Der Protagonist in Alessandro Bariccos Roman Seide erliegt in Japan dem Zauber einer jungen Unbekannten und erhält von dieser eine kurze Nachricht. Diese – auf einem Stück Papier so klein, dass es in eine Hand passt – ist für Hervé Joncour, so der Name des Mannes, jedoch nicht zu dechiffrieren, da er des Japanischen nicht mächtig ist. So wendet er sich schließlich an die einzige Person der Gegend, die die Nachricht übersetzen kann, Madame Blanche. Nach anfänglicher Ablehnung übersetzt die Frau es, ohne eine Gefühlsregung dabei zu zeigen, mit: «Kommen Sie zurück oder ich sterbe.» Als Hervé sie für ihren Dienst bezahlen möchte, fügt sie hinzu: «Lassen Sie es gut sein! (…) Sie wird nicht sterben und das wissen Sie.» Damit überschreitet sie jene feine Linie, die die wörtliche Übersetzung von der Übermittlung einer tieferliegenden, komplexeren Botschaft trennt: eines Liebescodex, den Hervé offenbar nicht kennt.
Madame Blanche ist aus zwei Gründen eine der faszinierendsten Figuren des Textes. Zum einen ist sie die einzige, die vom Japanischen ins Französische und umgekehrt übersetzen kann, und damit die notwendige, aber zugleich nicht objektive Vermittlerin zwischen den beiden Welten. Zum anderen ist sie aber keine professionelle Übersetzerin, sondern eine Prostituierte oder genau genommen eine Maîtresse. Madame Blanche verkörpert in dieser zweideutigen Gestalt als Übersetzerin, Prostituierte, Vermittlerin zwischen zwei Welten, zwei Liebescodices, also die Ambivalenz zwischen übersetzen und betrügen (im Italienischen klanglich ähnliche Verben: tradurre und tradire), zwischen Worttreue und Sinntreue.
Um der erzählerischen Macht des Übersetzens in der Literatur nachzuspüren, schreiben wir einen deutsch-italienischen Schreibwettbewerb aus, für den kurze Erzählungen eingereicht werden können, die als Protagonist:innen eine Übersetzerin oder einen Übersetzer haben oder das Übersetzen als solches thematisieren.
Die Erzählungen auf Italienisch oder Deutsch dürfen max. 4500 Zeichen umfassen und müssen bis spätestens 30.04.23 an die Redaktion von Horizonte geschickt werden. Eine nicht anfechtbare Jury wird alle eingereichten Beiträge lesen. Die beiden besten Erzählungen (eine italienische und eine deutsche) werden zusammen mit der Übersetzung in die jeweils andere Sprache in der Ausgabe 8 von Horizonte (November 2023) publiziert.
Hier der Ausschreibungstext:
ausschreibung-wettbewerb.pdf