Horizonte Ausgabe 8 Titelkunst
Rezensionen

Richard Baum, Maria Lieber: Italienisch – die Erfindung Dantes. Die Grundlegung der ersten Schrifttumsgemeinschaft Europas
Tübingen: Stauffenburg Verlag 2022

Franca Janowski

Richard Baum, Maria Lieber (unter Mitarbeit von Jutta Robens und Josephine Klingebeil): Italienisch – die Erfindung Dantes. Die Grundlegung der ersten Schrifttumsgemeinschaft Europas. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2022, 221 S., Euro 49,80, ISBN 978-3-95809-220-4 (= Romanica et Comparatistica Band 39, 2022, XII)

Der Titel des Bandes der wissenschaftlich hoch ausgewiesenen Autoren klingt spannend. Der potentielle Leser kommt ins Grübeln. Hat Dante die italienische Sprache ‹erfunden›? Wie kann man sich eine Schrifttumsgemeinschaft am Ende des Mittelalters vorstellen?

Der Gedanke, der vermutlich den entscheidenden Impuls für die Entstehung des Buches gab, wird am Ende des ersten Kapitels eingeführt und durch einen Hinweis auf Wolfgang von Einsiedel belegt. Es handelt sich um eine Problematik von grundlegender Bedeutung, die den Kulturbegriff und jenen des kulturellen Transfers in den Mittelpunkt rückt. Es geht um nicht weniger als die Weltliteratur und ihre Entstehung: «Zunächst scheint es keiner einzelnen Sprachgemeinschaft vergönnt zu sein, sich allein aus sich selbst heraus zu entwickeln […] sofern sie völlig isoliert bleibt». (S. 9) Sie wird also selbst geistig produktiv, wenn sie in den Bannkreis einer anderen entwickelten Kultur gerät. Im Kern könnte die These daher lauten: Am Anfang literarischer Eigenproduktion stehen Lektüre und Übersetzung aus fremdsprachigen Texten. Die fremde Literatur fungiert als Katalysator.

Im Kapitel 0 («Schrifttum und Schrifttumsgemeinschaft») wird nach einer detaillierten Einführung zur Sprachgeographie Italiens mit seinen Dialekten und Mundarten der Schluss gezogen: «Die Schwierigkeit, die Dialekte der Apenninenhalbinsel zu inventarisieren, die auf der Erde verbreiteten Sprachen zahlenmäßig zu erfassen oder auch nur eine klare Grenze zwischen Sprache und Mundart zu ziehen, fördert eine Problematik grundsätzlicher Art zutage» (S. 6). Es geht darum, die ‹Geburtswehen› der Entstehung einer Nationalliteratur aus Tradition und Sprache aufzuzeigen.

Die Autoren folgen ihrem sprachwissenschaftlichen Ansatz, dem zufolge die Sprache kein abstrakter Begriff ist, sondern ein Gegebenes. «Dem Sprechen als ‚Energeia‘ steht nicht die Sprache gegenüber, sondern das ‚Ergon‘, der Text als Element des Schrifttums.» (S. 7) Die italienische Literatur und insbesondere Dante sind das Feld, an dem diese Thesen erprobt werden sollen.

Freilich gehört es nicht zu den Intentionen des Werkes, eine kultursoziologische Untersuchung durchzuführen. Über die soziale und politische Struktur im Florenz des späten XIII. Jahrhunderts erfahren wir nichts. Im Allgemeinen wird viel vorausgesetzt: Der ideale Leser sitzt in einer Universitätsbibliothek, wo ihm eine Reihe von primären und sekundären Quellen zur Verfügung steht. Der Band hat viele Meriten. Dazu gehört die Vervollständigung der deutschen Übersetzung von Dantes Werk De vulgari eloquentia: «Um der Poetik die vorgesehene Form und Gestalt zu geben, werden die durch den Anfangsvers evozierten Gedichte, etwa drei Dutzend an der Zahl, zur Gänze in den Text integriert» (XI); sie sollen die poetologische Konzeption verdeutlichen. Diese Gedichte sind in provenzalischer, französischer und italienischer Sprache abgefasst und die hier gewählte Übersetzung ist jene von Franz Dornseiff und Joseph Balogh aus dem Jahr 1925.

Kommen wir zum Titel des Bandes zurück. Bekanntlich wird der Ausdruck «lingua italiana» von Dante niemals verwendet. Selbst das Adjektiv «italiano», das bereits Brunetto Latini in seinem, im französischen Exil verfassten Trésor nutzt, gehört nicht zu Dantes Wortschatz. Um Italien zu bezeichnen, bedient sich der Dichter des Begriffs Latium; er spricht also von einem vulgare latium. Vom «italiano» für die Sprache der Halbinsel redet hingegen der Humanist und Dramatiker Gian Battista Trissino (1478–1550), dem die Wiederentdeckung der Schrift De vulgari eloquentia sowie deren Übersetzung ins Italienische zu verdanken ist. Trissino ist im Buch ein Kapitel gewidmet. In der questione della lingua – zweifelsohne eine der am häufigsten untersuchten Fragen der italienischen Literaturgeschichte – spielt Trissino eine wichtige Rolle. Er vertritt eine dynamische Auffassung von Sprache und nimmt Stellung gegen die Überzeugung von einer ausschließlichen «fiorentinità» von Dantes Ausdrucksweise. Er selbst strebt gegen Bembo und die Puristen die Verwendung einer lingua an, die von regionalen Varianten bereichert wird. Dantes plurilinguismo, seine Offenheit für unterschiedlichste linguistische und stilistische Formen in der Commedia, wurde von Trissino erkannt. Als Humanist wollte Dante das Lateinische durch imitatio und aemulatio zu einer modernen Kultursprache erheben, die das Erbe des klassischen Latein antritt und in stetiger Fortschreibung erneuert. Diese Vorstellung überträgt Trissino auf das volgare, damit folgt er der Fährte, die Dante gelegt hat.

Dantes Traktat De vulgari eloquentia öffnet den Zugang zur Problematik des «Italienischen». Es ist ein Verdienst des vorliegenden Bandes, die Bedeutung dieser Schrift herausgestellt zu haben. Insbesondere dem zweiten Teil, der Rhetorik, wird entgegen der traditionellen Auslegung viel Aufmerksamkeit geschenkt. Der kleine Traktat, der ca. 1304 entstanden ist, blieb bekanntlich ein Fragment; er wurde nach dem 14. Kapitel des zweiten von vier vorgesehenen Teilen abgebrochen. Durch die klare Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis wird die Modernität der Schrift hervorgehoben. Dantes Ergründung der potenzialità letteraria einer Sprache, die er nicht in der sich ständig verändernden und oft rauen Realität der italienischen Halbinsel vorfand, sondern die lediglich in den Werken einiger Dichter vorkam, trieb seine geniale Kreativität an und zementierte seinen Glauben an den Primat des Schrifttums.

Die Meinung, dass zwischen De vulgari eloquentia und der Poesie der Divina Commedia eine Scheidewand existiert, ist alt. Denn die linguistischen und stilistischen Thesen der kleinen Schrift werden von der Mächtigkeit eines Werkes, das verschiedene Stile und eine alle Regeln sprengende Sprachentfaltung kennt, überwunden. Durch ihre Strategie, den Akzent auf den Prozess und nicht auf das Ergebnis zu legen und das Ganze als eine Art work in progress zu verstehen, umschiffen die Autoren diese Klippe. Passend zitieren sie Heinrich von Kleist und seine berühmten Überlegungen über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (vgl. S. 8). Die einzelnen Kapitel des Buches machen mit dem Duktus dieser Problematik vertraut.

Dante war es gegeben, seine Schaffenskraft in einem privilegierten Milieu zu entfalten. Zu seiner Zeit hatten in Florenz Prosa und Dichtung ein hohes Niveau erreicht. Die Divina Commedia, die diese Tradition voraussetzt, setzte ihr ein Denkmal. Eine unglaubliche Erweiterung der sprachlichen Ausdrucksweise entsprach der Fülle der Themen und der Komplexität einer Gefühlswelt, die nicht mehr wie in der Tradition der sizilianischen und provenzalischer Dichtung auf die Liebe beschränkt war. Wie kam dieses Wunder zustande? Das Buch versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, ohne sich in die Reihe der Dante-Philologie und -Forschung stellen zu wollen, sondern vielmehr, «um die einzelnen Schritte, die zur Grundlegung der ersten Schrifttumsgemeinschaft führten, zu verdeutlichen» (IX). Das hat freilich an manchen Stellen den Nachteil, dass der nichtakademische Leser nicht selten auf die Konsultation von einschlägigen Spezialuntersuchungen angewiesen ist. Nicht diskutiert werden beispielsweise die Frage der Entstehungszeit der Divina Commedia und die Gewichtung des Lateinischen in Dantes frühen Werken sowie seine Kenntnis der klassischen Autoren. Denn es war das Studium der epischen Dichtung, insbesondere von Vergils Äneis, das es ihm ermöglichte, das Strukturprinzip der Divina Commedia zu entwickeln.

Es herrscht Konsens darüber, dass Dante die Arbeit an den linguistischen und poetologischen Werken De vulgari eloquentia und Convivio nicht zu Ende führte, um sich der Commedia widmen zu können. Baum und Lieber bemühen sich, Klarheit über die Gründe für diese Entscheidung zu nennen. Es werden die Etappen des komplexen Prozesses analysiert, in denen Dante provisorische Antworten für die linguistischen und stilistischen Probleme formulierte, die er am Ende jedoch als unbefriedigend ansehen musste. Er war überzeugt, dass man zuerst die Wesensart des volgare bestimmen und die Fragen nach Ursprache und Ursprung der Sprachenvielfalt zu beantworten habe. Nachdem er diese Problematik abgehandelt hatte, reifte in ihm der Gedanke, dass nicht die lyrische, sondern die epische Dichtung die geeignete Form für seine Vision darstelle. Für diese Einsicht war die Auseinandersetzung mit dem Lateinischen unentbehrlich.

Ausführlich werden im Buch die Schritte dargelegt, die Dantes Versuche markieren, eine literarische, nationale Sprache zu definieren. Gibt es sie in den Mundarten der Halbinsel? Dante untersucht 14 italienische Dialekte. Keiner von ihnen, nicht einmal das Toskanische, kann aber das gesuchte wahre volgare sein. Um den Zusammenhang zu erklären, verwendet er die Metapher der Jagd nach einem Panther, dessen Geruch zwar überall wahrzunehmen, der aber nirgends zu greifen ist. Das volgare illustre oder volgare latium, nach dem er strebt, sei in jedem Dialekt präsent, lasse sich aber mit keinem von ihnen identifizieren. Es soll die folgenden Eigenschaften besitzen: cardinale, aulico, curiale. Diese Charakterisierung zeigt ein Sprachverständnis, das offen für moralische und politische Belange ist. Es handelt sich aber um eine linguistische Einheit, die ausschließlich literarisch erscheint und vor allem getrennt von der «lingua d’uso».

Dante ist überzeugt davon, dass die Würde des italienischen volgare die gleiche ist wie die der langue d’oc und der langues d’oil. Er erkennt die hohe Qualität, die die Dichter in der Verwendung dieser Sprachen erreicht haben. In Frankreich waren es die Provenzalen – die im Buch von Baum und Lieber übrigens ausführlich behandelt werden – in Italien die Sizilianer am Hofe von Friedrich II. Später vor allem toskanische Dichter eines Kreises, zu dem er selbst gehörte. Doch ihre Themen und ihre Ausdrucksweisen waren typisch für poetische Texte philosophischer und moralischer Natur. Für nicht abstrakte Texte sei ihr Stil nicht geeignet gewesen; es müsse dafür eine angemessene Sprache geschaffen und der Blick auf neue Themen erweitert werden, meinte Dante. Dieses Ziel aber ist nur durch das Studium von literarischen Texten zu verwirklichen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür stellt das Studium der klassischen Texten der Latinität dar – wie schon Ernst Robert Curtius ausgeführt hat: Vor allem durch «die Bindung der volkssprachlichen Dichtung an eine Schulung in lateinischer Poesie und Prosa, der lateinischen Rhetorik antiker und mittelalterlicher Herkunft» (S. 71), werde das Ziel einer italienischen literarischen Sprache zu erreichen sein.

Dante wollte der neue Homer, der neue Vergil werden. Er teilte die irrtümliche Überzeugung des Mittelalters, der zufolge die lateinische Sprache keine natürliche Sprache sei, sondern ein Konstrukt, das zeitlich nach den volgari, gebildet wurde; keine Frucht also der Natur, sondern der Kunst. Im eigentlichen Sinn war Dante – so könnten wir einwenden – also nicht der «Erfinder» des Italienischen. Das Wort Erfinder, «inventor», wird in De vulgari eloquentia (I, 9) für das Lateinische verwendet: «hinc moti sunt inventoris gramatice facultatis». «Denn besagtes Latein ist nichts anderes als unveränderliche Einheitlichkeit der Sprache (inalterabilis locutionis ydemptitas), abhängig von Ort und Zeit» (De vulgari eloquentia I, IX, 11). Diese künstliche Sprache wurde erfunden, um Werke und Taten der Alten zugänglich zu machen. Das klassische Latein, unveränderlich und nicht ständigem Wandel unterworfen, bürgt für die Kontinuität der Sprache. Parallel dazu konzipierte Dante sein Opus.

Das Fazit des Buches finden wir am Ende des 2. Kapitels («Die Begründung einer Literatur»):

Im Kreise der großen Autoren nimmt Dante eine Sonderstellung ein. Auf dem Wege der Reflexion, deren Fortschreiten sich nachvollziehen läßt, gelingt es ihm, sich vom dem althergebrachten Begriff der Sprache zu lösen und, den Blick auf die Gegebenheit Schrifttum richtend, sich Klarheit über den Entstehungsprozeß einer Literatur zu verschaffen. Klarsichtig erkennt er sein Ziel: die Schaffung eines zeitlosen Werkes, das den Grund zu einem vulgare latium, zu einer mustergültigen gemeinitalienischen Ausdrucksweise legt. (S. 78, Herv. dort)

Was lernt der Leser darüber hinaus aus dem Buch? Er muss sich keineswegs von dem vertrauten Gedanken, dass Dante der Vater der italienischen Sprache sei, verabschieden. Vielmehr verhilft ihm die Lektüre zu einer neuen Erkenntnis. Dante ist auch der Vater der italienischen Literatur, der er einen Primat schenkt, nämlich die peculiarità die erste Schriftgemeinschaft Europas zu sein. Denn die kritische Analyse des Prozesses der Entstehung des Wunders der Divina Commedia öffnet den Blick für das komplexe kulturelle Panorama der Kultur, das viel zur Entstehung des Werkes beigetragen hat. Man kann den Autoren zustimmen, dass damit eine, sowohl in kulturgeschichtlicher wie auch in kulturpolitischer Hinsicht wichtige Seite der europäischen Historie geschrieben wurde.