werden sollte.

Der kurze, aber vielschichtige Text handelt von der Reise eines Paares nach Mexiko und der Verschränkung von kognitivem und körperlich-sinnlichem Begehren. Er zeugt von der Bedeutung, die Calvino einem Gleichgewicht zwischen diskursivem und nicht-diskursivem Wissen beimaß.14

Das vielleicht eindrücklichste Bild, das Calvino für die körperlich-lebendige Sprache gefunden hat, ist der Schluss seines Vortrags Mondo scritto e mondo non scritto:

In un certo senso, credo che sempre scriviamo di qualcosa che non sappiamo: scriviamo per rendere possibile al mondo non scritto di esprimersi attraverso di noi. Nel momento in cui la mia attenzione si sposta dall’ordine regolare delle righe scritte e segue la mobile complessità che nessuna frase può contenere o esaurire, mi sento vicino a capire che dall'altro lato delle parole c’è qualcosa che cerca d’uscire dal silenzio, di significare attraverso il linguaggio, come battendo colpi su un muro di prigione.15

Es ist dieser Hinweis auf die Grenzen der Sprache, in dem sich Calvinos Vermächtnis heute besonders leuchtend reflektiert. Denn es sind Aufmerksamkeit und Empfindsamkeit notwendig, um die lebendige Komplexität, die die sprachlichen Formen übersteigt, überhaupt erfassen zu können. Calvinos Sensibilität und seine tiefen Einsichten in das Wesen der Sprache können uns auch heute noch dazu inspirieren, über die gesellschaftliche Bedeutung von Sprache und Literatur nachzudenken, zum Beispiel im Licht aktueller Debatten um automatisierte Schreibsysteme.

  1. Vgl. Baldi, Elio Attilio. 2020. The Author in Criticism. Italo Calvino’s Authorial Image in Italy, the United States, and the United Kingdom. London: Fairleigh Dickinson University Press.
  2. Vgl. als aktuelles Beispiel: di Stefano, Paolo. 2022. «La ,rivolta’ di Calvino e Pasolini.» Corriere della Sera. Online verfügbar unter: La «rivolta» di Calvino e Pasolini- Corriere.it (letzter Zugriff 04.07.2023).
  3. Unter dem gemeinsamen Titel Tutto è santo zeigte der Palazzo delle Esposizioni die Ausstellung Il corpo poetico (19.10.2022 – 26.02.2023), der Palazzo Barberini die Ausstellung Il corpo veggente (28.10.2022 – 12.02.2023) und das Museum MAXXI die Ausstellung Il corpo politico (16.11.2022 – 12.03.2023).
  4. Vgl. Calvino, Italo. 1992. «La giornata d’uno Scrutatore.» In: Italo Calvino. Romanzi e Racconti. Vol. 2. I Meridiani. Herausgegeben von Claudio Milanini, Mario Barenghi & Bruno Falcetto. Mailand: Mondadori, 22.
  5. Ebd. 41.
  6. Ferretti, Gian Carlo. 1989. Le capre di Bikini. Calvino giornalista e saggista. 1945–1985. Rom: Ed. Riuniti. 94: «vena oscura».
  7. Vgl. Calvino, Italo. 1992. «Note e notizie sui testi.» In: Italo Calvino. Romanzi e Racconti. Vol. 2. I Meridiani. Herausgegeben von Claudio Milanini, Mario Barenghi & Bruno Falcetto. Mailand: Mondadori, 1321.
  8. Calvino, Italo. 1992. «Le Cosmicomiche.» In: Italo Calvino. Romanzi e Racconti. Vol. 2. I Meridiani. Herausgegeben von Claudio Milanini, Mario Barenghi & Bruno Falcetto. Mailand: Mondadori, 238.
  9. Calvino, Italo. 1992. «Ti con zero.» In: Italo Calvino. Romanzi e Racconti. Vol. 2. I Meridiani. Herausgegeben von Claudio Milanini, Mario Barenghi & Bruno Falcetto. Mailand: Mondadori, 238.
  10. Ebd. 246.
  11. Vgl. Foucault, Michel. 2005. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV I980–I988. Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 957.
  12. Foucault, Michel. 2005. 958.
  13. Calvino, Italo. 1992. «Palomar.» In: Italo Calvino. Romanzi e Racconti. Vol. 2. I Meridiani. Herausgegeben von Claudio Milanini, Mario Barenghi & Bruno Falcetto. Mailand: Mondadori, 979.
  14. Vgl. Calvino, Italo. 2010. «Sapore Sapere (Sotto il sole giaguaro).» In: Italo Calvino. Romanzi e_Racconti. Vol. 3. Racconti sparsi e altri scritti d’invenzione. 5. Aufl. I Meridiani. Herausgegeben von Claudio Milanini, Mario Barenghi & Bruno Falcetto. Mailand: Mondadori, 127–148.
  15. Calvino, Italo. 2007. «Mondo scritto e mondo non scritto (1985).» In: Italo Calvino. Saggi. 1945–1985. Vol. 2. 4. Aufl. I Meridiani. Herausgegeben von Mario Barenghi. Mailand: Mondadori, 1875.