Horizonte Ausgabe 8 Titelkunst
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Vom Hören und Zuhören in Giovanni Boccaccios Decameron

Anna-Lia Roberta Käslin-Tanduo

Neben zehrenden Entbehrungen hat die Pandemie der vergangenen Jahre auch einem Klassiker der italienischen Literatur wieder zu medialer Reichweite verholfen. Giovanni Boccaccios Decameron war auf einmal in aller Munde und auch andere beinahe vergessene «Pestlektüre»1 diente der Erklärung unserer gesellschaftlichen Lage. Dabei regte das Werk auch zur Bildung neuer, digitaler Erzählkreise an.2 Häufig liegt sowohl in dieser wiederaufgeflammten Rezeption als auch in der Forschung der Fokus auf der Handlung des Erzählens. Das erscheint zunächst sehr naheliegend, denn im Decameron findet sich bekanntlich eine Gruppe junger Frauen und Männer – die brigata – zusammen, um einander über zehn Tage hinweg Geschichten zu erzählen. Insgesamt 100 Novellen helfen dieser Gruppe, die Zeit der in Florenz wütenden Pest zu überstehen. Strukturell sind dabei die verschiedenen Erzählebenen besonders interessant: Es gibt sowohl im Proemio als auch in der Introduzione zum ersten Tag sowie in der Conclusione dell’Autore einen Erzähler als vermeintliche Autorfigur. Und dieser ist vermutlich auch der auktoriale Erzähler auf der Erzählebene der brigata, also der Rahmenhandlung. Er berichtet von deren Zusammenkunft und vom Ablauf ihrer Tage. Es folgt die Erzählebene der Novellen, welche in Form von Binnenerzählungen manchmal noch eine weitere Erzählebene eröffnet. Somit nimmt das Erzählen als Handlung bereits durch den Aufbau des Werkes eine zentrale Stellung ein.

Im Text des Decameron wird aber auch die Handlung des Zuhörens betont, und zwar bereits zu Beginn des Werkes. Der auktoriale Erzähler ändert nämlich die Namen der brigata in seinem Bericht, um deren vermeintlich reale Mitglieder zu schützen: «[…] io non voglio che per le raccontate cose da loro, che seguono, e per l’ascoltate, nel tempo avvenire alcuna di loro possa prender vergogna» (BD I, Introduzione, § 50, S. 179).3 So findet eine Gleichstellung von Erzählen und Zuhören statt: Beide Handlungen werden ins Zentrum der Tätigkeiten der brigata gesetzt. Dieser expliziten Hervorhebung des Zuhörens zum Trotz hat der Aspekt in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher kaum Beachtung gefunden. Es wurde vor allem in einer eher einführenden4 oder primär beschreibenden5 Form behandelt oder aber das Zuhören wurde im Rahmen der Untersuchung der Dialogizität des Decameron6 lediglich erwähnt.

Im Decameron überschneiden sich die zwei Entitäten der schriftlichen und der mündlichen Erzählung. Denn es handelt sich um einen literarischen7 Text, in welchem die mündliche Darbietung von Erzählungen durch die Mitglieder der brigata inszeniert wird. In der Erzählforschung stehen auf der Seite der Rezipierenden vor allem Lesende der Autor- und Erzählfigur gegenüber. Dabei ist es interessant, dass neben den Standardwerken wie denen von Genette und Stanzel auch aktuellere Werke die Rolle einer Zuhörerschaft übergehen. Dies kann sogar geschehen, wenn theoretisch von einer inszenierten Mündlichkeit die Rede sein könnte: «Die Leserfigur», so schreibt Fludernik, «kann auch eine fiktionale Gestalt sein – der Erzähler erzählt seine Geschichte z. B. seinem Freund, also einer bestimmten Person, die ebenso wie er der fiktionalen Welt angehört, auch wenn sie keine Handlungen auf der Plotebene ausführt und quasi im 'Off' existiert.»8

Ob es sich in dem von Fludernik konstruierten Beispiel um eine mündliche oder schriftliche Erzählsituation handelt, wird zwar nicht spezifiziert, es wird jedoch auch nicht in Erwägung gezogen, dass die Erzählung mündlich erfolgen könnte und damit eine implizite Zuhörfigur ebenfalls denkbar wäre. Während die Rezeptionsästhetik somit zwar die wechselseitige Kommunikation zwischen den Instanzen Autor:in, Text und (implizite:r) Leser:in bejaht und beschreibt, bleibt die Rolle von literarischer Zuhörerschaft vollkommen unbeachtet.9 Das scheint auf den ersten Blick einleuchtend, da die primär Adressierten eines literarischen Textes doch immer die Lesenden sind. Gerade bei einem Werk wie dem Decameron, in welchem dem mündlichen Erzählen so viel Raum eingeräumt und Zuhören als zentrale Tätigkeit benannt wird, scheinen die bisherigen Modelle der Narratologie jedoch nicht hinreichend, um das Werk analysieren und die Bedeutung des Zuhörens erfassen zu können. Dies gilt insbesondere, da die Überschneidung mündlichen und schriftlichen Erzählens nicht erst mit Boccaccio in der schriftlichen Erzählkultur auftritt. Es soll an dieser Stelle an die orientalischen Vorbilder Tausenundeine Nacht sowie das Panchatantra erinnert werden, welche beide über eine Form der mündlichen Erzählsituation in der Rahmenhandlung verfügen.10 Für den europäischen Raum sei auf Petrus Alphonsis Disciplina Clericalis sowie den anonym veröffentlichten Novellino verwiesen, in deren Vorworten jeweils erwähnt wird, dass die Erzählungen gerade auch für ein zuhörendes Publikum gedacht seien.11 Im Folgenden soll daher näher auf die Bedeutung des Zuhörens12 in Boccaccios Decameron eingegangen werden. Im Zentrum stehen dabei die Fragen nach der semantischen Verwendung der auditiven Verben, der Zuordnung des Decamerons zu einer schriftlichen oder mündlichen Erzählkultur und der Wertung des Zuhörens im Text.

Hören und Zuhören im Decameron

Im Decameron werden drei auditive Wahrnehmungsverben benutzt, i. e. ascoltare, udire und sentire. Es stellt sich die Frage, ob es in ihrer Bedeutung und Nutzung eine Unterscheidung gibt; ob also bezüglich ihrer Subjekte eher von Zuhörenden oder besser von Hörenden die Rede sein sollte. Die Begriffsgruppen um Hören und Zuhören werden oft synonym gebraucht, beide Verben haben aber genau genommen andere semantische Schwerpunkte. Im Italienischen ist ascoltare eindeutig ein Verb mit zielgerichteter, aufmerksamer Höraktivität.13 Udire und sentire wiederum können sowohl das bloße auditive Wahrnehmen als auch das aufmerksame Zuhören darstellen.14 Die Mitglieder der brigata jedenfalls erzählen sich ihre Novellen als ebenbürtige Gesprächspartner:innen und wirken durch ihr aufmerksames Zuhören am Erfolg der Kommunikation mit. Dies belegt schon die hohe Anzahl an Textstellen, in denen die Reaktionen der brigata auf das Gehörte beschrieben werden. Häufig gibt es körperliche, visuell wahrnehmbare Reaktionen. Die empfundene Scham beim Zuhören macht sich «con onesto rossore nel loro viso» (BD I, 5, § 2, S. 240) bemerkbar und manch eine Geschichte scheint so lustig zu sein, «che né di ridere né di ragionar di quella si potevano le donne tenere […]» (BD VII, 9, § 2, S. 1146).15 Doch auch das Kommentieren und vor allem das Loben der Novellen verdeutlicht die aktive Mitarbeit der Zuhörerschaft. Bereits die erste Novelle «[fu] tutta commendata dalle donne» (BD I, 2, § 2, S. 220), und diese Reflexionszeugnisse bleiben durch das ganze Werk hindurch präsent, bis auch die letzte Novelle beendet ist «ed assai le donne, chi d’una parte e chi d’altra tirando, chi biasimando una cosa e chi un’altra intorno ad essa lodandone, n’avevan favellato […]» (BD X, Conclusione, § 1, S. 1650). Schließlich sind die Erzählkonstellationen innerhalb der Novellen häufig so gestaltet, dass eine Gleichberechtigung herrscht, die eine aktive Zuhörerschaft verlangt. Dies zeigen die Reaktionen der Zuhörenden16 ebenso wie ihre (unbeabsichtigte) aktive Beteiligung an Missverständnissen oder Betrug zum Beispiel durch Rückfragen.17

Obwohl also scheinbar eindeutig eher aktive Zuhör- denn passive Hörsituationen im Decameron vorherrschen, werden alle drei auditiven Wahrnehmungsverben verwendet. Nach Cavallini dienen sie vor allem als Bindeglied zwischen den Ausdrucks- und Handlungsverben.18 Das heißt, indem Gesagtes gehört und verarbeitet wird, kann eine bestimmte Handlung und damit Entwicklung der Geschichten erfolgen. Hierbei werden die auditiven Wahrnehmungsverben im Decameron insgesamt nicht einheitlich, sondern synonym verwendet. So wird in dem Moment, als die Erzählfigur die brigata einführt, das Verb ascoltare eingesetzt und mit einem möglichen Nachteil für deren Mitglieder verbunden, welcher vor allem aus der Fähigkeit des Reflektierens und Verstehens heraus entsteht.19 Die Verwendung von ascoltare ist hier also im Sinne des aufmerksamen Zuhörens gemeint. In der Rahmenhandlung wird ascoltare zudem mit dem Adjektiv «diligentemente» (BD I, 2, § 2, S. 220) und dem Gerundium «soghignando» (BD I, 5, § 2, S. 240) verwendet. Beides deutet ebenfalls darauf hin, dass es sich um ein bewusst erfassendes Zuhören handelt.

Die Verben udire und sentire hingegen werden in der Rahmenhandlung häufig im Sinne eines passiven Vernehmens benutzt oder wenn von mündlichen Quellen die Rede ist: «voi non dovreste solamente esser contente che ciò fosse avvenuto o di risaperlo o d’udirlo dire a alcuno» (BD VII, 2, § 3, S. 1083); «ma forse non meno maravigliosa cosa vi parrà l’udire che uno […] si disponesse» (BD X, 3, § 3, S. 1511). In den Novellen allerdings wird udire sowohl verwendet, um das Gehör bzw. den Gehörsinn zu beschreiben20 , als auch im reflektierenden, erkennenden Sinn: «Ghismonda, udendo il padre e conoscendo […] il suo segreto amore esser discoperto» (BD, IV, 1, § 30, S. 705); «Andreuccio, udendo questa favola […] e ricordandosi» (BD II, 5, § 25, S. 261); «La giovane, udendo dire ‹Carapresa›, […] in se stessa prese buono agurio» (BD V, 2, § 22, S. 856); «Il che messer Forese udendo il suo error riconobbe» (BD VI, 5, § 16, S. 1006); «Natan, udendo il ragionare e il fiero proponimento di Mitridanes, in sé tutto si cambiò» (BD X, 3, § 20, S. 1516). Wenngleich die auditiven Wahrnehmungsverben im Decameron also in ihrer semantischen Verwendung Tendenzen erkennen lassen, muss letztlich im Einzelfall entschieden werden, um was für eine (Zu)Hörsituation es sich genau handelt.

Der Decameron zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

In der Art und Weise, wie Boccaccio seine Rahmenhandlung konzipiert und die brigata miteinander interagieren lässt, weist er mit großer Präzision die Regeln mündlicher Kommunikation auf. So wird immer wieder das aufmerksame Zuhören, Kommentieren oder Pausieren, das Reflektieren und Bezugnehmen zwischen den Mitgliedern der brigata erwähnt. Hierbei lädt die realitätsnahe Darstellung dieser Kommunikationsregeln insbesondere in der Rahmenhandlung die Leserschaft dazu ein, an einem mündlichen Prozess teilzunehmen:

Nella cornice del Decameron è presente la storia della novella e del novellare, […] lo si narra ad un lettore spiegandogli che però deve mettersi dalla parte di chi, nella cornice, fa da scoltatore. […] Il lettore è invitato a rifarsi ascoltatore, mediante lo specchio nel quale si vede riflesso […].21

Indem die Leserschaft sich in den Reaktionen der brigata wiederfinden kann, wird – obwohl es sich um einen schriftlichen Text handelt – einerseits die mündliche Erzähltradition hervorgehoben und die Lesenden werden in genau diese hineinversetzt. Während die brigata dieses Zuhörerlebnis für die Leserschaft bewirkt, scheint der auktoriale Erzähler jedoch andererseits in seinen Anreden an die Leserschaft zunächst die Schriftlichkeit des Werkes zu betonen. Gleichwohl gibt es Stellen, an denen Letzterer in der Rahmenhandlung in einer Weise das Wort ergreift, dass sich dieser Fokus verschiebt. Dies ist zum Beispiel zu Beginn des vierten Tages der Fall.22 Der Erzähler spricht hier seine Leserschaft an, um möglicher Kritik am Werk zu begegnen. Dies tut er zunächst auf die gleiche Weise, wie es in der Introduzione zum ersten Tag und der Conclusione dell’Autore geschieht, also unabhängig von der Rahmenhandlung. Es handelt sich dementsprechend um die erste, schriftlich konnotierte Erzählebene. Diese Ebene steht für die Schriftlichkeit des Werkes, da hier vor allem die Adressierung der Leser:innen im Zentrum steht. Allerdings gibt der auktoriale Erzähler zu Beginn des vierten Tages selbst eine Novelle – oder zumindest einen Teil einer Novelle – wieder.23 Und indem er dies einmalig im Werk tut, wird er Teil der mündlichen Erzählgruppe des Decameron und setzt den Fokus des Werkes auf die mündlichen Erzählelemente des Textes. Zu Beginn der achten Novelle des zweiten Tages unterbricht der auktoriale Erzähler die Rahmenhandlung sogar auf abrupte Weise und spricht seine Leserschaft plötzlich direkt an:

Sospirato fu molto dalle donne per li varii casi della bella donna: ma chi sa che cagione moveva que’ sospiri? Forse v’eran di quelle che non meno per vaghezza di così spesse nozze che per pietà di colei sospiravano. Ma lasciando questo stare al presente, essendosi da loro riso per l’ultime parole da Panfilo dette e veggendo la reina in quelle la novella di lui esser finita, a Elissa rivolta impose che con una delle sue l'ordine seguitasse. (BD II, 8, § 2, S. 431)

Die Struktur des Decameron verortet die Ebene des auktorialen Erzählers zunächst also scheinbar in der Tradition einer schriftlichen Erzählkultur und im Kontrast dazu die Rahmenhandlung als Darstellung einer mündlichen Erzählkultur. Doch der hier stattfindende schnelle Wechsel zwischen Rahmenhandlung, Erzählkommentar und wieder zurück tritt einmalig im Decameron auf und stellt einen starken Bruch mit der sonst so deutlichen Trennung der Erzählebenen dar. Durch die direkte Ansprache der Leser:innen erfährt auch die Beziehung von Leserschaft und Erzähler plötzlich eine Dynamik, welche sonst nur in mündlichen Erzählsituationen auftritt. Diese beiden Textstellen verlegen den Gesamtfokus des Werkes m. E. gänzlich auf die mündliche Erzähltradition und verdeutlichen damit auch die Evidenz der Zuhörerschaft und deren strukturelle Bedeutung für den Erzähltext.

Die Verantwortung der Zuhörerschaft und die Folgen des Zuhörens

Der auktoriale Erzähler deutet in seiner Vorstellung der brigata bereits an, dass der Akt des (Zu)Hörens gesellschaftliche Folgen haben kann, und dies wird auch auf der Ebene der Novellen deutlich. Zum Beispiel wird Dianora in BD X, 5 von ihrem Mann zurechtgewiesen, weil sie sich in fälschlich angenommener Sicherheit unter einer Bedingung einem Dritten verspricht, welche dieser entgegen aller Erwartung erfüllt, womit er ihren Trug entlarvt:

Dianora, egli non è atto di savia né d’onesta donna d’ascoltare alcuna ambasciata delle così fatte, né di pattovire sotto alcuna condizione con alcuno la sua castità. Le parole per gli orecchi dal cuore ricevute hanno maggior forza che molti non stimano, e quasi ogni cosa diviene agli amanti possibile. Male adunque facesti prima a ascoltare e poscia a pattovire […]. (BD X, 5, § 14-15, S. 1539)

Zuerst weist der Ehemann sie bezüglich ihrer Rolle als Zuhörerin zurecht: Sie stehe als «onesta donna» in der Verantwortung, sich vor solchen Worten zu schützen, welche ihre Keuschheit gefährdeten. Er wirft ihr aber zudem vor, sie habe mit ihrem Versprechen die Erfüllung der Bedingung begünstigt, da Worte des Versprechens Liebende grundsätzlich bestärkten. In diesem Sinne verurteilt er sie als Sprecherin dem Liebenden gegenüber. Es wird in diesem Textbeispiel also die Verantwortung beider Teile, des Sprechens und des Zuhörens, betont.

Ein weiteres, sehr prominentes Beispiel ist die fünfte Novelle des zweiten Tages, in welcher es um den Betrug an Andreuccio geht. Nachdem eine Betrügerin durch aufmerksames Zuhören alles über Andreuccios Familie erfahren hat, macht sie ihm weis, mit ihm verwandt zu sein, um ihn anschließend bestehlen zu können. Er wiederum lässt sich von ihrer Vortragsweise blenden:

Andreuccio, udendo questa favola cosí ordinatamente e cosí compostamente detta da costei, alla quale in niuno atto moriva la parola tra’ denti né balbettava la lingua, e ricordandosi esser vero che il padre era stato in Palermo, e per se medesimo de’ giovani conoscendo i costumi, che volentieri amano nella giovanezza, e veggendo le tenere lagrime, gli abbracciari e gli onesti basci, ebbe ciò che ella diceva piú che per vero. (BD II, 5, § 25, S. 261)

Andreuccio ist aufgrund der erhaltenen Einladung überzeugt, dass die junge Frau in ihn verliebt sein müsse, und hört die sorgsam vorgetragene Geschichte der vermeintlich verlorenen Schwester also mit einer positiven Einstellung an24 . Er hinterfragt wenig von dem, was ihm vorgetragen wird, und so leitet dieser erste Betrug eine Reihe von Unglücken ein. Es wird hier erneut die wichtige Rolle der Sprechenden deutlich, dennoch wird zusätzlich die Leichtgläubigkeit des Andreuccio hervorgehoben und so seine Verantwortung als Zuhörer betont.

In den Novellen des Decameron wirken die Worte eines/einer Sprechenden auf die Hörerschaft derart, dass sie meist wichtige Wendepunkte in den Geschichten bezeichnen. So auch in der Novelle BD III, 1 in der die Worte der Sprechenden Auslöser von Lustgefühlen sind. Ebenso können Worte in den Zuhörenden Liebe entflammen25 oder aber ein selbst gefälltes Urteil untermauern26 . In der vierten Novelle des zehnten Tages wird dieser Einfluss, den die Sprechenden auf die Zuhörerschaft haben, besonders deutlich. Gentile de’ Carisendi hält seinen Gästen einen Vortrag und stellt ihnen eine moralische Frage, wobei er seine Rede so gestaltet, dass die Gäste in seinem Sinne antworten müssen. Hiermit bestimmen sie nicht nur den weiteren Verlauf der Geschichte mit, sondern ermöglichen überhaupt erst die folgende Großtat des Gentile.27

Doch Zuhörende können nicht nur beeinflusst werden, sie können auch voreingenommen sein. So wird zum Beispiel in BD III, 3 ein Priester beim Zuhören von seinen monetären Interessen geblendet und schenkt dadurch einer Lüge Glauben. In der sechsten Novelle des dritten Tages lässt sich wiederum Catella durch ihre Eifersucht blenden und «udendo questo, senza avere alcuna considerazione a chi era colui che gliele dicea o a’ suoi inganni, secondo il costume de’ gelosi subitamente diede fede alle parole» (BD III, 6, § 21, S. 582). Dieses Beispiel hebt besonders hervor, dass die Rolle des/der Sprechenden zwar sehr bedeutend ist, die Verantwortung aber trotzdem auch bei den Zuhörenden liegt. Denn Catella könnte durchaus erkennen, dass sie hinters Licht geführt werden soll. Genauso wie die Eifersucht kann auch die Liebe den Verstand der Zuhörerschaft trüben: «Salabaetto, al quale l’amorose fiamme avevano gran parte del debito conoscimento tolto, credendo quelle verissime lagrime e le parole ancor più vere […]» (BD VIII, 10, § 32, S. 1342). In all diesen Textbeispielen begründet das schlechte oder verantwortungslose Zuhören folgenschwere Ereignisse. Sie ermöglicht Ehebruch, Verführung und materiellen Betrug.

In Form von listigen oder rhetorisch besonders gewandten Redner:innen verweist der Decameron auf die Macht der Sprechenden. Auf diese Weise deckt der Text seinem Publikum indirekt die Möglichkeiten auf, welche in der Rolle der Zuhörenden stecken. Ist sich die zuhörende Partei der rhetorischen Kunstgriffe der Sprechenden bewusst und reflektiert zudem noch die potenzielle eigene Voreingenommenheit, kann der Empfang einer Nachricht tatsächlich aktiv beeinflusst werden. Die Macht der Rhetorik wird damit stark geschwächt.

Der Nutzen einer Erzählung – das Zuhören als Versprechen

Obwohl das Erzählen für die brigata vor allem unterhaltenden Charakter haben soll,28 wird den Novellen von den jeweiligen Erzählenden überaus häufig ein nützlicher Charakter zugesprochen. Und indem die Erzählenden ihre Geschichten als nützlich oder lehrreich beschreiben, rücken sie auch die Rolle der Zuhörerschaft ins Zentrum, denn erst in ihr kann sich dieser Nutzen als eigentlicher Zweck der Geschichte realisieren. Dies beginnt schon in der Einleitung zur ersten Novelle, in welcher Panfilo als Erzähler seiner Zuhörerschaft durch die Novelle eine Festigung ihres Glaubens und Vertrauens in Gott verspricht.29 Im Anschluss an diese Textstelle erläutert er, dass die Güte Gottes das Gebet des reinen Herzens erhöre, selbst wenn dieses von Unwissenheit geblendet sei.30 Damit gibt er eine Zusammenfassung der Lehre seiner Novelle, ohne auf deren Inhalt einzugehen. Daraus folgt, dass Nutzen und Mehrwert der Geschichte zwar schon bekannt sind, das Publikum aber dennoch zuhören muss, um diese Vorrede nun in den Worten der Erzählung wiederzufinden. Das Zuhören wird hier also direkt («quella udita», BD I, 1, § 2, S. 199) und indirekt betont und in Zusammenhang mit einer Festigung des Glaubens gebracht. Auch in der Einleitung der zweiten Novelle wird das Zuhören betont:

Mostrato n’ha Panfilo nel suo novellare la benignità di Dio non guardare a’ nostri errori quando da cosa che per noi veder non si possa procedano: e io nel mio intendo di dimostrarvi quanto questa medesima benignità, sostenendo pazientemente i difetti di coloro li quali d’essa ne deono dare e con l’opere e con le parole vera testimonianza, il contrario operando, di sé argomento d’infallibile verità ne dimostri, acciò che quello che noi crediamo con più fermezza d’animo seguitiamo. (BD I, 2, § 3, S. 220f.)

Neifile verdeutlicht durch die kurze Zusammenfassung der Lehre der vorangegangenen Novelle ihre Fähigkeit, aufmerksam zuzuhören, und zeigt, dass sie Panfilos Vorrede in der Novelle wiedergefunden hat. Hiermit nimmt sie Bezug auf die indirekte Betonung des Zuhörens in seiner Einleitung. Bezüglich ihrer eigenen Erzählung gibt sie ebenfalls eine Vorschau auf den Nutzen, der die Zuhörerschaft erwartet. Sie orientiert sich dabei an ihrem Vorgänger und gibt nur die Quintessenz der Novelle preis, nicht jedoch den Weg dahin. Um diesen zu erfahren, bedarf es wieder des aufmerksamen Zuhörens.

Auch im weiteren Verlauf des Decameron stehen zu Beginn der Novellen Nutzenversprechen31 bezüglich religiöser Themenbereiche. Insgesamt scheint dies aber keine Vorgabe für das gesamte Werk zu sein. Vielmehr steht der allgemeine Nutzen des Zuhörens im Zentrum: «[P]erché, con ciò sia cosa che le buone sempre possan giovare, con attento animo son da ricogliere, chi che d’esse sia il dicitore» (BD I, 9, § 3, S. 265); «Sopra che ciascun pensi di dire alcuna cosa che alla brigata esser possa utile o almeno dilettevole» (BD II, Conclusione, § 9, S. 493). Letztlich passt das auch zu den Worten des Proemio32 , in welchem vom «utile consiglio» die Rede ist, der wiederum auf «quello che sia da fuggire e che sia similmente da seguitare» (BD Proemio, § 14, S. 132) verweist. In der Einleitung zur zweiten Novelle des siebten Tages verdeutlicht Filostrato, dass ein Nutzen des Erzählens – und dementsprechend auch des Zuhörens – darin liegt, durch das Geschichtenerzählen und -weitertragen eine Form des kollektiven Wissens zu erzeugen:

Carissime donne mie, elle son tante le beffe che gli uomini vi fanno, e spezialmente i mariti, che, quando alcuna volta avviene che donna niuna alcuna al marito ne faccia, voi non dovreste solamente esser contente che ciò fosse avvenuto o di risaperlo o d’udirlo dire a alcuno, ma il dovreste voi medesime andar dicendo per tutto, acciò che per gli uomini si conosca che, se essi sanno, e le donne d’altra parte anche sanno: il che altro che utile esser non vi può, per ciò che, quando alcun sa che altri sappia, egli non si mette troppo leggiermente a volerlo ingannare. (BD VII, 2, § 3–4, S. 1083)

Im Verhältnis zu den bisherigen Erwähnungen des Nutzens wird hier das erste Mal wirklich erläutert, wie dieser auf einer vom Einzelfall losgelösten Ebene entsteht. Erst indem nämlich die Zuhörenden später selbst zu Erzählenden werden, kann eine Wissensvermittlung stattfinden. Diese Stelle hebt noch einmal besonders hervor, dass es in einer gelungenen Erzählsituation gerade nicht nur um die Kunst des Sprechens geht. Erzählen und Zuhören werden durch die fortführende Handlung des Weitererzählens so miteinander verwoben, dass beide Handlungen nur in Bezug aufeinander ihre volle Wirkung entfalten: Eine Erzählung kann einen bestimmten Zweck (z. B. einen Nutzen zu haben) verfolgen, erst durch die Zuhörerschaft wird dieser aber erreicht – oder aber er wird durch sie unterminiert.

Gute Zuhörerschaft als didaktisches Ziel?

Wenn nun also im Decameron ein so großes Gewicht auf das Zuhören gelegt wird, stellt sich die Frage, inwiefern hinter dieser Darstellung ein didaktisches Ziel stehen könnte. Ist der Decameron also eine Art Lehrdichtung? Diese Fragestellung ist deshalb naheliegend, weil es in der mittelalterlichen Literatur bereits Formen der Lehrdichtung gab, zum Beispiel die okzitanischen Ensenhamens. Ein bedeutendes Beispiel aus der italienischen Literatur sind die Anfang des vierzehnten Jahrhunderts entstandenen Werke Francesco da Barberinos: Documenti d’amore und Reggimento e costumi di donna. Unter diesen beiden Titeln behandelt der Autor auch Rede- und Gesprächsvorschriften, die allesamt «wichtige allgemeine Voraussetzungen für das Gelingen der Konversation»33 sind. Man kann davon ausgehen, dass Boccaccio diese Formen der belehrenden Literatur kannte, da sie zu seiner Zeit weit verbreitet waren.

Insbesondere in der Rahmenhandlung des Decameron wird die aufmerksame Zuhörerschaft vonseiten der brigata durch bestimmte Signale gekennzeichnet. Zentral dabei ist zum einen das Lob. Wie schon erwähnt, wird bereits die erste Novelle «in parte risa e tutta commendata» (BD I, 2, § 2, S. 220). Sie setzt damit einen Standard, denn praktisch keine Novelle des Decameron bleibt seitens des Publikums unkommentiert, wenn auch nicht alle Erzählungen Lob erfahren. Eine ebenfalls zentrale Reaktion der brigata ist das Weinen und Seufzen, ebenso wie die Kommentierung und Diskussion der Novellen. Durch diese Reaktionen wird der Reflexionsprozess, welcher die Aktivität des Zuhörens ausmacht, nach außen hin sichtbar gemacht.

Auf der Erzählebene der Novellen sind grundsätzlich die gleichen Hörsignale anzutreffen wie bei der brigata, wenngleich diese weniger im Fokus stehen, da im Zentrum der Novellen nicht (nur) Erzählsituationen stehen. In den Novellen werden aber vor allem die inneren Reflexionsprozesse der Protagonist:innen betont. Das wird vorwiegend an der Kombination der auditiven Wahrnehmungsverben mit anderen Verben, welche auf die Erkenntnis verweisen, sichtbar: «Ghismonda, udendo il padre e conoscendo» (BD IV, 1, § 30, S. 705); «messer Forese udendo il suo error riconobbe» (BD VI, 5, § 16, S. 1004); «La donna, udendo le parole e veggendo il viso del famigliare, e delle parole dette ricordandosi, comprese che a costui fosse imposto che egli l’uccidesse […]» (BD X, 10, § 31, S. 1637). Insbesondere das letzte Beispiel aus der zehnten Novelle des zehnten Tages ist interessant. Die Abfolge von hören, sehen, erinnern und verstehen verdeutlicht, wie Griselda das Gehörte reflektiert und in Zusammenhang zu bereits Gehörtem und ihrer Situation bringt. Obwohl sie scheinbar nicht reagiert, erweist sich Griselda als sehr verständige Zuhörerin, welche ihre Machtlosigkeit und abhängige Position erkennt und sich deshalb in ihr Schicksal ergibt. In dieser letzten Novelle wird der brigata und der Leserschaft so verdeutlicht, dass die Fähigkeit zur Reflexion eine Eigenschaft guter Zuhörerschaft ist. Darüber hinaus muss aber auch der Kontext beim Zuhören immer miteinbezogen werden. In den Novellen sind gute Zuhörende also vor allem immer aufmerksame Zuhörende, welche ihren Verstand einsetzen, um die ihnen übermittelte Nachricht zu entschlüsseln. Demgegenüber gibt es aber keine Beispiele unaufmerksamer, fahriger Zuhörerschaft. Wenn eine Nachricht nicht korrekt bei der empfangenden Person ankommt oder ein Hinterhalt nicht entdeckt wird, liegt dies meist an der Grundkonstitution des Gegenübers und weniger an einer Nachlässigkeit.

Um ein pädagogisches Ziel bezüglich guter Zuhörerschaft zu erfüllen, müsste der Text des Decameron diese aber nicht nur darstellen, sondern bestenfalls auch den Weg dorthin beschreiben – der Leserschaft also vermitteln, wie man eine gute Zuhörerin oder ein guter Zuhörer wird. Direkte Belehrungen bezüglich des Zuhörens gibt es im Decameron nicht. Es wird lediglich auf indirekte Weise verdeutlicht, welche Grundkonstitution guter Zuhörerschaft zuträglich ist oder nicht. Hervorgehoben wird die bereits erwähnte Voreingenommenheit, welche das Zuhören negativ beeinflusst. So zum Beispiel bei einem der ersten Zuhörer des Decameron, dem Priester, welcher Ser Ciappelletto die falsche Beichte abnimmt. Bereits vor der eigentlichen Beichte kündigt der santo frate an, dass es ein Leichtes sein werde, zuzuhören.34 Aus dieser Aussage kann die Leserschaft schließen, dass im Folgenden vor dem Hintergrund des ersten positiven Urteils zugehört wird. Ebenso geschieht es auch und der Priester reagiert ausnahmslos positiv auf die Beichten des Ser Ciappelletto, erfreut sich an ihnen und lobt dessen scheinbare Ehrlichkeit (vgl. BD I, 1, § 36, S. 208; § 40, S. 208; § 44, S. 209; § 52, S. 211; § 63, S. 212).

Auch eine intellektuelle Grundkonstitution hat Auswirkungen auf die Befähigung zum guten Zuhören. So wird Ghismonda in der ersten Novelle des vierten Tages als besonders gescheit und besonnen beschrieben und als wesentlich reifer als ihr Vater dargestellt. Diese Konstitution scheint denn auch der Grund für ihre rasche Auffassungsgabe zu sein. Spiegelbildlich dazu gibt es Beispiele, in denen den Zuhörenden ihr geringer Verstand im Weg steht. Das prominenteste Beispiel hierfür ist wohl Calandrino, der als Antiheld gleich in mehreren Novellen aufs Korn genommen wird: «Calandrino semplice, veggendo Maso dir queste parole con un viso fermo e senza ridere, quella fede vi dava che dar si può a qualunque verità è più manifesta, e così l’aveva per vere […]» (BD VIII, 3, § 18, S. 1225). Obwohl hier auch die Vortragsweise des Maso erwähnt wird, ist der zentrale Grund für Calandrinos Unverständnis doch sein mangelnder Intellekt. Ahnungslos hinters Licht führen lässt sich neben dem Ehemann auch die Ehefrau aus der dritten Novelle des siebten Tages: «La donna, che loica non sapeva e di piccola levatura aveva bisogno, o credette o fece vista di credere che il frate dicesse vero […]» (BD VII, 3, § 22, S. 1094f.). Und sogar ein Arzt wird als zu wenig schlau dargestellt, um einen scherzhaften Betrug zu entdecken:

Il maestro, la cui scienza non si stendeva forse più oltre che il medicare i fanciulli del lattime, diede tanta fede alle parole di Bruno quanta si saria convenuta a qualunque verità; e in tanto disiderio s’accese di volere essere in questa brigata ricevuto, quanto di qualunque altra cosa più disiderabile si potesse essere acceso. (BD VIII, 9, § 31, S. 1312)

Insbesondere weil es sich hier um einen Arzt handelt, welcher grundsätzlich als intelligent gelten sollte, kann an dieser Stelle eine Lehre über das Zuhören enthalten sein, welche auf eine notwendige Klugheit im Sinne von Reife und Menschenkenntnis verweist.

Der Decameron vermittelt insgesamt also durchaus ein konstantes Bild von guter Zuhörerschaft. Direkte Hinweise, wie man gutes Zuhören erlernen kann, finden sich jedoch nicht. Vielmehr wird durch Negativbeispiele gezeigt, welche Einstellung Zuhörende vermeiden sollten oder welche intellektuellen Voraussetzungen aufmerksamem und reflektiertem Zuhören entgegenstehen. Es ginge aber wohl zu weit, ein pädagogisches Ziel erkennen zu wollen oder den Decameron gar als Lehrdichtung für gutes Zuhören zu bezeichnen.

Fazit

Obwohl es sich um einen schriftlichen Text handelt, bleibt der Decameron eine Hommage an die mündliche Erzähltradition. Dafür spricht vor allem die brigata als omnipräsenter mündlicher Erzählkreis. Aber auch die hier besprochenen Textstellen aus den Novellen haben gezeigt, wie facettenreich schriftlich dargestellte Zuhörerschaft sein kann und wie viel Dynamik in dieser scheinbar passiven Gesprächsrolle steckt. Besonders bemerkenswert ist, dass sogar die Erzählebene des auktorialen Erzählers durchbrochen wird und in diesen Momenten eine mündliche Konnotation bekommt.

Dass das Zuhören im Decameron bisher als Untersuchungsgegenstand so wenig Widerhall in der Forschung gefunden hat, könnte daran liegen, dass das Thema zu offensichtlich erscheint und nur mit der brigata – und damit der Rahmenhandlung – in Verbindung gebracht wird. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass die Aktivität des Zuhörens in fast allen Bereichen des Decameron erkennbar ist und dessen Bedeutung vor allem durch die gemeinsame Interpretation der direkten wie indirekten Darstellungsweisen dieser Tätigkeit erschlossen werden kann. Das Zuhören als Spiegelbild des Erzählens nimmt eine diesem ebenbürtige Rolle ein, wobei der Text des Decameron auf einer von den Inhalten der Novellen losgelösten Ebene nicht nur die Spiegelbildlichkeit des Zuhörens gegenüber dem Erzählen verdeutlicht, sondern außerdem die gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden Handlungen unterstreicht. Die Rhetorik als Mittel der Machtausübung wird so infrage gestellt, da die Kunst des Sprechens und ihr Einfluss nicht mehr nur von der ausführenden Person abhängen: Die Empfänger:innen von Nachrichten erhalten nicht nur während deren Entschlüsselung einer aktive Rolle, sondern insbesondere durch das Weitertragen des Gehörten. Der Decameron verdeutlicht, dass die Wirkung des Erzählens gerade im kollektiven, wechselseitigen Handeln liegt.

Die Ebene des Zuhörens ist für die Interpretation des Decameron also mindestens so wichtig wie die Ebene des Erzählens. Aus heutiger Sicht ist ein literarischer Text in erster Linie für eine Leserschaft bestimmt. Umso wichtiger erscheint es doch, in Momenten der schriftlichen Inszenierung von Mündlichkeit und insbesondere von Zuhörerschaft, nach der Bedeutung dieser Darstellung für den Text zu fragen. Wie gezeigt werden konnte, kann die Inszenierung des Zuhörens Appelle und Wertungen für die Leserschaft eines Werks beinhalten, aber auch grundlegende theoretische Gedanken zur Kommunikation vermitteln. Die Pandemie der letzten Jahre verdeutlicht durch die Art und Weise, wie Informationen vermittelt und zum Teil in prekärer Weise falsch interpretiert und weitergegeben wurden, die Relevanz der hier dargestellten Wirkungsmechanismen des Erzählens und des Zuhörens sowie der damit verbundenen Machtverhältnisse. Insbesondere deshalb sollte dieses Thema – nicht nur im Hinblick auf den Decameron – mehr Anklang in der Erzählforschung finden.

  1. Neben Boccaccio wurde etwa auch Albert Camus wieder weithin rezipiert.
  2. Vgl. zum Beispiel das Dekameron-Projekt von ZEITonline oder das Projekt Triakontameron von Martina Bengert, Jörg Dünne und Max Walther.
  3. Der Decameron wird im Folgenden unter der Sigle BD mit römischen Tages- und arabischen Novellenangaben sowie Paragrafen und Seitenzahlen im laufenden Text zitiert nach Giovanni Boccaccio: Decameron, hrsg. v. Amadeo Quondam, Maurizio Fiorilla und Giancarlo Alfano, Mailand 2013.
  4. Vgl. Renzo Bragantini: «Premesse sull’ascolto decameroniano (con primi appunti sul codice biblico nel ‹Decameron›)», in: Filologia e critica, Jan./Apr., 2003, S. 23–40 und Ders., «Die Dimension des Zuhörens im Decameron», in: Arcadia – International Journal for Literary Studies, 39,1, 2004, S. 94–108.
  5. Vgl. Giorgio Cavallini: «Parole del Boccaccio: ‹UDIRE› e ‹ASCOLTARE›», in: Italianistica: Rivista di letteratura italiana, 21,2/3, 1992, S. 537–548.
  6. Vgl. Renzo Bragantini: «Dialogo», in: Lessico critico decameroniano, hrsg. v. Renzo Bragantini / Pier Massimo Forni, Turin 1995, S. 93–115.
  7. Der Begriff «literarisch» soll hier synonym mit «schriftlich» verwendet werden. Zwar kann nach Milman Parry: «Whole Formulaic Verses in Greek and Southslavic Heroic Song», in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association, 64, 1933, S. 180 und Robert Scholes / Robert Kellogg: The Nature of Narrative, New York (u. a.) 1966, S. 18 «literarisch» auch als mündliche und schriftliche Texte umfassender Begriff verstanden werden, dies soll hier aber nicht diskutiert werden. Daher wurde zugunsten der beschriebenen Verwendung des Begriffs entschieden.
  8. Monika Fludernik: Erzähltheorie: eine Einführung, Darmstadt 2013, S. 33.
  9. Tilmann Köppe / Simone Winko: «Rezeptionsästhetik», in: Dies.: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2008, S. 85–97, hier: S. 87ff.
  10. Im Panchatantra handelt es sich nicht direkt um eine Rahmenhandlung im Sinne des Decameron, sondern eher um einleitende Verse zu Beginn der Bücher. Dennoch werden auch in diesen mündliche Erzählsituationen inszeniert. Vgl. hierzu z.B. den Text des Panchatantra in Vishnu Sharma: The Panchatantra, übers. v. Arthur W. Ryder, Chicago 1925, S. 213.
  11. Vgl. Petrus Alphonsi: Disciplina Clericalis. Geistliche Bildung, Lateinisch-Deutsch, übers. v. Birgit Esser / Hans- Jürgen Blanke, Würzburg 2016, S. 30 und Il Novellino, hrsg. v. Alberto Conte, Bd. 1, Rom 2001, S. XVI, S. 166.
  12. Die Begriffsgruppen um Zuhören und Hören werden in diesem Aufsatz grundsätzlich synonym verwendet. Auf die Unterscheidung der beiden Begriffe und die Bedeutung im Decameron wird im Verlauf dieses Textes ausführlich eingegangen.
  13. Vgl. «ascoltare» in: Vocabolario Treccani Online, https://www.treccani.it/vocabolario/ascoltare/ (zuletzt aufgerufen am 28.02.2023) und «ascoltare» in: Lo Zingarelli 2023 online, unter Berechtigung abrufbar, https://u.ubidictionary.com/vewer/#/dictionary/zanichelli.lozingarelli16 (zuletzt abgerufen am 28.02.2023).
  14. Vgl. «udire2» in: Vocabolario Treccani Online, https://www.treccani.it/vocabolario/udire2/ (zuletzt abgerufen am 25.11.2021) und «udire» in: Lo Zingarelli 2023 online, unter Berechtigung abrufbar, https://u.ubidictionary.com/viewer/#/dictionary/zanichelli.lozingarelli16 (zuletzt abgerufen am 28.02.2023) sowie «sentire» in: Vocabolario Treccani Online, https://www.treccani.it/vocabolario/sentire/ (zuletzt abgerufen am 28.02.2023) und «sentire» in: Lo Zingarelli 2023 online, unter Berechtigung abrufbar, https://u.ubidictionary.com/viewer/#/dictionary/zanichelli.lozingarelli16 (zuletzt abgerufen am 28.02.2023).
  15. Das Lachen ist in all seinen Ausführungen eine der am häufigsten erwähnten und beschriebenen Reaktionen der brigata im Decameron, insbesondere an Tagen mit Themen rund um Schlagfertigkeit und Schlauheit (VI, VII, VIII).
  16. Vgl. z. B. «turbato» in BD II, 9, § 21, S. 463; «sbigottita» in BD III, 8, § 24, S. 618; «vergognosamente» in BD III, 8, § 28, S. 619; «dopo molte risa […] gridarono» BD VI, 7, § 18, S. 1013.
  17. Vgl. Alibech, die durch die Rückfragen an den Rustico aufmerksames Zuhören signalisiert und so dazu beiträgt, dass er seine Lüge in weiteren Erläuterungen fortsetzen kann (BD III, 10, § 12, S. 645).
  18. Vgl. Giorgio Cavallini, «Parole del Boccaccio», S. 547.
  19. Vgl. BD I, Introduzione, § 50, S. 179.
  20. Vgl. «l’udire sottile» in BD I, 1, § 27, S. 206.
  21. Giusi Baldissone: «La novella e l’ascolto», in: Metamorfosi della novella, hrsg. v. Giorgio Barberi Squarotti, Foggia 1985, S. 33–52, hier: S. 37.
  22. Vgl. BD IV, Introduzione, § 2–43, S. 685–698.
  23. Vgl. BD IV, Introduzione, § 12–29, S. 689–692.
  24. Vgl. BD II, 5, § 11, S. 356f.
  25. Vgl. BD IV, 4, § 6–7, S. 740f.
  26. Vgl. BD IV, 1, § 41–42, S. 709.
  27. Vgl. BD X, 4, § 24–28, S. 1529f.
  28. Vgl. BD I, Introduzione, § 111, S. 196.
  29. Vgl. BD I, 1, § 2, S. 199.
  30. Vgl. BD I, 1, § 4–6, S. 200.
  31. Der Begriff stammt eigentlich aus der Wirtschaft und soll hier entlehnt werden.
  32. Vgl. BD Proemio, § 14, S. 132.
  33. Elisabeth Schulze-Witzenrath: Der gerettete Erzähler. Decameronrahmen und städtische Sprachkultur im italienischen Trecento, Tübingen 2012, S. 21.
  34. Vgl. BD I, 1, § 33, S. 207.